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Unterwegs im Namen des Herrn: Thomas Glavinic überholt sich selbst

Cover: Thomas Glavinic: Unterwegs im Namen des HerrnUnd wieder ein neuer Glavinic. Der österreichische Autor ist mittlerweile nicht nur einer der vielseitigsten im deutschsprachigen Raum, sondern auch einer der vielschreibendsten.

Hatte Thomas Glavinic gerade noch im Frühjahr dieses Jahres mit »Lisa« einen fulminanten Internet-, Paranoia- und Drogenroman um einen Webradio-Moderator präsentiert, ist er nun »Unterwegs im Namen des Herrn«.

Es ist der scheinbar autobiografische Bericht einer Pilgerbusreise nach Medjugorje in Bosnien. Ein Buch, dem aber leider der göttliche Beistand im entscheidenden Moment fehlte.

Obwohl es Glavinic liebt, sowohl inhaltlich wie stilistisch immer wieder Neuland zu betreten, ist »Unterwegs im Namen des Herrn« ohne Frage seinem Roman »Das bin doch ich« sehr ähnlich. In »Das bin doch ich« machte sich Glavinic über »den Literaturbetrieb« lustig und ging dabei mit seinem Ich-Erzähler namens Thomas Glavinic ebenfalls nicht zimperlich um. Die Hauptperson war ein misanthropischer Hypochonder, der zu seinem Leidwesen von der Literaturkritik nicht so gewürdigt wird, wie es ihm seiner Meinung nach zustünde. Das Werk war schonungslos, böse und witzig und landete 2007 sogar auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis.

Der Schreibduktus in »Unterwegs im Namen des Herrn« ist ähnlich. Auch hier heißt die Hauptperson Thomas Glavinic und ist Schriftsteller. Zusammen mit seinem Freund Ingo, einen Fotografen, besteigt er in Graz einen Reisebus, um mit einem bunten Haufen Pilgern in den bosnischen Wallfahrtsort Medjugorje zu reisen. Dort auf dem Balkan soll 1981 drei Hirten die Jungfrau Maria erschienen sein. Es geht aber auch die Sage, dass dies nur die Idee eines Dorfpfarrers war, um den Tourismus in der Region anzukurbeln. Die katholische Kirche hat die Marienerscheinungen nie offiziell anerkannt.

Die beiden Protagonisten Thomas und Ingo sind alles andere als religiös und gläubig. Für sie soll die Fahrt mit dem Bus eine Reise in eine ihnen fremde Geisteswelt werden. Und da Lourdes weiter weg als das ehemalige Jugoslawien ist, wird es Medjugorje. Glavinic schreibt über seine Motivation:

»Ich will sehen, welche Menschen Pilgerreisen unternehmen, und will erfahren, wie es auf einer solchen Reise zugeht. Ich will Menschen in ihrem Glauben erleben, vielleicht auch, weil ich sie irgendwo tief in mir darum beneide. Ich bin nicht gläubig, bin es nie gewesen, doch der Trost, den Menschen aus dem Glauben ziehen, fasziniert mich und nötigt mir manchmal die Frage auf, wieso er mir versagt bleibt.«

An dieser Passage kann und sollte das Buch gemessen und bewertet werden. Und in den beiden ersten Dritteln besteht es die Prüfung.

Ist Glavinic der Anti-Kerkeling?

Religiöse Themen bergen die Gefahr, dass der Leser zu sehr von seiner eigenen Haltung in den Text hineininterpretiert oder herauslesen will. Der religionskritische Leser, der dieses Buch wahrscheinlich am ehesten in die Hand nehmen wird, erwartet vielleicht eine witzige oder ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Glaubenszirkus der Wallfahrtsorte, vielleicht sogar sprachliche Schläge unter die Gürtellinie.

»Mit dem Bus nach Medjugorje«, das könnte die Antithese zu »Zu Fuß nach Santiago de Compostela« sein und Glavinic der Anti-Kerkeling. Glavinic attestiert Kerkelings Buch eine »glaubensbesoffene Putzigkeit«.

Doch in der einschlägigen Pilgerrunde bleiben Thomas und Ingo stets die vom Reiseleiter misstrauisch beäugten Beobachter. Und diese wiederum versehen die Pilger ihrerseits mit Namensplaketten. Da gibt es »den Kappenmann«, »die Fundamentalistinnen«, »den Tennislehrer«, »den Liliputaner« und »Intschu-Tschuna«, die für die beiden stets merkwürdige und undefinierbare Gestalten bleiben. Dies bleiben sie somit auch für den Leser, denn wir erfahren selten mehr über diese Plakettenträger. Auch der Leser bleibt daher nur Beobachter, und er oder sie muss diesen Status aushalten und mögen, denn auch sprachlich taucht dieses Werk nicht sonderlich tief ins Literarische.

Natürlich sind die Figuren überzeichnet, doch Glavinic zieht nicht schonungslos über die Gläubigen her. Der Autor betreibt kein Christen-Bashing; wenn er mit einigen Figuren schonungslos umgeht, dann eher mit dem Ich-Erzähler und dessen Freund Ingo.

Wenn man nicht mehr erwartet, dann ist »Im Namen des Herrn« eine unterhaltsame Lektüre, eine zuweilen komische und nette Reisereportage, bei der man hin und wieder schmunzeln kann.

Doch dann kommt Seite 121 von 207 – und damit alles anders. Just Ingo, der sich viel mehr mit den Mitreisenden beschäftigt und unterhält als Thomas, hat von der ganzen Fahrt genug und hält es nicht länger aus. Die beiden buchen übers Internet Flugtickets von Split nach Wien und bitten Thomas’ Vater, der in der Nähe Urlaub macht, sie mit dem Auto abzuholen – oder besser: rauszuholen. Mittlerweile nehmen die beiden Protagonisten die Welt nur noch verschwommen war, sie sind krank, haben Fieber, kippen Xanor-Pillen, Schmerzmittel und Alkohol massenweise in sich hinein.

Räuberpistole im Drogenrausch

Die Hauptpersonen verlassen die Pilgergruppe und damit auch den Plot. Man kommt sich als Leser vor wie im Schreibkurs der VHS, wenn die Teilnehmer gebeten werden, den Textanfang eines anderen Kursteilnehmers weiterzuschreiben. Da wird eine spannende Geschichte nicht aufgelöst, sondern der Weiterschreiber ergänzt lapidar den Satz »Plötzlich wachte ich auf« und macht nach Gutdünken mit einer ganz anderen Geschichte weiter. Statt »Plötzlich wachte ich auf« steht bei Glavinic »wir sind draußen«.

Und nun beginnt eine Räuberpistole im Drogenrausch, die so ziemlich alle Balkan-Klischees bedient und hier nicht näher beschrieben werden muss.

Der Leser hofft vergeblich, dass sich der Kreis schließt, die Geschichte rund wird und die Reisegruppe wieder in Sicht kommt. Doch es bleiben nur religiöse Traktate übrig, die Thomas zuhauf in seinen Hosentaschen findet.

Nun wird einigen Glavinic-Romanen, wie zum Beispiel dem »Leben der Wünsche« gelegentlich von Lesern attestiert, dass das Ende unbefriedigend sei, irgendwie abdrifte und keine wirkliche Auflösung biete. So gesehen hat Thomas Glavinic mit »Unterwegs im Namen des Herrn« einen ganzes Buch begonnen, das als ein anderes endet. Es ist, als habe sich Vielschreiber Glavinic in diesem Werk selbst überholt.

Und dabei hätte man doch gerne noch den ersten Teil dieses Buches zu Ende gelesen.

Wolfgang Tischer

Thomas Glavinic: Unterwegs im Namen des Herrn. Gebundene Ausgabe. 2011. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG. ISBN/EAN: 9783446237391
Thomas Glavinic: Unterwegs im Namen des Herrn. Taschenbuch. 2014. dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. ISBN/EAN: 9783423142809
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2 Kommentare

  1. kleine Frage: heißt es wirklich “einer der vielschreibendsten Autoren” und nicht “einer der meistschreibenden”? Auf jeden Fall ist Glavinic einer davon, das steht fest.

    Beste Grüße
    Johanna Sibera

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