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Textkritik: Dienstag, der 25. – Prosa

Eine Textkritik von Malte Bremer

Dienstag, der 25.

von Dolores Pieschke
Textart: Prosa
Bewertung: 4 von 5 Brillen

Ich brauche ein Foto von mir. Kein wichtiges, nur für die Monatskarte. Schon seit Tagen. Ab heute ist es dringend. Es kann ein Automatenfoto sein, ist ja nur für die Monatskarte. Ich kann darauf aussehen wie ich aussehe. Um die fünfzig, jünger aussehend, fröhliches Wesen, Lachfalten, wenn man hinter die Brille guckt. Nicht jung, dynamisch, energisch. Also ein Fotoautomat. In meinem Hinterkopf schweben seit Jahren an jeder Ecke diese automati­schen Fotokabinen. Passable Fotos für wenig Geld. Kein Problem. Das sind die Errungenschaften der neuen Technik, die zu den glücklichen Errungenschaften der letzten Jahre zählen.
Also, ich gehe ganz pünktlich aus dem Büro, etwas überpünktlich. Ich habe in Berlin zu tun.
S-Bahnhof Karow – kein Automat. S-Bahnhof Schönhauser – wieder nichts. Bahnhof Lichtenberg – ein Automat. Vollgepinkelt, kann auch Bier sein. Ich gehe nicht nahe genug heran, um das zu unterscheiden. Alex – auf dem U-Bahnhof-Zwischendeck. Endlich. Nichts wie hin. Kaputt. Im Geldschlitz steckt Papier. Sehr einladend sieht die Kabine auch nicht aus. Vier Fotos zehn Mark. Das war doch mal nicht so teuer? Da hätte ich ja auch rechtzeitig zum Fotografen gehen können. Außerdem gucken die Leute so komisch, wie ich da reingehe. Ich kann es nicht sehen, aber spüren. Ich habe auch schön öfter welche drin sitzen und Bier trinken sehen.
Als ich rauskomme, nicht zaghaft, nein, selbstbewusst und etwas verärgert, ist überhaupt kein Mensch da. Warum ist um diese Zeit kein Mensch auf dem Alex? Die sollen mal mehr Öffentliche fahren. Na ja, die Fahrpreise steigen wie die Fotopreise
Ich habe immer noch kein Foto. Dafür bin ich leicht sauer, die Beine sind lahm und haben Kaffeedurst, die Zeit drängelt. Keine Zeit für eine Kaffeepause.
U-Bahnhof Turmstraße. Für mich weit weg vom Zentrum. Nanu, hier ein Fotoautomat. Mäßig dreckig, aber nicht offensichtlich kaputt. In der dunklen Scheibe – ist denn kein Spiegel hier? – sind meine Haare etwas ungekämmt. Ist doch modern jetzt. Oder?
Vier Fotos acht Mark. Na, Gott sei Dank war der andere Automat kaputt. Er will nur Münzen. Wird wenigstens das Portemonnaie leerer. Ist noch ein altes, für das schwere, große, harte Geld nicht gemacht.
»Meistens ist er kaputt.« Eine Männerstimme spricht mir hinter dem Vorhang von draußen Mut zu. »Haben schon viele versucht.«
Ein heller Blitz. Das war’s. Ich habe brav das rote Vögelchen angestarrt. Nun sehe ich die Gebrauchsanweisung. Zuerst den Sitz auf die richtige Höhe stellen. Wo kann man den Sitz stellen? Blitz. War das nicht Otto, der auch diese Probleme hatte?
»Das waren zwei oder drei. Die haben sogar die Funkstreife geholt. Es ging nicht. Und das Geld war weg.«
Ich lüfte den Vorhang, ein freundlicher Mann in meinem Alter. Ja, laut Gebrauchsanweisung blitzt es viermal. Ich sitze die beiden restliche Blitze brav ab und betrachte das Vögelchen.
Die Gebrauchsanweisung geht draußen weiter. Ich soll fünf Minuten und das rote Licht abwarten.
»Die Polizisten haben da bei dieser Nummer angerufen. Es hat schon viel Ärger gegeben. Die haben behauptet, sie schicken regelmäßig einen Monteur. Und dann kriegt man das Geld nicht wieder!«
Richtig aufbauend, der freundliche Mann. Vorbeugend schreibe ich mir die Telefonnummer auf. »Und die Adresse auch. An Ihrer Stelle würde ich hinfahren und das Geld verlangen.«
Die fünf Minuten sind um. Kein Foto.
»Früher hat er immer gesummt. Gibt ja immer Ärger. Die BVG will die Dinger auch weghaben.«
Noch kein Foto. Geld futsch. »Auf Wiedersehen,« sage ich zu dem freundlichen Mann, bin schon fast an der Treppe. »Hallo, Sie, es kommt!«. Zurück. Tatsache, vier Fotos. Darauf Hals, Schultern, Mantelknöpfe, Schal. Für acht Mark ein Foto meiner Mantelknöpfe.
»Na ja, daran sind Sie Schuld. Aber er ging.«
Rein in die Kabine. Der Stuhl lässt sich herunterdrehen. »Ja, so, noch ein bisschen. Sie sind ja auch nicht gerade klein. So, Sie müssen in der Scheibe ganz zu sehen sein.«
Ich habe noch acht harte Mark. Vögelchen anlächeln, Blitz.
»Ich werde mal den Vorhang zumachen und Sie allein lassen. Jetzt wird’s was.«
Blitz.
Lächeln. An einem Witz denken. Blitz. Blitz.
Es ist einundvierzig Minuten nach um. Der Mann wartet mit mir auf die Fotos. Ist ja sein Recht. »Ohne Sie hätte das nicht geklappt.« – »Nein.« – »Wenn wir nicht noch geredet hätten …« – »Dann hätten Sie Ihre Fotos gar nicht genommen.«
Und ich wüsste nicht, was ich für kleidsame Mantelknöpfe habe.
Fünf Minuten können lang sein. Erstaunlich, wie viel man mit einem freundlichen wildfremden Mann reden kann.
Die rote Lampe. Der Mann bückt sich schneller als ich zum Fotoschacht. »Noch nicht rausnehmen, sie müssen noch trocknen.« »Sie« oder »sie«? Wer kann das schon heraushören!
»Die Bilder sind doch gut geworden. Sie sind gut getroffen.«
Naja, eine Frau um die Fünfzig, Haare leicht unordentlich, Schal, Mantel, müde, Falten von der Nase zum Mundwinkel.
»Das Ohr ist richtig drauf. Das wollen die so. Ist doch gut. Die können sie sogar für den Pass nehmen.« – »Ja, es hat doch noch geklappt. Auf Wiedersehen. Und vielen Dank für Ihre Hilfe. Ohne Sie hätte ich noch keine Fotos.« – »Nein. Schönen Abend noch.«
So sehe ich also aus, wenn kein Fotograf das Beste aus mir herausholt. So sehen mich die Leute in der U-Bahn. Ich kann nicht leiden, wenn ich so alt aussehe wie ich bin. Auf allen meinen vier Fotos sehe ich so aus.
Ich habe Gott sei Dank ein Bild von mir.

© 2001 by Dolores Pieschke. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Eine unterhaltsam leichte und leicht selbst-ironische Erzählung über eine Alltagssituation, locker erzählt. Weiter so!

Die Kritik im Einzelnen

Wenn Fotokabinen wortwörtlich im Hinterkopf schweben, wird das Bild für die Erinnerung zu sehr strapaziert: Fotokabinen schweben nirgendwo! Die Protagonistin erinnert sich an Fotokabinen an jeder Straßenecke; heißen könnte es (damit auch die Ecken nicht im Hinterkopf angesiedelt werden) vielleicht: In meinem Hinterkopf sehe ich Fotokabinen an jeder Straßenecke. Das wäre schon übertrieben genug. zurück
Das bringt mich ins Grübeln: was könnten Errungenschaften der alten Technik sein, die zu den glücklichen der letzten Jahre zählen? Ich finde nichts… Dafür finde ich, dass dieses Adjektiv in aller Stille den Weg alles Radierten gehen darf. zurück
Auch wenn es noch so sehr beabsichtigt sein mag: die Wiederholung von Errungenschaften so kurz nacheinander stört! Ich habe es sie deshalb oben schon getilgt. zurück
Hier würde ich gerne meinem Lieblingsspleen nachgeben und Satzzeichen verändern, um die Dramatik zu erhöhen: Alex – auf dem U-Bahnhof-Zwischendeck?! Endlich: nichts wie hinKaputt! zurück
Eine Klitzekleinigkeit: wie wäre es, entfiele das und haben zwischen lahm und Kaffeedurst und an ihre Stätte träte ein einfaches vor, um zu verstärken, dass der Gehwerkzeuge Lahmheit unmittelbare Folge von Coffein-Entzug ist? Es hieße dann die Beine sind lahm vor Kaffeedurst. Ich meine ja nur… zurück
Oha: was hat der am Alex gewollt? Nahm der etwa auch Geldscheine? Gibt es das schon? So wenig kenne ich mich aus mit Fotoautomaten! Dem wäre abgeholfen, wenn dieses Sätzlein begönne: Dafür will er nur Münzen. zurück
Hier liegt entweder ein Übertragungsfehler vor, oder der Text wurde von der Autorin so korrigiert, dass unerklärliche Reste übrig blieben … kenne ich zur Genüge! zurück
Du sollst dir kein Bildnis machen! Hat der liebe Gott gesagt und Max Frisch. Ich persönlich schätze es, wenn jemand zu seiner Eitelkeit steht; wenn mir die Protagonistin nicht schon vorher sympathisch gewesen wäre: mit diesem Schlusswort wäre sie es spätestens geworden. zurück

© 2001 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.