Vor gut zwei Wochen wurde die Longlist zum Deutschen Buchpreis 2017 bekannt gegeben. Die 20 Bücher auf der Liste haben die Chance, am 9. Oktober 2017 den mit 25.000 Euro dotierten Preis zu erhalten. Am 12. September 2017 werden es nur noch sechs sein, denn dann wird die Shortlist bekannt gegeben.
Unser Textkritiker Malte Bremer hat wie im Vorjahr mit allen 20 nominierten Titeln den »Buchhandelstest« gemacht und sich die jeweils ersten Seiten angeschaut: Taugt das was? Will man das weiterlesen? Spannend? Oder langweiliges Gelaber?
In dieser Woche lesen Sie von Montag bis Freitag die Anmerkungen zu je vier Titeln.
Diesmal: Jonas Lüscher, Birgit Müller-Wieland, Jakob Nolte und Kerstin Preiwuß.
Jonas Lüscher: Kraft
Wenn der Rhetorikprofessor Richard Kraft nicht weiterweiß, betrachtet er das Portrait von Donald Rumsfeld, der für seine Förderung der Folter in Guantánamo und Bagdad eher berüchtigt als berühmt war.
Was will ein Rhetorikprofessor mit dem? Nun: Am siebten Tag – also an genau dem Tag, an dem Gott seinen Pfusch erkannte und lieber nix mehr mit seiner Schöpfung zu tun haben wollte – beschließt Kraft, seinerseits tätig zu werden und Rumsfeld zum Trotz »einen europäischen Ton« zu suchen. Er könne damit schließlich 1 Mio Dollar einheimsen, wenn er den besten 18-minütigen Beitrag liefert zu Leibniz’ Feststellung: Alles, was ist, ist gut, und dennoch können wir es verbessern.
Je nun: Das ist einigermaßen anstrengend zu lesen und vor Allem zu verstehen, wenn Kraft glaubt, einen europäischen Ton zu finden, in dem sich Leibniz’ Optimismus und Kants Strenge mit Voltaires verächtlichem Schnauben und Rabelais’ unbändigem Lachen verbinden und Hölderlin’sche Höhen und Zolas Gespür für menschliche Leiden und …
Nein danke! Für eine derartige Anhäufung intellektueller Phrasen bin ich schlichtweg zu doof und verzichte darob auf ein Weiterlesen!
Jonas Lüscher: Kraft: Eine Vakuumtheodizee. Gebundene Ausgabe. 2017. C.H.Beck. ISBN/EAN: 9783406705311. 19,95 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Birgit Müller-Wieland: Flugschnee
»Nach Hause möchte ich.« lautet der erste Satz. Und dann stellt jemand fest, dieser Satz »war in mir, Simon. Redet da jemand mit sich selbst? Oder erzählt jemand das einem Simon?
Egal: Überall war es weiß. Nun, das gibt es. Dann aber wird sofort korrigiert, es war nämlich nicht nur weiß, sondern makellos weiß – doch das genügt immer noch nicht: Es war nämlich ein Weiß wie eine Art grundloses Existieren, das einen Schmerz nach sich zog. Wer will, mache sich einen Reim drauf, schließlich gibt es kein grundloses Existieren!
Jetzt kommt der Anfangssatz erneut zu seinem Recht, denn das ist nicht einfach nur ein Satz, nein: Der ist jetzt plötzlich ein Gegenstand, der weiter glühte in dieser blendenden Gleichgültigkeit, die alles erfüllte. Und falls jemand nicht weiß, was Alles ist: Das ist nämlich außen wie innen! Und es wird weiter gekitscht: Von einer Weile wird geschwafelt, die so wohl eine Sekunde oder eine Stunde gewesen sein könnte –
Nein, danke! Nix ist mit »Verweile doch, du bist so schön«: Hiermit verabschiede ich mich von diesem gar schröcklichen Schwulst.
Birgit Müller-Wieland: Flugschnee: Roman. Gebundene Ausgabe. 2017. Otto Müller Verlag GmbH. ISBN/EAN: 9783701312481. 27,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Jakob Nolte: Schreckliche Gewalten
Dieser Roman beginnt mit einer eigenartigen Feststellung, nämlich dass Iselin und Edvard Honik in einem Haus aufwuchsen – also ganz anders als Tarzan! Ob das nun später wichtig wird, weil die beiden Honiks später im Dschungel ihr Unwesen treiben als schreckliche Gewalten, weiß ich nicht – schließlich kenne ich nur den Anfang.
Es folgt eine überflüssige zahlengespickte Aufklärung über den Weg des Sonnenlichts und die wichtige Erkenntnis, dass der Mond weder Planet noch Stern ist, und mir wird mulmig, wie das wohl weitergehen würde … doch dann konterkarierte der Erzähler seinen faktenlastigen Beginn mit der lapidaren Feststellung, dass die Mutter der beiden in einem Haus aufwachsenden Kinder angesichts der Sanftmut des strahlenden Mondes sich in einen Werwolf verwandelte und ihrem Gatten den Nacken durchbiss, Teile dessen Oberkörpers zerfleischte und anschließend wieder einschlief.
Dann folgt erneut ein trivialer Absatz mit astronomischen Binsen, und endlich scheint der Roman wirklich zu beginnen mit der Feststellung, dass Iselin und Edvard (Sie erinnern sich? Das waren die Zwillinge, die in einem Haus aufwuchsen!) gerade 20 geworden waren, als die Mutter den Vater totgebissen hatte – so steht es aber nicht geschrieben, da heißt es nämlich ihren Vater verloren – und dass das für die beiden ein harter Schlag war und sie mit 20 nicht begriffen haben sollen, was geschehen war.
Fazit: Das ist soweit irgendwie nicht gut und nicht schlecht, das ist so durcheinander: Die Charakterisierung der faktenverliebten Familienmitglieder schillert zwischen überzeugend und humorvoll und albern – ich werde mich mal besser um weitere Romananfänge kümmern.
Jakob Nolte: Schreckliche Gewalten: Roman. Gebundene Ausgabe. 2017. Matthes & Seitz Berlin. ISBN/EAN: 9783957574008. 22,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Kerstin Preiwuß: Nach Onkalo
Das fängt spannend an: Eine Mutter ist in der Nacht gestorben, und ihr erwachsenes Kleinkind Matuschek – seines Zeichen ein Schichtarbeiter – ist so was von hilflos: Der morgendliche Tee ist nicht gemacht, der Tisch nicht gedeckt, die Heizung ist kalt, geweckt wurde er auch nicht und droht zu spät zu kommen, und er wird auch kein Essen bekommen nach der Arbeit, da steht dann nichts in der Mikrowelle, wo er nur auf den Knopf zu drücken braucht.
Die Mutter liegt in ihrem Bett, aber Matuschek sucht sie dennoch im ganzen Haus, redet mit ihr, macht ihr Vorwürfe. Nichts bekommt Matuschek auf die Reihe. Hilfe sucht er beim Nachbarn, dem Russen, indem er »Mutter« sagt und mit der Hand auf sein Haus zeigt. Der nimmt sich seiner an wie eine gute Kindergärtnerin eines verzweifelten Kindes. Und lesende Menschen werden sprachlich dermaßen in diese Hilflosigkeit hineingezogen, dass man selbst verstummt.
»Mehr, mehr!«, schrie der kleine Häwelmann: Von den bis jetzt gelesenen Roman-Anfängen ist dies der beste! Das Buch muss ich haben!
Kerstin Preiwuß: Nach Onkalo: Roman. Gebundene Ausgabe. 2017. Berlin Verlag. ISBN/EAN: 9783827013149. 20,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Malte Bremer
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