StartseiteLiterarisches LebenEin Nachruf auf Elke Heidenreichs Internet-Literatursendung »lesen!«

Ein Nachruf auf Elke Heidenreichs Internet-Literatursendung »lesen!«

Elke Heidenreich liest im WebNicht nur Talkmaster Norbert Joa war überrascht und plötzlich sprachlos. »Oh«, meinte er nur, als Elke Heidenreich im Oktober 2009 in einer Radiosendung des Bayerischen Rundfunks fast beiläufig und dennoch selbstverständlich das Ende ihrer Sendung »lesen!« im Internet verkündete.

Heidenreich: »Das Netz ist noch nicht jedermanns Ding. Und die Leute, die ZDF gucken, weiß man, die sind in der Regel älter und das sind nicht unbedingt die, die durchs Netz surfen, die habe ich natürlich alle verloren. Ich krieg’ jetzt ein paar Junge dazu, aber das alles strengt mich auch enorm an, was ich da mache. Ich mache das jede Woche. So viel kann man gar nicht lesen und ich habe mir auch vorgenommen, zum Jahresende damit aufzuhören.«

Der Start im Netz verlief seinerzeit wesentlich lauter. »Das Fernsehen ist ein Auslaufmodell«, verkündete litCOLONY-Macher Werner Köhler damals. Für das Ende 2008 gestartete Literaturportal sollte Elke Heidenreich das Zugpferd werden.

Doch die literarischen Internet-Neulinge vom Rhein hatten das Internet noch nicht verstanden und machten so ziemlich alles falsch, um schließlich Elke Heidenreich ein gutes Jahr später im Netz zu versenken.

Das Internet schien für Elke Heidenreich die einzige Lösung zu sein

Dabei schien für Elke Heidenreich das Internet die einzige Lösung zu sein. Nachdem sie sich in einem FAZ-Artikel reichlich impulsiv und unflätig über ihren damaligen Arbeitgeber ZDF äußerte, setzte der sie mitsamt ihrer Sendung »lesen!« von heute auf morgen auf die Straße, obwohl bereits der Sendetermin ihrer nächsten Sendung und Studiogast Campino feststanden.

Heidenreich, so sagte sie später, wollte ohnehin aufhören. Schon seit Längerem klagte sie über den späten Sendetermin am Freitagabend.

Ein neuer Fernsehsender mochte sie jedoch mit ihrer Literatursendung nicht aufnehmen – und dann kamen die litCOLONY-Macher.

Die Organisatoren des Kölner Literaturfestivals lit.COLOGNE wollten vom großen Erfolg der Veranstaltung auch im Internet profitieren und gründeten das neue Portal litCOLONY.de.

Neben den fehlenden Alternativen war es daher wohl auch ein Freundschaftsdienst, der Elke Heidenreich bewog, ihre Sendung im Internet fortzusetzen und der Plattform zum Start die notwendige Medienaufmerksamkeit zu geben.

Niemand schien zu fragen, ob dieses Format im Netz funktioniert

Die geplante Sendung mit Campino wurde daher einfach 1:1 statt in der Kölner Kinderoper in Heidenreichs Stammlokal »Backes« aufgezeichnet und ins Netz gestellt. Niemand schien zu fragen, ob dieses Format so im Netz funktioniert. Dennoch wurde die Sendung viermal in dieser Form fürs Web produziert.

Die fünfte Web-Sendung wich bereits in die KulturKirche in Köln-Nippes aus. Ein Schwenk ins Publikum zeigt leere Bankreihen und knapp 20 Zuschauer.

Im April 2009 wurde dann das Format geändert. Statt einer halben Stunde mit vielen Büchern wurde jetzt nur ein Buch pro Woche vorgestellt. Ein Publikum gab es nicht mehr, stattdessen das Sponsorenlogo der Buchhandelskette Thalia. Elke Heidenreich schien die Bücher direkt in ihrem Arbeitszimmer zu präsentieren.

Bereits Anfang des Jahres hatten wir uns die Downloadzahlen der Web-Folgen angesehen. Unsere Hochrechnungen ergaben, dass die Sendungen im Web nicht mehr als 5.000 Zuschauer pro Folge haben können. Die Macher selbst bestritten diese Zahlen und redeten von technischen Umstellungen, auf die die niedrigen Zählerstände zurückzuführen seien. Die zweite Folge habe hingegen 63.000 Abrufe gehabt.

Schaut man sich jedoch beispielsweise die Downloadzahlen der letzten Sendungen vom November 2009 an, die nun endlich auf YouTube präsent sind, so muss man erkennen, dass unsere Hochrechnungen offenbar näher an der Wirklichkeit lagen. Keine der November-Folgen hat derzeit (31.12.2009) mehr als 4.000 Abrufe. Die letzte Novemberfolge liegt sogar deutlich unter 3.000 Abrufen.

Elke Heidenreich fehlt die Lust und Energie an der Sache

Man merkt den letzten Folgen deutlich an, dass Elke Heidenreich die Lust und Energie an der Sache fehlt. Und sicher fehlt ihr auch das Publikum vor Ort. Verflogen sind der Eifer und der Nachdruck, mit der sie einst die Titel wie in einer Werbeverkaufsveranstaltung anpries und die ihre Begeisterung für den Lesestoff zeigten.

Statt der freien und impulsiven Rede hangelt sie sich nun an einem Manuskript entlang und fast bei jedem Satz wandert ihr Blick auf diese Gedankenstütze. Freude und Spaß am Lesen sehen anders aus.

Dass »lesen!« im Internet gescheitert ist, lag sicherlich nicht an Elke Heidenreich. Der Wechsel ins Web, der seinerzeit von der Netzgemeinde euphorisch begrüßt wurde, war eine riesige Chance. Doch diese wurde von den litCOLONY-Machern nicht genutzt. Ein Jammer.

Als Heidenreichs Web-Sendung startete, war die Zeit der hermetisch abgeschlossenen Websites vorbei. Man öffnete sich, um wahrgenommen zu werden. Videos wurden nicht mehr nur im eigenen Angebot platziert, sondern via YouTube darin eingebettet. Nachrichten und Neuigkeiten werden zusätzlich per Facebook-Fanseite und Twitter vermeldet. Kommentare und Social-Bookmarks erlauben die Diskussion über die Inhalte und die Einbindung der Leser.

Nichts davon war bei litCOLONY.de zu sehen. Man mauerte sich ein und glaubte, das Zugpferd Elke Heidenreich würde genügen, dass die Leute die Klickraten des Portals nach oben treiben.

Internet wie vor 10 Jahren

Die Sendungen wurden nicht als Podcast angeboten und waren nicht bei iTunes zu finden. Kein RSS-Feed verkündete automatisch neue Folgen. Statt bei YouTube wurden die Folgen fast versteckt bei Sevenload und Vimeo gehostet. Angeblich wollte Heidenreich keine Listung bei YouTube, um nicht neben Werbebannern für die »Big Brother«-Show platziert zu sein. Keine Kapitelmarkierung erlaubte den Sprung zwischen den einzelnen vorgestellten Titeln. Nutzerkommentare waren nicht möglich, ein Download der Folgen ausgeschlossen. Eine zusätzliche Nur-Ton-Version, die völlig ausgereicht hätte, wurde nicht angeboten. Internet wie vor 10 Jahren.

Stattdessen setzte man auf flankierende Internet-Aufsätze Elke Heidenreichs auf stern.de, in denen diese kontraproduktiv das iPhone verdammt (»blöde Glasplatte«), anstatt es als neuen Medienkanal für ihre Sendungen wahrzunehmen.

Am Schluss war alles anders: Die Folgen sind bei YouTube zu finden, ein Podcast-Feed sorgt für den Download und die Listung bei wichtigen Portalen wie iTunes.

Doch da war es bereits zu spät. Die große Publicity, die der Umzug Elke Heidenreichs vom Fernsehen ins Internet brachte und über den jede Regionalzeitung berichtete, wurde nicht aufgefangen und genutzt. Einmalige Zuschauer hatten keine Chance, die Folgen zu abonnieren. Fehlende Downloadzähler, Kommentare, externe Einbindung und Feedbackmöglichkeiten schufen keine Web-Community rund um die neue alte Sendung im Web.

Der Name Elke Heidenreich allein reichte nicht fürs Internet

Man setzte auf den bekannten Namen Elke Heidenreichs, doch das allein reicht im Internet nicht mehr, um auf Dauer Erfolg zu haben.

Da nützen auch die hehren Worte von litCOLONY-Macher Werner Köhler nicht, der zum Start sagte, dass es Kultur bald nur noch im Netz gebe.

Es reicht eben nicht, Kultur ins Netz zu bringen. Man muss sie dort auch gut verankern. All das hat man bei Elke Heidenreichs Sendung versäumt. Und fehlende Zuschauer motivieren verständlicherweise nicht die Moderatorin der Sendung.

So schließt sich ein Kreis, der nie perfekt rund war.

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8 Kommentare

  1. Eine andere Möglichkeit wäre es gewesen, das Format der Sendung von reiner Buchwerbung zu einem Ratgeber für Bücherfreunde auszubauen. z.B. mit Ratschlägen, wie man günstig an Bücher kommt (Buchsuchmaschinen, die auch Gebrauchtangebote durchsuchen oder Mietangbeote oder Fernleihen via Internet), aber mein entsprechender Vorschlag wurde freundlich abgelenht: “Wir finden Ihr Angebot sehr gut, aber wir wollen am Format nichts ändern.”
    Nun denn, ruhe in Frieden!

  2. das Problem war nicht Elke Heidenreich das Problem begann mit dem ZDF. Hier gibt es viel zu kritisieren, berechtigt. Aber das mögen die nicht. Schade um die Literatur, denn die verliert.

  3. Ich finde es sehr, sehr schade, dass E. Heidenreich diese Sendung aufgibt. Ihre wöchentliche Buchvostellung hat mir am besten gefallen. Ich habe mich auf jeden Donnerstag gefreut.
    Soeben habe ich “Eine exklusive Liebe” weggelegt. Ohne ihre überzeugende Besprechung, hätte ich nicht zu diesem Buch gegriffen.
    Nichts bleibt immer so!!!

  4. Es ist jammer-jammerschade, dass diese Sendung zu Ende geht. Ich habe sie regelmaessig angehoert und gesehen und manches Buch haette ich nicht gelesen, wenn Elke Heidenreich mich nicht darauf aufmerksam gemacht haette. Ausserdem stimmen die Angaben mit den “alten” Lesern nicht so ganz; auch die Alten sind mehr im Internet, als die Jungen glauben.
    (Ruth .S. 75 Jahre und noch nicht allzusehr vertrottelt)

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