Drei Tage wurde am Wörtersee gelesen, gelauscht, diskutiert und sich delektiert.
Nun liegen die Karten auf dem Tisch und die Jury muss ihr Spiel machen, an dessen Ende es gilt, fünf Preise zu vergeben. Doris Brockmann hat die Ereignisse verfolgt und zieht Resümee.
Was war los an welchem Tag und wer las was? Mit Inhaltskurzsätzen für die Vergesslichen.
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Jetzt ist alles aufgelesen. Bevor morgen die Preise verliehen werden, möchte ich eine Bestandsaufnahme vornehmen.
Doris Brockmann
ist (bzw. war) passionierte Fernsehstudentin der »Tage der deutschsprachigen Literatur«. Bis 2013 bloggte und twitterte sie über den Bachmannpreis immer im angenehm kühlen Arbeitszimmer, 2014 war sie erstmals live im aufgeheizten Klagenfurt dabei, um sich mal alles vor Ort anzuschauen. 2017 wird sie zum vierten Mal nach Kärnten reisen. Ansonsten widmet sie sich der angewandten Schriftstellerei im Dienste der Alltagsbeobachtung auf
walk-the-lines.de
Wollte man die drei Lesetage jeweils mit einem tagestrendspezifischen Stichwort auf den Begriff bringen, wäre das folgende, mit der Einschätzung eines Großteils der #TDDL-Twitterer übereinstimmende Fazit zu ziehen:
Tag 1: „Tag der Schamhaare“ (Daniela Strigl) – Körperlichkeit allerorten: Riesenpenisse, Schwanzwurzeln, Brüste, Schamhaare, Bauchwülste, Körper voller „Wundmale“. So viel Eindeutiges nötigt die deutende Jury, die Freudsche Werkzeugkiste hervorzukramen und die Texte mit allerlei psychoanalytischem Besteck zu sezieren. Dem neu hinzugekommene Juror Juri Steiner macht das besonders viel Spaß. Er beherrscht aber auch sein Handwerk.
Tag 2: „Tag der Scham bzw. der Mütter“. Die Haare sind ab. Die Scham bleibt. Das Thema Mutterschaft rückt in den Vordergrund, wobei die Großmütter dominieren. Die erzählten Großmütter stammen aus Russland und rufen Genealogievorstellungen in Gestalt der Matroschka-Schachtelpuppen hervor. Ein Querflötist und ein Brasilien-Tramper können da nur schwerlich eingeordnet werden (sofern wir die Freudsche Werkzeugkiste geschlossen lassen).
Tag 3: „Tag der Käfer, Würmer und überforderten Mütter“. Diabolisch anmutende Knaben zwischen Käfersammlung und Bombenbau treffen auf Mütter in Extremsituationen, von denen eine schon mal „Spaghetti horrori Regenwurmi“ kocht. Die Jury findet sich in einem Wechselbad der Textqualitäten wieder, wurden ihr doch Heißes und Kaltes direkt hintereinander serviert.
Während der Lesungen habe ich mich immer wieder nach dem Gesamt der in diesem Jahr für klagenfurttauglich befundenen Texte gefragt. Welche Themen, Orte, Zeiten, Protagonisten erschienen den JuroInnen interessant, dass sie entschieden, davon sollte während der Tage der deutschsprachigen Literatur 2013 erzählt werden?
Die Reise führte durch Brasilien, nach Kiew, auf die schwedische Insel Ingarö, in das russische Dorf Ostrov, nach Hamburg, München, Mannheim und an einen namenlosen postapokalyptischen Ort.
Als Protagonisten begegnen uns ein Bankberater und eine ältere Frau, ein Student, eine junge Frau, ein 16jähriger Junge, eine junge Frau, ein Brasilianer, eine junge Russin, ein junger Mann, ein Star-Querflötist, eine russische Urgroßmutter und ihre Urgroßenkelin, ein junge Mutter, ein junger Mann und ein geheimnisvoller Junge, ein Junge im Pubertätsalter und eine 40jährige Frau.
In drei Geschichten liegt der Handlungszeitrahmen nicht in der Gegenwart: einmal werden wir zeitlich zurückversetzt in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts, ein anderes mal in das Jahr 1941, und im dritten Fall werden historische Rückbezüge auf die Jahre 1815 und 1844 vorgenommen.
Worum ging es inhaltlich? Hier die Themen in einem Satz:
- versteckter Machtkampf zwischen einem heiratsschwindeldem Bankberater und einer älteren krebskranken Villenbesitzerin (Larissa Boehning)
- 22jähriger stiehlt einen Fotoband im (spätpubertären) Verlangen, einem souveränen Truman Capote ebenbürtig zu sein (Joachim Meyerhoff)
- Nora zwischen Kinderwunsch, ungewollter Schwangerschaft und im Koma liegender Mutter (Nadine Kegele)
- Pubertätsgeschichte über den 15jährigen Luis, der sich selbst durchsichtig werden möchte (Verena Güntner)
- somatisierende junge Frau trennt sich infolge schleichenden Liebesverlustes von ihrem Freund (Anousch Müller)
- Tramptour durch Brasilien und deutsch-brasilianische Klischeevorstellungen (Zé do Rock)
- russisches Mädchen möchte ihrer hexenzauberkundigen matriarchalen Restfamilie entfliehen (Cordula Simon)
- durch zu viel Entscheidungsfreiheit paralysierter Thirtysomething trennt sich von seiner Freundin (Heinz Helle)
- Deutschlandtournee eines Star-Querflötisten mit Absturzgefahr (Philipp Schönthaler)
- Judendeportation in Kiew 1941 als Erinnerungsgeschichte einer Urgroßenkelin (Katja Petrowskaja)
- wie reagiert eine Familie auf die Geburt eines blinden Kindes (Hannah Dübgen)
- wie kümmert man sich um einen Ersatzsohn im Alltag einer postapokalyptischen Welt (Roman Ehrlich)
- pubertierender Käfersammler zwischen erster Verliebtheit und Loslösung von der Mutter (Benjamin Maack)
- frustrierte Ehefrau erhält die Nachricht, dass ihr Sohn von einem Kindergartenausflug nicht zurückgekommen ist (Nikola Anne Mehlhorn)
Neun der vierzehn Geschichten wurden aus der Ich-Perspektive (einmal in Überformung zur „Wir“-Form, einmal in Anrede auf ein „Du“) geschrieben, die anderen hatten einen personalen respektive auktorialen Erzähler.
So. Nach der Hektik der drei Vorlesetage können wir uns nun entspannte Nachlesetage mit den zum Download bereitgestellten Texten gönnen. Doch zunächst noch heißt es, Daumendrücken und Abwarten, wie das hohe Preisgericht zu Klagenfurt am Wörtersee entscheiden wird.
Doris Brockmann