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Textkritik: Tequila Sunrise – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

Tequila Sunrise

von Sabine Harnau
Textart: Lyrik
Bewertung: 5 von 5 Brillen

himmel im paillettenkleid
zitronen pressen wir
im mund
die nacht
falten wir zusammen

© 2002 by Sabine Harnau. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Bezaubernd leicht und mit feinem Humor: einfach wunderbar!

Die Kritik im Einzelnen

Der Titel lässt keine Wünsche offen! Sei es der gleichnamige Film (mit Mel Gibson und Michelle Pfeiffer, den ich nicht kenne, so dass mir mögliche Assoziationen entgehen), sei es eine mehrfache Goldmedaillengewinnerin, ein Cocktail (über dessen mengenmäßige Zusammensetzung es durchaus unterschiedliche Ansichten gibt), das Lied der Eagles, ein Bezug zu einem gleichnamigen, aber sehr triefenden englischen Gedicht oder nur ein Wortspiel: in jedem Fall ist es etwas Exotisches. zurück
Ich stelle mir vor: ein langes schwarzes Kleid, darauf appliziert kleine silbrig-glänzende Metallplättchen; prosaisch wäre das eine sternklare Nacht: das hat aber nichts zu tun mit dieser besonderen feierlichen Nacht, denn schließlich hat sich der Himmel fein gemacht für das, was er jetzt zu sehen bekommt! Dadurch bekommt der Himmel etwas sehr Weibliches, aber schließlich ist ein Himmel im Paillettenkleid die Nacht! Die äußeren Umstände klingen an, in denen das Folgende sich abspielt. zurück
Nimmt man diese Zeile isoliert von der folgenden (und das sollte man gefälligst tun: bei guten Gedichten ist es nie beliebig, wo und wie die Zeile endet! Zudem entstehen die Bilder beim Lesen viel schneller, als unser Kopf sie festzuhalten vermag: um so mehr sollten wir bewusst langsam lesen, vor allem Lyrik!), dann sehe ich (mindestens) zwei Menschen beim Zitronenpressen – so, als sei man von einem feierlichen (Paillettenkleid) Abend zurückgekommen und wolle sich noch etwas Erfrischendes (Zitronen) gönnen, was man sich selbst zubereitet, z.B. den Cocktail namens Tequila Sunrise. zurück
Das kann ich nicht lesen, ohne dass sich unverzüglich körperliche Reaktionen im Mund einstellen; es sind keine unangenehmen! Gleichzeitig assoziiere ich Wärme, hier also eine warme Nacht. Und ich erinnere mich an die beiden einzigen Tequila Sunrise, die ich (es war im Sommer letzten Jahres) jemals getrunken habe: da habe ich anschließend die dekorativ auf den Glasrand gesteckte Limettenscheibe entfernt und genüsslich im Gaumen mit der Zunge ausgepresst: das ging wohlig-fröstelnd durch Mark und Bein.
Die erste und die nächsten beiden Zeilen bilden eine rhythmische Einheit, nämlich jeweils vier Trochäen, die einerseits die Feierlichkeit unterstützen, andererseits einen Kontrast bilden zu dem Gefühl, das ausgepresste Zitronen im Munde hervorrufen können: denn hier wären Daktylen vorstellbar, etwa durch Umstellung in der zweiten Zeile (wir pressen Zitronen im Mund). Aber glücklicherweise bleiben die Trochäen erhalten und dadurch auch die Fraglosigkeit der Gemeinsamkeit: das Subjekt wir steht hinten an, denn das gemeinsame Tun ist viel wichtiger. zurück
Hier finde ich in der Form eine höchst spannende Leerstelle: die Nacht schließt an den Mund an – aber dazwischen muss doch noch etwas gewesen sein? Walther von der Vogelweide hat eine entsprechende Lücke mit Tandaradei gefüllt (Under der linden/an der heide/da unser zweier bette was … niemer niemen/bevinde daz, wan er unt ich/und ein kleinez vogellin:/tandaradei,/daz mac wol getriuwe sin): auch diese kann jeder füllen, wie er es für richtig hält! zurück
Die Nacht ist zuende: Tequila Sunrise! Wieder ist die Gemeinsamkeit fraglos, wieder steht das Subjekt wir nach. Das zusammen lässt sich auf zwei Weisen verstehen, die sich ergänzen: beide falten gemeinsam (=zusammen), beide falten gemeinsam die Nacht zusammen wie eine Decke, auf der man gelagert hatte, wenn man aufbrechen muss. Ein leises Bedauern schwingt mit, da mit Nacht und falten zwei betonte Silben aneinander stoßen zurück

© 2002 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.