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Yoga-Häppchen mit Emmanuel Carrère

Das Buch »Yoga« von Emmanuel Carrère

»Yoga« von Emmanuel Carrère ist eine literarische Meditation. Weltgeschehen und Persönliches vermischen sich. Selbst fünf Sekunden eines YouTube-Video werden kontemplativ betrachtet.

879 Likes hat am 08.04.2022 ein Kommentar unter einem YouTube-Video, das die Pianistin Martha Argerich in Schwarzweiß zeigt, wie sie irgendwann um 1960 Chopins »Polonaise héroïque« spielt. Es ist Minute 5:30 dieses Videos, der Carrère eines der kleinen Kapitel in »Yoga« widmet, und der Kommentator dankt Carrère, dass er auf Minute 5:30 verwiesen hat.

Aber es ist nicht Emmanuel Carrère, der diesen Augenblick gefunden hat, sondern die Amerikanerin Erica, mit der Carrère auf der griechischen Insel Leros in einem Flüchtlingslager arbeitet.

Schon sind wir mitten drin in den Windungen und Wendungen der literarischen Lebensbewältigung von Emmanuel Carrère. »Yoga« ist ein Buch, das man als »autofiktional« bezeichnet. Selbst wenn große weltpolitische Ereignisse beschrieben werden, wie die europäische Flüchtlingskrise oder der Anschlag auf Charlie Hebdo, geht es dennoch im Text um Emmanuel Carrère, oder genauer gesagt um den Erzähler Carrère, der mit dem Autor identisch ist. Doch was ist eine Identität, wenn sie literarisch verarbeitet und zu einem Text, zu einem Buch wird? Carrère will möglichst nah ran und rein in den Kopf des Emmanuel Carrère. Man könnte es auch als egozentrisch bezeichnen. Ist es die Geschichte eines larmoyanten alten Mannes? Nein, denn Carrère analysiert Carrère, folgt ihm in die Abgründe einer bipolaren Störung und der Behandlung in einer psychiatrischen Klinik. Carrère bleibt immer auf Distanz zu Carrère.

Der Running Gag des Buches ist dann die final doch titelgebende Absicht des Autors, ein »heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga zu schreiben«, wie es gleich im ersten Satz zu lesen ist. Seit Jahren meditiert Carrère, betreibt Yoga und Tai-Chi, und am Anfang des Buches begleiten wir den Erzähler zu einem Yoga-Seminar, bei dem die Teilnehmer eine Woche nicht miteinander sprechen, ja nicht einmal Blickkontakt miteinander aufnehmen sollen. Es beginnt tatsächlich heiter mit ironischen Anmerkungen.

Doch bereits während des Yoga-Retreats folgen emotionale Tiefschläge, von deren Bewältigung »Yoga« handelt und die daraus alles andere als ein »heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga« machen. Es ist der Tod eines Freundes beim Anschlag auf die Satire-Zeitschrift »Charlie Hebdo« und der völlige Zusammenbruch mit einer attestierten bipolaren Störung nach der Trennung von seiner Frau, was Carrère im Buch selbst als Grund nicht so benennen darf.

Immer wieder führen Erinnerungen und Assoziationen zu weiteren Geschichten auch von Dritten, bei denen man nicht immer das Gefühl hat zu wissen, ob diese gefragt oder ungefragt zu Protagonisten des Buches wurden.

Wir erfahren scheinbar Intimes und geheimste Gedanken und dennoch ist klar, dass es eine literarische Inszenierung ist und nicht alles gesagt oder bereits im Text selbst infrage gestellt wird, alles in kleinen Kapiteltexthäppchen von drei bis vier Seiten.

»Yoga« ist kein spannendes Buch. Wenn einem das viele Ich nicht stört, ist es im besten Fall eine literarische Meditation, die man wie verordnet texthäppchenweise angeht.

Wolfgang Tischer

Emmanuel Carrère; Claudia Hamm (Übersetzung): Yoga. Gebundene Ausgabe. 2022. Matthes & Seitz Berlin. ISBN/EAN: 9783751800587. 25,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

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