
Es ging im Literarischen Quartett diesmal um Romane, die 100 und 30 Jahre alt sind, die uns aber anscheinend viel über die aktuelle Zeit erzählen. Die beiden weiteren Bücher wurden gelobt und verrissen. Wie bisweilen unsere TV-Kritik. Wir begeben uns daher in die Parallelwelt der Zusammenfassung.
So schlecht, wie wir sonst immer schreiben, war die Runde diesmal nicht. Vielleicht lag es daran, dass Menschen wie Wolfram Eilenberger, Hilmar Klute und Iris Radisch zwar meinungsstark sind, aber nicht meinungsbeharrend. Auch Thea Dorn hielt sich diesmal zurück.
Da in den Kommentaren zu unserer TV-Kritik des Quartetts ab und an zu lesen ist, dass wir – sinngemäß – doch auch mal was Nettes schreiben sollen, machen wir diesmal ein Experiment und beschreiben neutral was war. Soweit möglich.
Ist das besser? Schreiben Sie es unten in die Kommentare! Gerne sind wir auch mal wieder garstig.
Vorweg sei jedoch eines vermerkt: Dass der 100 Jahre alte Zauberberg aufgrund des 150. Geburtstags von Thomas Mann und ein 30 Jahre altes Werk des Franzosen Emmanuel Carrère über die Parallelwelten des Philip K. Dick in einer Sendung besprochen wurden, war ein durchaus interessantes Zusammentreffen. Dass beide Werke scheinbar oder anscheinend auch die heutige Zeit beschreiben oder vorweggenommen hätten, zeigt, wie gerne man die literarische Rezeption auf die Gegenwart legt. Gut oder schlecht. Emmanuel Carrère, auf jeden Fall, scheint im Quartett ein Besprechungs-Abo zu haben, da offenbar jede Neuübersetzung seiner Werke besprochen wird. Warum eigentlich?
Krankheitsmodelle im Zauberberg
Thea Dorn eröffnete die Diskussion, indem sie den »Zauberberg« als »gespenstisch aktuell« beschrieb. Sie schilderte die im Buch dargestellte Wohlstandsgesellschaft in einem Sanatorium in den Schweizer Alpen als eine Utopie, in der es sich selbst die Armen leisten können, jahrelang zu verweilen, den »Mühen der Ebene enthoben«. Gleichzeitig wisse in dieser Gesellschaft niemand so recht, was er mit sich und der Welt anfangen solle, man kreise um eigene Befindlichkeiten und vertreibe sich die Zeit mit stumpfsinnigen Dingen wie Schweinchenzeichnen oder Schokoladenhorten. Besonders hob Dorn die »große Gereiztheit« hervor, die aus den ideologischen Auseinandersetzungen zwischen den Figuren wie dem die Humanität verteidigenden Dogmatiker und dem auf Dekadenz eindreschenden Gegner erwachse. Diese »große Gereiztheit« führe zu einer Gesellschaft, die dem »großen Knall«, dem Ersten Weltkrieg, entgegensteuere und letztlich nicht mehr zu retten sei. Die Lektüre sei vielleicht keine tröstliche, aber eine »wahnsinnig aufregende«.
Wolfram Eilenberger stimmte dieser Diagnose zu. Er nannte das Buch einen »diagnostischen Roman über eine Konstellation, die einen Krieg ermöglicht« und betonte, dass nur eine Diagnose gestellt werde, keine Therapie, da niemand in diesem »Haus der Kranken« geheilt werde. Thomas Mann beschreibe die kriegsermöglichende Konstellation als »allgemeine innere Umstände«, die selbst in diesen abgeschiedenen »Bauchnabel Europas« eindrängen: Zankmut, Gereiztheit, namenlose Ungeduld – alles Teil dieser »großen Gereiztheit«. Er sah den Liberalismus, die Progressivität und den Universalismus in diesem Umfeld auf verlorenem Posten, verkörpert durch die Figur Settembrini. Eilenberger meinte, dass das Lesen des Buches, das er als »wahnsinnig aufregende Lektüre« empfand, eine innere Ruhe bringen könne, indem es helfe, die eigene Situation der Gereiztheit zu verstehen, da der Roman uns die Wege der Fiktion anbiete.
Iris Radisch sah ebenfalls die meditative Qualität des Buches, das »in bequemen Liegestühlen« spiele. Sie beschrieb die Bewohner des Sanatoriums nicht nur als lungenkrank, sondern auch als »krank am Zeitalter«, arbeitsentlastet und mit sehr viel Zeit zum Essen und Debattieren. Für sie ist »Der Zauberberg« ein »richtiger Ideenroman«, der die Theorien Nietzsches aufgreife, insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Kranken, Irrationalen, Ermatteten und Formlosen – dem »Dionysischen« – im Gegensatz zur bürgerlichen Vernunft und dem Fortschritt, verkörpert durch Settembrini. Frau Radisch sah den Roman auch als eine »Parodie der Geschwätzigkeit« und einen Roman über »Deutungshoheiten« in einer Partikulargesellschaft, die nur durch die Krankheit verbunden sei. Die Figuren seien in ihrem Krankheitsmodell gefangen und könnten außerhalb kaum noch existieren.
Hilmar Klute war beeindruckt von der präzisen Beschreibung der Gesellschaft im Buch, die er sogar als treffender für unsere heutige bundesrepublikanische Gesellschaft empfand als für die bürgerliche Welt zur Entstehungszeit des Romans. Er verwies auf die damalige Debattenfreudigkeit und den Überdruss in der Kaiserzeit, die vielen Positionierungen und den Kampf um Deutungshoheit, den wir heute ebenfalls erleben. Klute nannte das Buch ein »Scharnierbuch« mit »prophetischer Kraft«, das nicht nur die alte Konstellation entwickle, sondern auch die Sprengkraft der Weimarer Konstellation zeige. Besonders eindrücklich fand er den Begriff der »Schattensicherheit des Erzählers«, den er auf die Haltung Deutschlands zu Weltkonflikten bezog. Er meinte, Deutschland habe sich in einer »erzählerhaften Schattensicherheit« gewähnt und geglaubt, auf dem »Berg der Seligen« zu sitzen, bis es hineingezogen wurde – eine »Schattensicherheit«, die nun vorbei sei. Klute sah auch eine »etwas verdrehte Lust« auf das, was wir heute »Zeitenwende« nennen, auch auf Militarisierung, und verglich es mit der Erwartung eines großen Ereignisses im Buch, das dort als »Donnerschlag« bezeichnet werde.
Wolfram Eilenberger widersprach entschieden der Aussage, dass »Der Zauberberg« ein so heutiger Roman sei. Für ihn sei das Buch sehr rückwärtsgewandt, noch vor das 20. Jahrhundert, geprägt von Todesromantik und der Auseinandersetzung zwischen Romantik und Aufklärung. Er interpretierte das Buch als Thomas Manns Auseinandersetzung mit seinem eigenen früheren, restaurativen Charakter aus den »Betrachtungen eines Unpolitischen«, den er loswerden wollte. In diesem Ideenroman lasse Mann diesen Charakter, verkörpert durch Naphta, sich selbst richten. Eilenberger erwähnte auch den Topos der Grenzsituation und Todesnähe in den 20er Jahren, der im Buch unterlaufen werde, da die Figuren in Todesnähe zwar quatschten, aber nichts dergleichen erreichten, außer Naphta, der zur Tat schreite.
Iris Radisch thematisierte kurz die Darstellung der Frauenrollen im Roman, die sie als sehr »19. Jahrhundert« bezeichnete. Während jeder mit jedem rede, sage Frau Stöhr nur »dummes Zeug«, und Frau Chauchat sei im Grunde eine »höhere Kokotte«. Sie beschrieb eine Szene zwischen Hans Castorp und Madame Chauchat als symbolisch für den Roman: Tod, Erotik, die Begegnung der Protagonisten, die verschiedene Gefühle repräsentierten.
Hilmar Klute griff Eilenbergers Punkt auf, dass der Roman ein »bürgerlicher Roman par excellence« sei, der »Oppositionen« aufbaue. Er sah die eine Seite als bürgerliche Welt mit Ordnung, Vernunft, Maßhalten und Disziplin, während die andere Seite die »Durchgängerei«, Freiheit und Genie repräsentiere. Klute fand es verrückt, dass der Roman beides vereine: eine hohe Erzähldisziplin und gleichzeitig das Zulassen aller »Gäule« in den ausufernden Dialogen und Beschreibungen.
Wolfram Eilenberger konterte Martin Walsers Vorwurf an Thomas Mann, dieser gefährde sich nie und bleibe sich seines großbürgerlichen Ichs stets bewusst. Er widersprach dem und betonte, dass Mann in diesem Roman die Ambivalenz als »höchste Tugend« preise. Es gehe nicht um eine einfache Synthese, sondern um eine Mitte, die sich in Spannungen suche und finde und sich nicht einfach auf eine Seite werfe. Eilenberger sah gerade diese Tugend des Romans, Spannungen wahrzunehmen und präzise zu beschreiben, als »extrem gegenwärtige Tugend«, die man durch die Lektüre einüben könne. Thea Dorn fasste die Diskussion als »Herrliches Schlusswort« zusammen, wobei sich dies nur auf die Diskussion zum ersten Buch bezog.
Die Parallelwelten des Philip K. Dick
Nach der lebhaften Diskussion über Thomas Manns »Der Zauberberg« wandte sich das Literarische Quartett den drei weiteren Büchern zu, beginnend mit Emmanuel Carrères »Ich lebe und ihr seid tot. Die Parallelwelten des Philip K. Dick«.
Wolfram Eilenberger stellte Philip K. Dick als einen der außergewöhnlichsten und abwegigsten Geister des 20. Jahrhunderts vor, der über 50 Science-Fiction-Romane schrieb und dessen Werk maßgeblich die Imagination der Zukunft prägte, auch durch Verfilmungen wie »Blade Runner« oder »Total Recall«. Carrère selbst sei einer der außergewöhnlichsten und abwegigsten Geister unserer Zeit, ein erzählender Sachbuchautor. Das Wunderbare an diesem Buch sei, dass zwei Geister, die die gleiche Problematik teilen, zueinander gefunden haben. Beide hätten das metaphysische Gefühl, dass mit dieser Wirklichkeit etwas nicht stimmt, und fragen sich, ob es eine Simulation oder eine Verschwörungstheorie sei. Es sei ein existenzieller, tiefer Zweifel, und beide wüssten, dass auch mit ihrem eigenen Bewusstseinsstrom etwas nicht in Ordnung sei. Was auf den 400 Seiten geschehe, sei faszinierend. Man könne das Buch auf vier Ebenen lesen: Leben, Werk und Denken von Philip K. Dick; die kalifornische Drogenkultur und ihre Entgrenzungen bis in die digitale Sphäre und KI; ein Buch über linke Verwirrung; und als eine Art Urfaust von Carrère, in dem er Lebensthemen und Tricks anlegt, so Eilenberger.
Hilmar Klute gestand, meistens bei der Lektüre »auf allen Vieren gekrochen« zu sein. Das sei immer dann passiert, wenn Carrère Dicks Science-Fiction-Geschichten nacherzählt habe, die viel Raum einnehmen. Diese Geschichten glichen sich für ihn immer, mit denselben Motiven. Er empfand diese Art von Science-Fiction-Literatur als wahnsinnig anödend, ebenso wie das »Wollen«, die Transprojizierung von Zukunft auf ein Erzählmodell. Er wisse nicht, ob das prophetisch sei, glaube eher, dass man technisch herstellen könne, womit man sich intensiv beschäftigt habe. Die Nacherzählungen der Geschichten hätten ihn wirklich gequält. Interessant fand er die Figur des Autors (Dick) in seiner Erbärmlichkeit. Carrère schildere ihn als defizitär startend, drogensüchtig, als minderwertigen Schriftsteller, der eigentlich Mainstream schreiben wollte, aber nicht gut darin war und in Nischen landete.
Iris Radisch teilte Klutes Abneigung gegen Science-Fiction. Sie finde die Welt und das Leben spannend genug und brauche diese künstlichen Welten literarisch nicht. Sie glaube aber, dass es Carrère gar nicht um Dick gehe. Egal worüber Carrère schreibe, er sei immer auf seiner eigenen Gottsuche oder Sinnsuche. Er schrieb das Buch in einer Schreibkrise in den 90ern, weil er das ironische Zeitalter und die »Hölle der Ironie« nicht mehr ertrug und eine höhere Wirklichkeit suchte. Dick sei für ihn ein Weg gewesen, da sie Brüder im Geiste seien, beide auf der Suche nach höherer Wirklichkeit. Carrère sei während des Schreibens »urkatholisch« geworden, was einen nerven könne, weil es so »pareligiös« sei. Es sei eine »große Californian-Dreaming-Soße«, alles werde wahnsinnig ernst genommen. Kluthe meinte, mangelnde Ironie führe zu dieser Ernsthaftigkeit. Und Thea Dorn spitze zu: Es sei ein Buch von einem Paranoiker über einen noch schlimmeren Paranoiker, vielleicht auch für Paranoiker. Thea Dorn fand es interessant, dass Dick, der dachte, alles werde abgehört, durch Watergate im Nachhinein Recht behielt. Die Methode, die Dick mit seinen Kindern spielte – »Die Ratte«, bei der die Bank ständig die Regeln ändert – sei eine dramatische Erklärung dessen, was gerade in den USA passiere. »Chapeau«. Das Buch sei über Amerika, seine Psychosen, seinen Verfall, seine Depression. Carrère könne tiefe metaphysische Fragen mit Popkultur aufladen. Das Faszinierende sei, dass Carrère es schaffe, sich in Dicks Bewusstseinsstrom einzuklinken und den Leser in die Psychosen hineinzuziehen. Das Problem sei die fehlende Distanz. Er nehme diesen Mann wahnsinnig ernst, sowohl in seiner Autorschaft als auch in seinem Privatleben. Es sei keine bequeme Lektüre. Sie musste das Buch in kleinen Dosen lesen, weil es wahnsinnig mache.
Wolfram Eilenberger nannte es »grandios, wenn einen etwas Wahnsinnig macht«. Radish sah ein strukturelles Problem im Genre der Romanbiografie/Autofiktion, die die Biografie eines anderen benutzt, um sich selbst als Autor zu schaffen. Er finde, man könne das nicht machen, sich eine andere künstlerische Existenz völlig anzuverwandeln. Sie wisse nie, wo die moralische Einordnung sei. Carrère sei absolut übergriffig, wisse, was Dick denke, wenn er mit seiner Frau schlafe. Das sei eine Anmaßung.
Wolfram Eilenberger entgegnete, dass Carrère ein Bezugspunkt für erzählende Sachbücher und Autofiktion der letzten 25 Jahre sei, weil er es wahnsinnig gut könne. Ein Kriterium für ein gelungenes erzählendes Sachbuch sei, ob es egal sei, ob die Hauptperson existiert habe – das Buch wäre genauso erkenntnisfördernd, wenn Dick eine Erfindung wäre. Carrère behandele Dick wie eine Erfindung, der Mann sei ihm wurscht, er sei eine Möglichkeit, über sich selbst nachzudenken und sich als Autor zu schaffen. Das sei faszinierend zu beobachten.
Iris Radisch beharrte darauf, dass das Buch dann anders genannt werden müsse. Carrère nenne Dick selbst eine »Ratte«. Thea Dorn schloss diesen Punkt als »hinreisende Rattenautofiktion« ab.
Im See der Schöpfung
Weiter ging es mit Rachel Kushners Roman »See der Schöpfung«.
Iris Radisch stellte Rachel Kushner als kalifornische Autorin, Tochter von Hippies und mit Interesse an europäischen Gegenkulturen, Philosophie und Theorie vor. Der Roman handle von einer 34-jährigen amerikanischen Agentin, die im Auftrag der französischen Agrarindustrie eine südfranzösische Öko-Aussteigergruppe infiltriere, um sie zu Straftaten zu bewegen und so zu zerstören. Eine wichtige Figur sei Bruno, der Spiritus Rector der Gruppe, der Guy Debord nahegestanden habe. Radisch gefiel das Buch sehr gut. Sie hob den zynischen Ton der amoralischen Agentin hervor, der mit der Romantik des europäischen linksanarchistischen Aussteigertums und dessen radikaler Zivilisationskritik kollidiere. Der Zusammenprall von Menschen, die an gar nichts mehr glauben, und solchen, die glauben, die Menschheit sei falsch abgebogen, ergebe »fantastische Funken«.
Thea Dorn stimmte voll zu und nannte es ein reines Lektürevergnügen. Der Anfangssatz sei herrlich. Brunos radikale Antwort auf die Frage, wo die Menschheit falsch abgebogen sei: Neandertaler seien nicht depressiv gewesen, Homo Sapiens sei Homo Tardus. Eine Ebene der Zivilisationskritik, der er »chapeau« zollte. Sie zitierte den Satz, dass das Ende der Welt leichter zu imaginieren sei als das Ende des Kapitalismus. Es sei auch ein Ideenroman, aber gleichzeitig ein handwerklich perfekt gemachter Thriller, witzig und spannend. Sie fragte sich, ob die Agentin die Gruppe wirklich ans Messer liefere. Bruno, der Höhlenfrequenzen höre und in einer Höhle lebe, um Kontakt zu Neandertalern zu finden, sei faszinierend. Die Gruppe sei paranoid wegen Infiltration, und es mache Spaß, dabei zuzusehen, wie sie gerade infiltriert werde. Sie war beeindruckt von der Komplexität des Buches.
Hilmar Klute sah das Buch auch als eines über die französische Gesellschaft, die sich von 68ern und Libertinage verabschiede. Es gebe eine Transformation hin zur Gewalt. Es würden Identifikationsmodelle geboten, wie der Neandertaler als vorzivilisatorisches Modell, das keine Fehler gemacht habe. Etwas kehre sich um in der scheinbar progressiven Welt der Molinisten, wo Frauen am Herd seien. Dies spiegele Debatten in Frankreich wider. Klute nannte es ein Meisterwerk und war dankbar, es gelesen zu haben. Empathiebefreite Soziopathinnen seien super Ich-Erzähler, da sie Menschen nur analysierten. Man lerne viel über Männlichkeit und Paarbeziehungen. Die Ökonomie des Erzählens sei fantastisch, der Spannungsaufbau meisterhaft. Es sei ein Buch über die linke Desorientierung in Frankreich seit 1968 und kreise um das Symbol der Ein- und Ausgänge. Bruno sei eine fantastische Figur.
Wolfram Eilenberger nannte es einen »Endbildungsroman« für die Menschheit. Er gehe 350.000 Jahre zurück und sage, wir müssten uns »entbilden«, um aus der Misere herauszukommen, die Wahrnehmungen der Urmenschen wieder gewinnen. Dies könne man als romantischen Natur-Kitsch abtun, aber die E-Mails und die philosophische Tiefe seien fantastisch. Die Tiefe Brunos sei begeisternd.
Thea Dorn fand es verrückt, dass das Buch beides liefere, den ironischen Überblick wie bei Mann und die völlige Immersion wie bei Carrère. Es habe eine kaltschnäuzige Distanz durch die Ich-Erzählerin. Es sei auch sehr lustig, da die kalte Agentin zum größten Fan werde und vom Leben in der Höhle träume.
Iris Radisch meinte, man wisse am Ende nicht, wer hier wen infiltriere. Sie beschrieb die Agentin als »obercool« und »Spidergirl«, die dann aber sage, sie habe keine Ideologie und sei ratlos wie alle. Sie habe aber eine wunderbare Metapher: die »4 Uhr morgens Realität des Seins«, wo es keine Politik gebe und der Mensch nackt, seine Essenz sei. Diese Essenz sei »das Salz«, und hier treffe sie sich mit Bruno, der sage, man müsse ein Körnchen dieser Essenz in sich wiederfinden, sonst seien Revolutionen und Green Deal nutzlos.
Hilmar Klute war glücklich, dass die Agentin nicht vollständig bekehrt worden sei. Sie habe ihre Kälte und Abgebrühtheit nicht komplett aufgegeben. Es wäre eine Katastrophe für die Erzählung gewesen, wenn sie eine moralische Figur geworden wäre und Bruno auf den Leim gegangen wäre.
Wolfram Eilenberger fand, das Ende sei etwas weich und wirke wie ein Fortsetzungsroman. Wie eine Gestalt à la Mr. Ripley, mit der man sechs oder sieben weitere Romane verbringen könnte, die er sehr gerne lesen würde.
Thea Dorn fasste zusammen, dass das Buch »einhellige Begeisterung« hervorgerufen habe und man auf die Fortsetzung warte.
Schwester Europa
Als letztes Buch wurde Nels’ Roman »Sister Europe« besprochen.
Hilmar Klute stellte die Autorin Nels als Amerikanerin vor, die in Berlin lebt und auf Englisch schreibt. Der Roman spiele in der Jetztzeit, Februar 2023. Es gehe um eine Gruppe von Menschen, die sich lose kennen. Im Mittelpunkt stehe Damian, ein Kulturkritiker, dessen Kind Nicole eine Geschlechtsumwandlung mache und auf der Kurfürstenstraße aufgefunden werde. Sie werde von Toto, einem Freund der Familie, zu einer öden Preisverleihung im Interconti begleitet, wo sie alle nur darauf warten, danach ins nächtliche Berlin zu ziehen. Äußerlich passiere nicht viel, innerlich wahnsinnig viel. Es sei ein Roman über unsere allgemeine Erschöpfung, was Identitätspolitik und Diskurse angehe. Alles sei in einer Übergangssituation, ausdiskutiert, erschöpft. Eine weitere Figur sei Klaus, ein Detektiv, der an Montagsdemonstrationen teilnehme. Das Ende sei unerwartet.
Iris Radisch nannte es eine »Berlinkomödie« und »Literaturbetriebssatire«. Radisch fand das Buch sehr problematisch. Deutsche Eliten (reiche Leute, Intellektuelle, Künstler) würden in maximaler Verkommenheit dargestellt. Der Literaturbetrieb sei lächerlich und korrupt. Es sei wie eine Darstellung im Vorabendprogramm. Die Charaktere seien Karikaturen. Als Beispiel nannte sie eine reiche Erbin, die Geld von einem NS-Großonkel habe und überlege, ob sie Flüchtlingskinder mit Therapiepferden oder Stipendiaten für Nature Writing fördern solle. Eliten-Belange würden maximal lächerlich gemacht. Sie wisse nicht genau, mit welcher Absicht, auch wenn es Satire sei.
Wolfram Eilenberger hatte »keine Idee«. Das Beste, was er sagen könne, sei, dass das Buch 27 Kapitel habe. Er habe seit Jahrzehnten nichts mehr gelesen, was ihn so geärgert habe und gab unkontrollierte Ächtslaute von sich. Er fand das Buch hanebüchen konstruiert, narrativ schlampig, mit einer Pointendichte, die nirgends zünde und zum Fremdschämen sei. Es gebe keine Menschen, nur Diskursgrimmassen. Man sehe keine der Personen vor sich. Dass ein 4-jähriges Kind um 16:30 ins Bett gebracht werde, sei ein Fall fürs Jugendamt oder Lektorat. Die Enden seien blödsinnig. Als Krönung stolpere der rechte Polizist über einen Stolperstein – das sei das Niveau. Er fragte sich, wie jemand, der schreiben könne, so ein grässliches und schlampiges Buch in die Welt setze. Details stimmten nicht (Nebel/Wolken-Beispiel). Vor allem sei es sterbenslangweilig, zielloses Gelaber und nicht lustig.
Hilmar Klute fiel es schwer, den Roman zu verteidigen, aber er sah die Figuren anders. Es möge überkonditioniert sein und ein dramaturgisches Problem geben durch die ausführlichen Anfangsporträts. Er finde, die Geschichte beschreibe schön und in einer sehr guten Sprache eine Erschöpfungsgesellschaft, deren Diskurse am Ende seien. Alles sei in einer Übergangssituation. Die Sprache sei wunderbar, ironisch, sarkastisch, aber mit Empathie für die Personen. Es sei ein Roman der Echtzeit, synchron zu unserer Zeit.
Thea Dorn war ebenfalls ratlos bei diesem Buch. Es erinnere sie an Manns ironisches Zitat über den Zauberberg als »mystisch humoristisches Aquarium«, wobei hier das »mystisch« fehle und es ein »humoristisches Aquarium« ohne Fische sei. Das US-Cover mit einer Illustration aus »Gefährliche Liebschaften« habe ihr geholfen zu verstehen, dass es vielleicht ein »Gefährliche Liebschaften der Jetztzeit« sein wolle. Das habe ihr aber nur mehr Augenrollen beschert, da »Gefährliche Liebschaften« formal konsequent sei, Nels aber ihr Erzählhandwerk nicht im Griff habe. Nach anfänglich kapitelweisen Perspektiven führe die Struktur durcheinander, wenn die Figuren sich begegnen. Ihr Eindruck sei, es sei ein »Kessel Berliner buntes für amerikanische Touristen«. Radisch ist erstaunt über die hervorragenden Kritiken in der New York Times und im Guardian. Vielleicht seien die Deutschen empfindlich, weil sie sich als Berliner betroffen fühlten und die Karikaturen lächerlich fänden. Für Amerikaner schienen es normale Porträts zu sein. Einen gelungenen Charakter gebe es, so Eilenberger: den Hund Fisti Faustpudel, der wahnsinnig lustig sei, aber nur, weil er nichts sagen dürfe.
Wolfram Eilenberger sah das Buch auch als eines über abgerissene Expats in Berlin, nomadische Existenzen. Es gehe um Zelte, transparente Räume, Orte, die man nicht als Heim empfinden könne. Das führe nirgendwohin, werde totgelabert, sei ideenfrei. Die Autorin lasse ihre Helden am Ende duschen, was auch sein Impuls nach dem Buch gewesen sei.
Hilmar Klute stand zu dem Buch und fand es sehr amüsiert. Er fand die Sprache schön und fragte, warum man sich den Blick einer amerikanischen Autorin auf die Stadt und ihre Leute nicht gönnen solle. Vielleicht habe sie ja recht. Er sah zwei interessante Erzählmodelle amerikanischer Autoren über Europa. Sie wüssten sehr viel über uns, unsere Gesellschaft, unsere Müdigkeiten, Disruptionen, Traurigkeiten. Kushner habe es für Frankreich, Nels für Deutschland getan. Er hätte gerne mehr solcher Perspektiven aus den USA und mochte Ironie und Sarkasmus des Buches.
Thea Dorn fasste die Diskussion über dieses Buch mit »We agree to disagree, zumindest drei agree« zusammen. Sie bedankte sich bei den Gästen und den Zuschauern und riet wie immer, noch ein wenig »am Lesen« zu bleiben.
Uns Sie? Haben Sie den Beitrag tatsächlich bis hier hin gelesen?
Wolfgang Tischer
Link ins Web:
- Video: Das Literarische Quartett vom 16.05.2025 in der ZDF-Mediathek, die jetzt nur noch »ZDF« heißt
- Audio: Das Literarische Quartett vom 16.05.2025 in der Deutschlandfunk Audiothek und als RSS-Feed
Die in der Sendung vom 16.05.2025 besprochenen und erwähnten Bücher:
- Thomas Mann; : Der Zauberberg: Roman. Taschenbuch. 1991. FISCHER Taschenbuch. ISBN/EAN: 9783596294336. 20,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
- Emmanuel Carrère; Claudia Hamm (Übersetzung): Ich lebe und ihr seid tot: Die Parallelwelten des Philip K. Dick. Gebundene Ausgabe. 2025. Matthes & Seitz Berlin. ISBN/EAN: 9783957578815. 28,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
- Rachel Kushner; Bettina Abarbanell (Übersetzung): See der Schöpfung: «Ein Meisterwerk! Ein Ideenroman und zugleich ein perfekter Thriller. Das reine Lesevergnügen.» Das Literarische Quartett. Gebundene Ausgabe. 2025. Rowohlt Buchverlag. ISBN/EAN: 9783498002411. 26,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
- Nell Zink; Tobias Schnettler (Übersetzung): Sister Europe. Gebundene Ausgabe. 2025. Rowohlt Buchverlag. ISBN/EAN: 9783498007362. 24,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
schöne nacherzählung, immerhin.
Schreiben Sie über das Literarische Quartett bitte wieder so wie bisher.
Aber Sie haben es, wie schon erwähnt, gut nacherzählt. Es wirkt auf die Art nicht ganz so nervig, wie es mir vorkam. Am schlimmsten beim Zauberberg. Zwanghafte Gegenwartsbezüge.
Lustig fand ich die Empörung über das Berlin-Buch. Insgesamt geht es mir wie fast immer: die vorgestellten Bücher können mein Interesse nicht wecken. Der Zauberberg steht natürlich drüber.
Ich habe den Kommentar tatsächlich Satz für Satz und bis zum Ende gelesen.
Tatsächlich wollte ich möglichst unbefangen sein und schaute mir erst die Bücher an,
hörte dann das literarische Quartett als Podcast
und las jetzt den Kommentar im Literaturcafe dazu.
Das nochmal nachzulesen, statt nur zu hören, ist schon nicht verkehrt, weil man mehr Zeit hat über die Thesen und die eigene Meinung nachzudenken.
Natürlich würde ich mir in einem Kommentar eine weitere Meinung oder zusätzliche Infos erwarten, denn ein Transkript kann ich schon bei Spotify nachlesen.
Und ein vollständigeres noch dazu.
Ich verstehe den beleidigten Tonfall gegenüber uns Lesern auch nicht ganz und was er bezweckt.
Diese Folge des literarischen Quartetts konnte ich genießen, weil der Diskussionsstil angemessen war.
Trotz Abitur und ein paar Semestern Philosophie, konnte ich manchen Aussagen nicht folgen, und zähle mich daher zum niederen Volk und nicht zur primären Zielgruppe.
Aber eine kurze Erläuterung oder zumindest ein Tip zur Recherche seitens der Moderation, hätten mir sehr geholfen und mich sehr gefreut.
Gab es schon einen Blick hinter die Kulissen des literarischen Quartetts?
Wie werden die Gäste ausgesucht und wie die Bücher? Vielleicht gibt es da einen Zusammenhang?
Mit der Auswahl der Bücher war ich diesmal sehr zufrieden: ein Klassiker, eines, das AUCH unterhaltsam ist, ein sehr gewöhnliches Buch und ein (US) Bestseller.
Ich bin rundum zufrieden und freue mich auf die nächste Folge des LQ — und auch auf den Kommentar des literaturcafes dazu.
Garstigkeit nutzt sich ab und ist nicht mehr originell, wenn man sie überstrapaziert.
Da ist es angenehm und erfrischend, wenn es auch mal freundlich oder sachlich bleibt.