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Textkritik: Zweifel – Prosa

Eine Textkritik von Malte bremer

Zweifel

von Deef
Textart: Prosa
Bewertung: 4 von 5 Brillen

Wenn man eine Frau kennen lernt, dann hat sie etwas Neues, Unberührtes und Geheimnisvolles. Ihre Seele ist wie ein zugefrorener See, bei dem die Eisschicht die Sicht auf den Grund verwehrt. Und ihr Körper ist wie ein verpacktes Geschenk. Man kann den Inhalt anhand der Maße und des Gewichts abschätzen, aber was wirklich drin steckt, bekommt man erst zu sehen, wenn man das Papier entfaltet.
Ich hatte sie vor zwei Wochen zum ersten Mal gesehen und jetzt lag sie auf meinem Bett. Sie sah sehr gut aus, wie sie da lag. Ihre Haare waren auf dem Kissen ausgebreitet. Ich kniete neben ihr und sah sie an. Wir hatten unsere Kleider noch an. Keiner sagte etwas. Ich versuchte alles zusammenzutragen, was ich bisher von ihr wusste, und es zu beurteilen. Vermutlich tat sie das Gleiche. Der Haken an der Sache war: Man wusste nie, ob ich man jemanden schon genug kannte, um es zu riskieren. Sich darauf einzulassen, verletzt zu werden, ist eine gefährliche Sache. Andererseits schlummerten vielleicht Dinge in dieser neuen Frau, die man gar nicht wissen wollte.
Ich war mal mit einer Krankenschwester zusammen. Ich liebte sie sehr und sie mich auch. Eines Tages, wir waren gerade ein Jahr zusammen, erzählte sie mir, dass sie vor vier Jahren beinahe vergewaltigt worden wäre. Die Geschichte erhielt für sie eine ganz neue Bedeutung, als sie herausbekam, dass der Täter ein Saufkumpan ihres Vaters war. Ihr Vater hatte das Leben seiner Tochter genau vorgeplant. Und in seinem Plan war Entjungferung im Alter von 16 fällig und zwar mit einem Mann seiner Wahl. Ich war schockiert. Und ich war mir um so deutlicher ihrer Liebe bewusst. Sie hatte mir die schlimmste und intimste Geschichte Ihres Lebens erzählt und mir somit ihr uneingeschränktes Vertrauen gezeigt. Kurze Zeit später trank sie sich auf einer Party einen an und erzählte die Story einem Typen, der zufällig neben ihr saß.
Die Frau, die auf meinem Bett lag, war schwer zu beurteilen. Sie war wunderschön. Von einer gewissen Perspektive aus. Sie schminkte sich nicht und sie trug keine allzu femininen Kleidungsstücke. Dem Anschein nach hatte sie allerhand gelesen. Von früheren Beziehungen sprach sie kaum und im Moment lag sie einfach nur da. Das einzige Aktive an ihrem Körper waren ihre Augen. Sie versuchten in meinem Gesicht zu lesen. Sie wartete offensichtlich auf einen ersten Schritt von mir. In mir kämpfte der Wunsch das Geschenk auszupacken, den Inhalt zu befühlen, daran zu schnuppern und schließlich an der richtigen Stelle hineinzubeißen. Andererseits hatte ich keine Lust alles alleine zu machen.
Vor einiger Zeit saß ich in einer warmen Sommernacht in einem Studentencafé mit nichts als einem Feuerzeug und einer vollen Schachtel Zigaretten. Vier Stunden und 15 Zigaretten später öffnete ich einer neuen Bekanntschaft die Beifahrertür meines Wagens. Ich war unerfahren und fühlte mich auch so, denn sie wusste genau was sie wollte. Sie lotste mich zu ihrer Wohnung, führte mich in ihre Dusche und gab mir Seife und ein Handtuch. Als ich aus der Duschkabine trat, stellte ich fest, dass sie meine Kleider mitgenommen hatte. Ich wickelte mir das Handtuch um die Hüfte und trat in den Flur. Sie rief mich aus dem Schlafzimmer. Ich betrat den Raum, in dem ein riesiges Bett stand und einige Kerzen brannten. Sie trug nur noch einen seidenen Slip und einen knappen Büstenhalter. Ich staunte so sehr über die Situation, mich und sie, dass ich nicht in der Lage war, abzuschätzen, wie das hier weitergehen würde, obwohl es offensichtlich war. Ich setzte mich aufs Bett. Sie kicherte und ihre Hände bewegten sich flink auf ihrem Rücken und öffneten den BH-Verschluss. Ich atmete ein und aus und dann hatte sie auch den Slip ausgezogen. Im Gegensatz zu den meisten Frauen sah sie ohne Kleider noch schöner aus. Ich bekam große Zweifel. Sie kannte mich nicht. Ich war nicht schön. Also ging sie mit jedem erstbesten Typen ins Bett. Die Vorstellung verschlang nicht viel geistige Energie. Dennoch spürte ich, wie all das gestaute Blut aus meinen Schwellkörpern wich und sich in meinem Kopf sammelte. Ich brachte es in dieser Nacht nicht und am nächsten Morgen warf sie mich ohne weitere Worte aus ihrer Wohnung.
»Was denkst Du gerade?« fragte sie mich. Ich veränderte meine Position auf dem Bett. So oft ich diese Frage schon gehört habe, ich war nie darauf vorbereitet. Ich hatte mir keine clevere Antwort zurechtgelegt, die ich freundlich lächelnd präsentieren konnte. Deshalb dachte ich darüber nach, was ich wohl erklärtermaßen denken konnte. Bilder von hungernden Kindern gingen mir durch den Kopf, Jesus am Kreuz, eine Wiese voller Pusteblumen. In Ermangelung brauchbarer Alternativen versuchte ich Zeit zu gewinnen: »Was glaubst Du?« »Ich habe zuerst gefragt,« beharrte sie.
Zwei Jahre zuvor hatte ich starke Schmerzen. Ich konnte nichts essen und beim Pinkeln brannte es. Nierensteine attestierte mir eine praktische Ärztin. Obwohl ich ihr sagte, dass ich einiges an Schmerzen aushalten konnte, verschrieb sie mir ein starkes Mittel. Ich legte das Rezept auf meinen Nachtisch und mich zu meiner damaligen Freundin ins Bett. Mitten in der Nacht wachte ich auf, weil ich Glassplitter im Magen hatte. Jedenfalls fühlte es sich so an. Ich brauchte das Schmerzmittel. Mit zitternden Fingern wählte ich die Notrufnummer. »Welche Apotheke hat heute Nachtdienst?« – »Keine Ahnung«. Meine Freundin liebte mich sehr. Meine Schmerzen spiegelten sich in ihrem hübschen Gesicht wieder. Ich drückte ihr meinen Autoschlüssel und das Rezept in die Hand. Eine Stunde später war sie wieder da. Mit dem Schmerzmittel. Ich hatte mir in der Zwischenzeit die Unterlippe zerbissen. Obwohl ich die doppelte Dosis schluckte, konnte ich nicht schlafen. Sie lag in Löffelposition hinter mir und hatte ihre Arme um mich geschlungen. Von hinten streichelte sie meine Brust. Am nächsten Morgen diagnostizierte mir ein anderer Arzt eine akute Blindarmentzündung und einen weiteren Tag später lag ich in einem Krankenhausbett und mein Blinddarm im Müllcontainer. Als meine Freundin mich zum ersten Mal besuchte, brach sie spontan in Tränen aus. Die Infusionen und der Schlauch, der aus der Operationsnaht heraus zu einem Beutel mit Blut und Sekret führte, machten ihr Angst. Nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus stritten wir uns oft. Eines abends, als wir nebeneinander im Bett lagen, fragte sie mich, was zwischen uns nicht stimme. Ich wusste es genau und ich sagte es ihr. Ich sah sie nach diesem Abend nur noch ein einziges Mal, als ich einige Kleidungsstücke aus ihrer Wohnung holte. Meine Antwort hatte wahrheitsgemäß gelautet: »Du liebst mich und ich habe Dich nur gern«.
Ich atmete tief ein. Sie hatte zuerst gefragt und ich stand nun vor der Wahl, ob ich ihr das sagen würde, was sie hören wollte. Das hieße eine Lüge mehr auf meinem Kerbholz und im Gegenzug einen Punkt mehr auf meiner sexuellen Highscoreliste. Oder ich konnte ihr sagen, dass ich nicht so recht wusste, ob ich schon soweit war. Ich entschied mich für Letzteres und ignorierte damit meine allen Zweifeln zum Trotz vorhandene Erektion. Sie setzte sich auf und griff nach meinen Händen. Sie hatte ihre Augen keinen Moment abgewandt. »Doch«, sagte sie, »Du bist soweit«. Sie kannte mich kaum und ich hoffte, dass sie Recht behalten würde.

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Zusammenfassende Bewertung

So soll es sein: eine amüsant-spannende, gut komponierte Erzählung!
Diesen Text habe ich sehr gerne gelesen und gerne redigiert:
Gerne gelesen, denn ich war neugierig auf all die Erlebnisse des Protagonisten, aus denen er vergeblich Schlüsse zu ziehen versucht! Er trägt zusammen, was er von ihr weiß? Nichts da: Er trägt seine Erinnerungen zusammen, voller Zweifel, ob er dieses Mal wohl das Richtige macht! Und ob es das Richtige war – darüber erfahren wir nichts;
Gerne redigiert: Denn nur Kleinigkeiten sind es, an denen gefeilt werden muss!

Die Kritik im Einzelnen

Das ist allerdings ein Problem: was steckt im Inhalt? Das Ding an sich, quasi die Idee Inhalt? Gemeint ist doch wohl, dass im Geschenk etwas steckt, genauer: dass sich tatsächlich etwas unter der Verpackung verbirgt. Sollte dieser Satz überleben dürfen, würde ich folgendermaßen streichen:
Man kann den Inhalt anhand der Maße und des Gewichts abschätzen, aber zu sehen bekommt man ihn erst, wenn man.zurück
Hier wird es schwierig: vielleicht sollte das Geschenk besser ausgepackt sein (also Perfekt), bevor man den Inhalt erkennen kann; Menschen tragen – je nach Jahreszeit – verschiedene Schichten von Verpackung. Aber eigentlich möchte ich etwas ganz Anderes:
Ich plädiere dafür, diesen Absatz vollständig zu streichen! Weder weckt er Interesse, noch hat er etwas mit dem anschließenden Verhalten des Zweiflers zu tun; dieser Absatz könnte vortrefflich als Einleitung dienen in das tot getrampelte Kitsch-Thema »Rätsel Frau«, doch das wird zum Glück nicht behandelt! Also nochmals: ersatzlose Streichung des ganzen ersten Abschnittes; die Erzählung gewinnt dadurch nur, z.B. eine klare Rondo-Form (Jetzt – Damals – Jetzt – Damals – Jetzt – Damals – Jetzt). zurück
Sie sah aus, ich sah sie an: zur Abwechslung vielleicht ich betrachtete sie? zurück
Als ich dieses noch zum ersten Mal gelesen habe, musste ich laut auflachen: großartig, wie viel an Erwartung und Hoffnung und Scheu in diesem kleinen Wort versteckt wurde: da muss keine Absicht, kein Wunsch, kein Verlangen artikuliert werden: Wir hatten unsere Kleider noch an – das ist einfach genial! zurück
Das sollte um es zu beurteilen heißen, schließlich ist Zusammentragen und Beurteilen nicht eine einfache Addition von Tätigkeiten, sondern das Zusammentragen dient einzig und allein dem Zweck, das Ergebnis zu begutachten. zurück
Hat Ich das nötig, sich hinter man zu verstecken? Aber nicht die Bohne! Weg also mit diesem und dem nächsten man – neben dem ist sinnig-irrtümlicherweise sogar noch ein ich vorhanden! – her mit dem Ich! zurück
Jetzt wird es heikel: was zu riskieren hat Ich Bedenken? Gedanklich etwas zu beurteilen birgt lediglich das Risiko, sich zu irren – und das ist völlig ungefährlich, solange der Irrtum brav in den eigenen Hirnwindungen furiert (? untauglicher Versuch, Furore-Machen in ein starkes Verb zu wandeln; wo aber kann ich üben, wenn nicht hier?)! Das Risiko beginnt erst, wenn jemand mit seinem Urteil andere irrtümlich verletzt; doch Ich hat Angst, selbst verletzt zu werden: das kann aber weder mit der Beurteilung noch mit ihrer Äußerung etwas zu tun haben!
Hier fehlt ein Zwischenschritt, den nur der Autor selbst setzen kann! zurück
Es gilt auch hier: persönlich bleiben, also das Ich betonen; das man zum Teufel schicken! zurück
Dieses mal ist Umgangssprache; bisher hatte ich nicht den Eindruck, als wolle sich der Text bewusst auf dieser Ebene bewegen; die Sprache wird lediglich einfach gehalten; deswegen empfehle ich wieder einmal einmal (statt mal) zurück
Im vorvorletzten Abschnitt hatte der Protagonist das beurteilen wollen, was er an Wissen von der Frau zusammengetragen hatte; hier wird die Frau selbst zum Objekt seiner Beurteilung! Für mich ist das nicht dasselbe, nicht einmal das gleiche. Entweder präsentiert Ich hier das Ergebnis seiner Beurteilung, oder er tut etwas ganz Anderes, indem er beispielweise die Frau einschätzt. zurück
Auch hier bitte ich um etwas Hochsprachliches: allein – Danke! zurück
Wie lange ist vor einiger Zeit? Umfasst das mehrere Jahre? Mindestens zwei Sommer müssten verstrichen sein, damit das Folgende Sinn macht. Ich würde kürzen und ändern, um auch das doppelte in zu eliminieren:
Während einer warmen Sommernacht saß ich einmal in einem Studentencafé. Einmal ist unbestimmter als vor einiger Zeit. zurück
Mir gefällt das und zwischen den flinken Fingern und dem BH-Verschluss nicht: die Absicht der Kichernden war doch, ihren BH auszuziehen, und nicht, ihre Fingerfertigkeit auf ihrem Rücken zu demonstrieren! Warum also soll sie nicht schlicht kichernd und mit flinken Fingern ihren BH-Verschluss öffnen? zurück
Was jetzt folgt, sind keine Zweifel, sondern es ist eine Schlussfolgerung angesichts des eigenen Mickertums; der Protagonist hätte Zweifel bekommen können, ob die Fingerflinke tatsächlich ihn meint oder nicht doch eher sein Gemächte, aber dann hätte er zuvor überzeugt sein müssen, dass sie ihn meint; darüber ist im Text jedoch nichts zu finden. Hier tut Überarbeitung Not! zurück
Was heißt an dieser Stelle erklärtermaßen? Nichts ist von ihm gesagt (erklärt) worden, sondern er denkt nach; was denkt er nach? Er denkt nach, was er denken konnte; das wiederum geht grammatisch nicht: Flinkfingers Frage ist vorbei, und desgleichen der Zeitpunkt, an dem er etwas gedacht haben könnte. Heißen könnte es richtig zum Beispiel:
Deshalb dachte ich darüber nach, was ich passenderweise hätte gedacht haben können. zurück
Mir ist nicht bekannt, was der Protagonist als Nachtisch zu sich zu nehmen pflegt, ich glaube aber nicht, dass Rezepte dazu gehören. Könnte es sein, dass hier ein kleines t heimtückisch-heimlich sich auf und davon gemacht hat? Ein Nachttisch als Ablage für Rezepte dagegen deucht mich ein vernünftig Ding! zurück
Es ist nicht wahr, dass der Protagonist seine Erektion ignorierte, denn erstens hat er sie ja gespürt und zweitens hätte ihm ein Ignorieren keinen Vorteil gebracht, schließlich war er nicht allein; was er aber getan hat: er hat sie offen verleugnet gegenüber dem Frauenzimmer auf seinem Bett! Und das muss er jetzt büßen. zurück

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