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Textkritik: Tiefschlag – Prosa

Eine Textkritik von Malte Bremer

Tiefschlag

von Peter Hochapfel
Textart: Prosa
Bewertung: 4 von 5 Brillen

Langsam und verschlafen fielen von weither die Schläge der Turmuhr in die summende Mittagsstille. Auf den Platten der Terrasse tanzten Sonnenkringel, ein paar Schmetterlinge taumelten träge über die Wiese. Blitzende Fliegen zuckten lautlos vorbei. Hin und wieder ließ eine Grasmücke ihren schwirrenden Ruf hören: Dornröschenzeit! – Ich schaute dem Rauch meiner Pfeife nach, wie er langsam durch die Weiden- und Haselnussbüsche zog und sich über den Gartenzaun verlor. Stille. Träge, verschlafene Stille. Nur in der Küche hörte ich meine Königin hantieren. Das ist Tao, dachte ich. So hatte ich mir die Stille immer vorgestellt. Erst diese vertrauten Geräusche machten sie hörbar. Stille ist belebte Ruhe zwischen Lauten; absolute Stille ist tot.

* * *

Ich hätte stundenlang so sitzen und meinen Gedanken nachhängen können, aber wenn meine Königin mit Geschirr klapperte, bedeutete das, dass ich gleich zum Essen gerufen wurde. Und nach dem Essen würde ich wieder an die Arbeit gescheucht. (Nicht, dass ich ungern arbeite. Es muss mir nur flüssig von der Hand gehen; Geduld ist noch nie meine starke Seite gewesen.)
»Essen ist fertig; kannst kommen!«
»Weißt du was, wir könnten bei dem herrlichen Wetter auf der Terrasse essen«, schlug ich vor. »Ich helfe dir schnell die Sachen raustragen. Womit werde ich denn heute verwöhnt?«
»Dampfnudeln. Ich dachte, ich mach’ dir eine Freude damit.« Und schon war sie wieder auf dem Weg in die Küche.
Mir lief bei dem bloßen Gedanken das Wasser im Mund zusammen. »Aber bitte mit viel Buttersauce; und vergiss den Zimt nicht«, rief ich ihr nach.
Auf dem Tisch das gewürfelte Tischtuch, darauf die Schüssel mit den Dampfnudeln; im Schatten der Bäume, die Lichtflecke über sie spielen lassen : meine Königin – strahlend.
»Du strahlst ja so, ist irgendwas?«
»Ich freue mich nur, wenn ich höre (»sehe«, verbesserte sie schnell), wie es dir schmeckt.« Und strahlte weiter, jetzt nur eine Spur süffisanter. »Iss nur tüchtig, es sind genug Klöße da. Ich darf nicht so viel essen.«
Irgendwie kam ich mir ertappt vor. Aber bei Dampfnudeln kann ich einfach nicht bremsen. (Ich gelte sowieso als der Familienvielfraß, obwohl ich schlank wie ein Aal bin : Arbeit zehrt eben – auch geistige.)
Ich schämte mich gebührend und wollte eben wieder zu meinem Buch greifen, aber die Königin hatte mich durchschaut.
»Du wolltest doch mähen, heute.«
Mist! Dass ihr das ausgerechnet jetzt einfallen musste. Kein Feingefühl!
»Jedes Tier legt sich nach dem Fressen hin und verdaut. Guck dir die Kühe auf der Weide an.«
»Ich wusste gar nicht, dass du ein Ochse bist.«
»Wenn ich bei der Hitze mähen würde, wäre ich einer«, maulte ich. »Ich habe schließlich noch anderes zu tun.«
»Ach ja, du musst ja joggen«, sagte sie. Der Spott in ihrer Stimme war unüberhörbar.
»Ich habe noch nie im Leben >Jogging< betrieben. Im Übrigen könntest du auch >Waldlauf< sagen – immer diese dämlichen Modewörter!«
»Du solltest keinen Waldlauf machen; ich meine Komma-Jogging«, sagte sie und sah mich dabei so komisch an.
»Was soll denn das heißen«, erkundigte ich mich misstrauisch. »Du hast doch irgendwas.«
»Abwarten«, sagte sie, zog mich ins Wohnzimmer, drückte mich in den Sessel und legte eine Cassette auf. Dann setzte sie sich mir gegenüber und beobachtete mich.
Ich war sprachlos. >Meditation< – und das mir! Ich bin doch kein Fakir. Aber es kam noch dicker. Meine Königin grinste und drehte die Cassette um. »Pass schön auf, jetzt kommt dein >Komma-Jogging<.«
Meine Königin musste den Verstand verloren haben: ich war doch kein Sonderschüler! Wollte sie mich veräppeln?
»Eigentlich kann ich gar nicht darüber lachen«, sagte ich gereizt. »Wer, um Himmels willen, hat dir denn das angedreht?«
»Mir hat das keiner ‘angedreht; das ist für dich – von deinem Sprach-Kindergarten.«
So perplex war ich selten gewesen. Aber dann schob sie mir das Begleitschreiben über den Tisch, und ich las mit eigenen Augen, was ich nicht für möglich gehalten hatte.

* * *

Das hatte ich also davon, dass ich mich – aus Zweifel an meinem eigenen Können – zu einem Fernlehrgang im Schreiben angemeldet hatte! >Individuelle Betreuung< war mir da versprochen worden, >von Profis, die ihr Handwerk verstehen<. Und dann kam diese Cassette, auf der man mir mithilfe einer unglaublich einfältigen Geschichte beibringen wollte, wie man mit Satzzeichen umgeht.
Ich saß wie ein begossener Pudel da und wusste nicht, ob ich lachen oder mich ärgern sollte. Meine Königin glaubte doch nicht etwa, dass ich auf so etwas angewiesen war!
»Willst du nicht doch den Rasen mähen?« fragte sie. »Von so einem Tiefschlag erholt man sich am besten mit etwas körperlicher Arbeit.«
Ich ging in den Schuppen, wetzte grimmig die Sense und ließ meine Wut an der Wiese aus. Schwaden um Schwaden fiel, und nach kurzer Zeit hatte ich mein Pensum geschafft. Aber auch mein Ärger war verflogen. Schweißnass streifte ich das Gras von der Klinge und zog mich aus, um mich zu duschen.
Durch den Vorhang erkannte ich die süßen Konturen meiner Königin.
»Du kannst ruhig reinkommen und mir den Rücken waschen. Aber pass auf, dass du nicht ausrutschst«, rief sie durch das Sprudeln und Plätschern.
Mit einem Ruck schob ich die Milchglastür zur Seite und nahm sie in die Arme. Sie legte den Arm um meinen Nacken, während sie mit der anderen nach dem Wasserhahn tastete.
Plötzlich blieb mir die Luft weg, so eiskalt strömte mir das Wasser über den Körper. Vor der Duschkabine stand meine Königin und schüttete sich aus vor Lachen.
»Ich dachte, dass dir nach dem Tiefschlag und dem Mähen eine kalte Dusche gut bekommen würde«, zwitscherte sie, warf mir ein Handtuch zu und zog mich ins Schlafzimmer.

* * *

»Ooooch«, stöhnte sie, »das war himmlisch, wo hast du das nur gelernt?«
»Wer so eine Frau wie dich hat, der braucht das nicht erst zu lernen«, sagte ich. »Du beflügelst meine Fantasie.«
Sie beugte sich über mich. »Na, dann gib deinem Affen mal Zucker und zeig mir, dass du noch mehr Fantasie hast – an der Schreibmaschine, meine ich. Bis zum Abendbrot will ich mindestens vier Seiten lesen.«
Ich werde mich wohl an die Arbeit machen müssen.

© 2003 by Peter Hochapfel. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Locker-flockig-leicht erzählt wird durchaus selbstironisch und sehr anschaulich eine ganz einfache Geschichte: unterhaltsam!
Satzzeichenfehler konnte ich keine entdecken: der Erzähler braucht diese Therapie sicher nicht, auch sonst ist er sehr stilsicher; schön, dass der Tao-Fachmann gleichzeitig für sich persönlich Meditation weit von sich weist. Unklar ist mir die tiefere Bedeutung der Überschrift Tiefschlag: die Erzählung fängt idyllisch an, hört (fast) idyllisch auf, zwischendrin wird heftig gearbeitet und geliebt; zu dem angeblichen Tiefschlag – seine Königin nimmt dieses Wort immerhin 2x in den Mund – habe ich mich schon geäußert. Vielleicht ließe sich dem Tao eine Überschrift abgewinnen, dem Annehmen der eigenen Natur, dem daraus folgenden Nichts-Tun, denn trotz allen Tao-Wissens ist der Protagonist von Güte, Ruhe und Gelassenheit sehr weit entfernt, man denke nur an das verbrecherische Sensen…

Die Kritik im Einzelnen

Das riecht alles nach Idylle und schrammt gekonnt hart am Kitsch vorbei – und wer das anders sieht, wurde ja gewarnt, der Titel heißt ja schließlich Tiefschlag. Und je idyllischer die Idylle, desto tiefer der Tiefschlag. zurück
Wann hat der Protagonist gelesen? Er hat der Stille gelauscht, seiner Königin geholfen, Dampfnudeln verspeist. Vielleicht hatte dabei beständig ein Buch in der Hand gehalten, das er beim Dampfnudelessen aus technischen Gründen beiseite legen musste? Wir wissen es nicht, da muss der Erzähler eingreifen, indem vorher ein Buch eingeführt wird oder jetzt (dann kann es nicht wieder heißen). zurück
Hier ist also der angebliche Tiefschlag: eine alberne Cassette von einem nicht minder albernen Institut. Oder war der Tiefschlag, dass die Königin seine Post geöffnet und gelesen hatte und wusste, was sie ihm antat? Immerhin hatte er versucht, sich mithilfe eines Buches vor der Arbeit zu drücken, was sie vereitelt hat. zurück
Schwaden? Heißt das beim Sensen wirklich Schwaden, was da bei einem Streich produziert wird? Schau an: es heißt sowohl die Schwade als auch der Schwaden (weiß der Duden; mein Brockhaus kennt dafür nur der/die/das Schwad). Da schau her: wieder was gelernt! zurück
Merken Sie sich, dass hier ein Vorhang eine wichtige Rolle spielt! zurück
Warum nimmt der Protagonist bloß die Milchglastür in die Arme? Vielleicht will er sich bei ihr entschuldigen, wo er sie doch gerade so rüde behandelt hat. Besser wäre es, er nähme seine Königin in die Arme, denn die kann einen der ihren anschließend um seinen Nacken gehen – das kann ein Griff oder Knauf oder eine Griffleiste einer Milchglastür gewiss nicht leisten!
Was mich aber irritiert: wo ist eigentlich der Vorhang abgeblieben (den Sie sich ja haben merken sollen! Wie, vergessen? Marsch zurück!)? Abgerissen, verkauft, vergessen? Aber Hallo… zurück
Diese Tonlage behagt mir miss nach diesem heftigen Lachanfall – das hätte ich gerne etwas atemlos oder gerade noch im Lachen begriffen oder neutral, auch wenn ganz zu Anfang sich ebenfalls ein Vogel hat vernehmen lassen (es war die schwirrende Grasmücke, nicht etwa die Lerche). zurück

© 2003 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.