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Textkritik: Der gelbe Schirm – Prosa

Eine Gastkritik von Nicole Thomas

Der gelbe Schirm

von Claudia Weigel
Textart: Prosa
Bewertung: 2 von 5 Brillen

Wie jeden Sonntagmorgen ging er in den nahegelegenen Park. Es war ein trüber Tag, aber er war in Hochstimmung. Er ging durch die baumbestandenen Alleen und steuerte direkt auf eine Bank zu. Es war seine Bank, jeden Sonntag zwischen 10 und 11 Uhr. Eine andere Bank wäre für ihn nicht in Frage gekommen, denn nur hier konnte er sie sehen. Sie kam auch jeden Sonntag um diese Zeit in den Park. Er kannte sie nicht, aber wegen ihr kam er her. Er hatte sie das erste Mal vor zwei Jahren gesehen und ihm war direkt ihr gelber Schirm aufgefallen. Sie trug ihn in der rechten Hand und zuweilen ließ sie ihn vor und zurück schnellen, so als würde sie spielen wie ein Kind, dabei schien sie ihm viel zu alt für ein Kind. Wie alt sie wirklich war, wusste er nicht, denn er hatte noch nie mit ihr gesprochen. Der Gegensatz zwischen der spielerischen Art, wie sie mit ihrem Schirm umging, und ihrem melancholischen Gesichtsausdruck war für ihn faszinierend gewesen. Sie schien sehr in Gedanken versunken und er hatte zugesehen, wie sie am Teich stehen geblieben war und dort einige Zeit auf das Wasser gestarrt hatte. Seit diesem Tag hatte sie sich einen Platz in seinen Gedanken erobert. Am nächsten Sonntag war er wieder in den Park gegangen, obwohl er eigentlich keine Zeit hatte, aber er wollte wissen, ob sie vielleicht wiederkäme. Er kam sich blöd vor und wollte schon wieder gehen, als er sie plötzlich sah. Sie trug wieder den gelben Schirm, obwohl das Wetter gut war und kein Regen gemeldet war. Er hatte sich gefreut sie zu sehen, und nachdem sie den Park verlassen hatte, ging er auch. Seitdem gab es für ihn dieses sonntägliche Ritual. Seinen Freunden hatte er davon nichts erzählt, denn er fürchtete, sie würden ihn auslachen oder ihm Vorwürfe machen, dass er eine fremde Frau beobachtete. Ihm war selbst schon der Gedanke gekommen, dass er nicht ganz normal war. Normalerweise hatte er kein Problem damit eine Frau, die ihm gefiel anzusprechen, aber hier war es anders. Er wollte sie nicht stören, wollte nicht aufdringlich sein. Ihr Gesichtsausdruck war stets der selbe gewesen: traurig und abwesend. Er fragte sich, was wohl der Grund für ihre Traurigkeit war und warum sie immer zur gleichen Zeit in diesen Park kam, eine Zeitlang in den Teich blickte und dann wieder ging. Er hatte schon oft überlegt, ob er ihr folgen sollte, aber hatte den Gedanken immer wieder fallengelassen. Er war schon so was wie ein Voyeur, aber sie verfolgen, das wäre zuviel gewesen. Was, wenn sie ihn bemerkte und Angst bekam? Dann würde er sie nie wieder sehen und das wäre ein zu hoher Preis gewesen für seine Neugier. Er wusste nicht, ob sie ihn schon einmal wahrgenommen hatte, aber er glaubte es nicht. Sie hatte noch nie jemanden angeblickt, der ihren Weg kreuzte, deshalb war er sich sicher, dass sie auch ihn noch nie bemerkt hatte.
Er saß auf seiner Bank und wartete, aber er konnte sie nirgends entdecken. Nach einer Stunde des Wartens war er sicher, dass sie nicht mehr kommen würde. Seine gute Laune war ihm vergangen und er machte sich auf den Weg nach Hause. Die ganze folgende Woche konnte er sich auf nichts anderes konzentrieren, als auf den Gedanken an die Unbekannte aus dem Park. Es hatte fast jeden Tag geregnet, und wenn er irgendwo einen gelben Schirm gesehen hatte, zirkulierte Adrenalin pur in seinen Adern, aber sie war es nie gewesen. Am Sonntag wusste er nicht was er tun sollte. Was, wenn sie wieder nicht käme und er sinnlos eine ganze Stunde im Park vertrödeln würde? Er hatte genug zu tun. Andererseits könnte es sein, dass sie wieder da sein würde. Vielleicht war sie ja krank gewesen. Seine Obsession war stärker, er zog seinen Mantel an und ging los. Als er auf die Bank zu ging, sah er sofort, was anders war als sonst: der gelbe Schirm lag auf der Bank. Weit und breit war niemand zu sehen. Er beschleunigte seine Schritte, blieb dann vor der Bank stehen und sah den Schirm an. Er hatte keinen Zweifel, dass es ihr Schirm war. Warum lag er hier? Ob sie ihn hier hin gelegt hatte, um ihm eine Botschaft zu hinterlassen? Er nahm den Schirm in die Hand und drehte ihn unschlüssig hin und her. Dann entschloss er sich ihn zu öffnen, weil er hoffte das würde ihm einen Aufschluss über seine Besitzerin geben. Ein kleiner Zettel fiel heraus. Er hob ihn auf und faltete ihn auseinander.
In einer großen, eleganten Schrift stand darauf geschrieben: »Sie haben sich bestimmt gefragt, ob Sie mir aufgefallen sind. Ich habe Sie bemerkt bei meinen Spaziergängen und bin froh, dass Sie mich nie angesprochen haben. Ich werde nicht wiederkommen und möchte Ihnen Lebewohl sagen.« Er faltete den Zettel wieder zusammen, klemmte sich den Schirm unter den Arm und ging nach Hause. Er war gleichzeitig traurig und erleichtert, dass es vorbei war. Sein Leben ging seinen gewohnten Gang weiter und er dachte immer seltener an sie, aber in den Park war er trotzdem nie wieder gegangen.

© 2003 by Claudia Weigel . Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Die folgende Kritik (Zusammenfassung und Einzelkritik) stammt erneut nicht von mir, Malte Bremer, sondern von Nicole Thomas. Mehr dazu und zu ihrer Person findet sich hier. Jetzt aber zu »Nicoles Meinung«:

Positiv hervorzuheben ist, dass der Leser hier seine Fantasie spielen lassen kann.
Leider ist der Text insgesamt ziemlich langatmig geraten. Werden die Ungereimtheiten und der ganze überflüssige Ballast herausgekürzt sowie der undifferenzierte Umgang mit den verschiedenen Vergangenheitsformen korrigiert, dürfte sich der Lesespaß deutlich steigern.

Die Kritik im Einzelnen

Das Wort »Allee« bezeichnet eine von Bäumen gesäumte Straße, das vorangestellte baumbestanden ist somit überflüssig. zurück
Das Possessivpronomen halte ich für nicht ganz angemessen, es sei denn, er hat diese Bank für die fragliche Zeit tatsächlich gemietet oder gepachtet. Besser wäre eine Umschreibung wie: Auf dieser Bank saß er jeden Sonntag zwischen zehn und elf Uhr. zurück
In diesem Satz fallen mir mehrere Dinge auf. Zum einen ist der komplette Satzbeginn im Grunde genommen nicht erforderlich, dass eine andere Bank für ihn nicht in Frage gekommen wäre, ist nämlich schon aus dem Besitzanspruch ersichtlich, den er auf diese Bank ableitet. Zum anderen erscheint mir dieses nur hier ein wenig missverständlich, könnte man daraus doch auch schließen, dass der Beobachter sein Zielobjekt tatsächlich einzig und allein nur von exakt diesem Punkt aus sehen kann. Dabei bewegt sich die Frau doch wohl gut sichtbar durch den Park, so dass es da bestimmt noch andere Stellen geben dürfte, an denen er freies Blickfeld auf die Dame hätte. Besser wäre da schon: Von einer anderen Bank aus hätte er sie nicht sehen können. Andererseits wäre auf diese Weise dreimal binnen kürzester Zeit das Wort Bank wiederholt worden, insofern wäre es eine Überlegung wert, ob man diesen Satz nicht mit dem vorhergehenden verbinden könnte: Hier saß er jeden Sonntag zwischen zehn und elf Uhr, denn von einer anderen Bank aus hätte er sie nicht sehen können. zurück
Das wirft ja mal ein ganz neues Licht darauf, was Männern an einer Frau so alles auffällt. Nein, im Ernst: Ich glaube gern, dass ein gelber Schirm ein auffälliges Accessoire darstellt, aber dieses direkt erscheint mir hier doch etwas zu stark. Meine Empfehlung wäre, es in diesem Satz bei Er hatte sie das erste Mal vor zwei Jahren gesehen zu belassen, und den Schirm erst im nächsten Satz zu erwähnen. zurück
Verstehe ich nicht. Allein schon aufgrund des Größenunterschieds ist ein Kind für gewöhnlich leicht von einem Erwachsenen zu unterscheiden. Ist die Frau denn auffallend klein? Falls nicht, ist die spekulative Formulierung dabei schien sie ihm viel zu alt für ein Kind vollkommen überflüssig. Den gelben Schirm würde ich, wie bereits gesagt, erst in diesem Satz erwähnen, beispielsweise folgendermaßen: In der rechten Hand trug sie einen gelben Schirm, den sie zuweilen vor und zurück schnellen ließ, so als würde sie spielen wie ein Kind. zurück
Das sehr würde ich dem Lesefluss zuliebe streichen oder, falls die Verstärkung auf jeden Fall beibehalten werden soll, durch das Gebräuchlichere schien ganz in Gedanken versunken ersetzen. zurück
Zweimal war so kurz hintereinander klingt ein wenig holprig, ich würde das erste ersatzlos streichen. zurück
Warum sollten seine Freunde ihm Vorwürfe machen? Dass sie ihn auslachen könnten, wäre ja noch denkbar, aber warum man ihm für sein Verhalten Vorwürfe machen sollte, kann ich so nicht nachvollziehen. Er sitzt doch nur ganz brav auf dieser Bank, während diese Frau nicht nur für ihn allein, sondern für andere Parkbesucher ebenfalls gut sichtbar dort vorbeispaziert. Es ist mir nicht ganz klar, was daran so verwerflich sein soll. zurück
Ich bin neugierig: Was soll das eigentlich sein, »normal«? Außerdem verstehe ich immer noch nicht, was an seinem Verhalten so überaus anstößig ist. Angesichts der Tatsache, dass der nächste Satz auch noch mit normalerweise anschließt (wie auch immer »normal« nun definiert sein mag), würde ich diesen sinnlosen Satz hier komplett streichen. zurück
Nein, ist er nicht. Er beobachtet sie ja nicht heimlich, und schon gar nicht, wie es der klassischen Definition des Voyeurs entspräche, um Lustgewinn daraus zu beziehen. Wie bereits erwähnt, spaziert die Gute da nicht nur für ihn, sondern auch für andere Parkbesucher gut sichtbar daher, und das absolut freiwillig. Mir scheint, dass der Geschichte hier ein gewisser Thrill verpasst werden soll, indem der Hauptfigur – oder besser einer der beiden Hauptfiguren – auf Biegen oder Brechen eine moralisch verwerfliche Zwangshandlung angedichtet wird. Doch alles, was letztendlich dabei herauskommt, ist Wortschinderei. zurück
So ganz logisch ist diese Behauptung nicht. Er könnte ihr hinterher laufen, herausfinden, wo sie wohnt, und zum Stalker mutieren. Und wenn sie daraufhin Anzeige gegen ihn erstattet, wird er sie vermutlich zumindest noch ein letztes Mal wiedersehen, und zwar vor Gericht. Meine Empfehlung wäre, hier ein abschwächendes vielleicht in den Satz einzuflechten, so dass die Aussage wirklich bestehen kann: Dann würde er sie vielleicht nie wieder sehen… . zurück
Sich sicher sein ist etwas anderes als glauben. Ich würde hier eine Formulierung wie deshalb nahm er an vorziehen, da so die im vorhergehenden Satz kreierte Ungewissheit beibehalten wird. zurück
Beneidenswert, wie viel Sicherheit es im Leben dieses Mannes gibt. Ich gebe zu, dass eine Stunde schon einen beträchtlichen Zeitrahmen darstellt, aber wie kann er sich denn wirklich sicher sein, dass die Schirmträgerin nicht mehr erscheinen wird? Woraus schließt er, dass sie nicht mit zwei- bis dreistündiger Verspätung noch auftauchen wird? Weitaus einleuchtender wäre beispielsweise Nach einer Stunde des Wartens gab er auf. zurück
Der Umgang mit den verschiedenen Vergangenheitsformen ist im gesamten Text etwas willkürlich, doch in diesem Abschnitt fällt es besonders störend ins Gewicht. Meine Empfehlung wäre, den gesamten Text noch einmal auf einen sinnstiftenden Umgang mit den unterschiedlichen Tempi hin zu überprüfen. Ansonsten wäre mein Vorschlag, hier und wenn er irgendwo einen gelben Schirm sah zu schreiben, da der Text so zumindest weniger holprig erscheint. zurück
Diese Beschreibung ist einerseits schon unter medizinischen Gesichtspunkten nicht haltbar – wo bitte ist das ganze Blut denn plötzlich hin verschwunden? – , zum anderen klingt sie übertrieben reißerisch, wie aus einem schlechten Action-Film entnommen. Warum heißt es nicht einfach: und wenn er irgendwo einen gelben Schirm sah, fühlte er jedes Mal einen Adrenalinstoß? Das ist für meinen Geschmack immer noch reißerisch genug. zurück
Zum einen ist die Wiederholung eines Wortes innerhalb eines so kurzen Textabschnitts langweilig und somit nicht empfehlenswert. Zum anderen ist diese inflationäre Verwendung von Hilfsverben auch grammatikalisch nicht ganz einwandfrei. Ich halte folgende Formulierung für besser: Andererseits könnte es sein, dass sie wieder da wäre. zurück
Wieder diese unnötige Dramatik. Tut es nicht auch ein simples Neugier? Oder, um eine zu häufige Verwendung des Wortes Neugier zu vermeiden: Die Ungewissheit ließ ihm keine Ruhe? zurück
Was bitte ist denn das für eine seltsame Einleitung? Sofern die Dame nicht übersinnlich begabt ist, kann sie doch wohl gar nicht wissen, dass er Interesse an ihr gezeigt hat. Sie hat ihn ja nicht einmal angesehen. Und falls sie ihn trotz gedankenversunkenen Niemals-auch-nur-Anblickens dennoch irgendwie registriert haben sollte: Was macht sie denn so sicher, dass er nicht völlig unabhängig von ihrem eigenen Erscheinen immer dort auf der Bank gesessen hat? Das muss sie doch nicht zwangsläufig auf sich beziehen, oder ist sie wirklich der Meinung, sie sei der einzige Mensch auf der Welt, der ein allsonntägliches Ritual entwickelt hat? Ein solcher Beginn des beigelegten Briefchens ist eigentlich nichts weiter als eine ziemlich egozentrische Unterstellung. Meine Empfehlung wäre, auf diesen doch etwas unsinnig anmutenden Satz zu verzichten. zurück
Wenn sie so froh darüber ist, dass er sie in Ruhe gelassen hat, warum macht sie sich dann andererseits solche Gedanken um ihn, dass sie ihm einen Abschiedsbrief samt gelbem Schirm hinterlegt? Besser wäre eine Aussage wie: …und ich fand es sehr taktvoll, dass Sie mich nie angesprochen haben. Eine solche Ausdrucksweise würde darüber hinaus auch besser mit der eleganten Schrift harmonisieren als ein vergleichsweise saloppes: …ich bin froh. zurück
An dieser Stelle würde ich den Satz unterteilen, um einen sozusagen weniger gehetzt anmutenden Schlusspunkt zu setzen und den Text folgendermaßen zu beenden: In den Park ging er trotzdem nie wieder. zurück

© 2003 by Nicole Thomas. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

© 2003 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.