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Textkritik: Sie – Prosa

Eine Textkritik von Malte Bremer

Sie

von Dieter Mickisch
Textart: Prosa
Bewertung: 2 von 5 Brillen

Seinen ersten Blick auf die Schöne erhaschte Quintus, hinter beschmiertem Fenster stehend, nur flüchtig. Die Empfehlung eines ihrer Ex-Liebhaber hatte ihn in ihre Nähe gelockt. Quintus, siebenundvierzigjähriger Hauptbuchhalter eines Kaufhauskonzerns, war seit einigen Monaten »midlife-crisis-verstört«, wie seine Freunde es ausdrückten. Immer öfter hatte er in den letzten Wochen Zeitungsinserate studiert. Annoncen. Geschaffen für diese Klientel Mann. Jetzt war er nun fast da, drängelte sich an ein anderes, noch dreckigeres Stück Glas, reinigte es mit einem seiner weichen Papiertaschentücher, von denen er mindestens fünf stets in seiner linken Hosentasche hatte. Mit neugierigen Augen glupschte er immer noch hinüber, rieb mit feuchten Händen salzige Perlen von seinem blassen Gesicht. Das verstellte ihm die Sicht, nur schemenhaft erkannte er ihre Umrisse, atmete tief ein, es roch nach Diesel, und obwohl sie ihn nicht hören konnte, flüsterte er: »Einfach herrlich.« Sie lag fast nackt auf ihrem Wasserbett.

Sein Brillengestell kratzte für den Bruchteil einer Sekunde an der Scheibe entlang. Überstürzt nahm er es ab und überprüfte es gründlich auf Beschädigungen. Brillen waren seine Leidenschaft, besonders die mit kleinen, runden, schwarz eingefassten Gläsern und leichten, schmalen Stegen. Erst vor kurzem hatte er das einzigartige Stück in dem wirklich nicht billigen Optikerladen am Markt erworben. Er konnte keine Schrammen erkennen. Gottlob. Behutsam setzte er die Sehhilfe wieder vor seine Augen. Der wunderbare Ausblick war inzwischen hinter einem Grauschleier verschwunden, der sich aus den unzähligen Wassertröpfchen seines heißen Atems auf der Fensterscheibe gebildet hatte. Im Hintergrund hörte er ein unbekanntes Signal.

Benebelt schlotterte er eine steile Treppe hinunter, humpelte, zog sein linkes Bein schwerfällig hinterher, der Abgang wurde länger und länger. »Das hält doch mein Meniskus nicht aus«, dachte er. Seine Brille. Sein Meniskus. Er hatte ihn verknackst, nicht beim Sport, nicht während der Büroarbeit und beim Sex schon gar nicht. Wie sollte man sich dabei auch das Knie verdrehen? Die Stufen hatten etwas von Unendlichkeit, wie die bohrenden Schmerzen im Knie. Im Kopf. Wenn nichts mehr weitergeht. Die letzte Stiege war erreicht. Quintus atmete tief durch. Der Dieselgeruch hatte sich verzogen, frische Luft drang in seine Nikotinlunge. Er zündete sich eine Zigarette an. Seine Brille verlangte keine Standort-Korrektur. Nur seine beständig schlechte Laune der letzten Monate lechzte nach Veränderung.

Nach ein paar Schritten war er endlich angekommen. Ganz bei ihr. Sie begrüßte ihn kühl. Das war ihre Art. Er genoss ihre Gerüche. Er genoss ihre Vielfalt. Genoss all ihre Seiten. Sie wurde seine Genossin und heimliche Liebe. Beim Abschied meinte er zu hören: Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich… und wunderte sich, dass viele ihrer ehemaligen Verehrer sie nicht mehr besuchten. Jemand rief  »Passengers to…«. Quintus beeilte sich. Zum ersten Mal nach vierzehn Tagen. Er konnte wieder laufen und lachen. Eine sonor grummelnde Fähre verschluckte ihn in ihrem riesigen Schlund. Diesmal nahm er einen Platz auf dem offenen Deck. Schmeckte die salzige Meeresluft auf seinem braungebrannten Gesicht. Im Hintergrund verschwand Texel, eine der vielen, vielen Inseln auf diesem Globus. Für ihn war sie einzigartig.

© 2003 by Dieter Mickisch. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Jammerschade! Der Anfang ist ganz brauchbaraber dann wird dieses bis zum Abwinken bekannte Hach-wie-raffiniert-ich-den-Leser-an-der-Nase-herumführen-Kann wie üblich knüppeldick aufgetragen.
Warum lässt der Autor die Zusammenhänge nicht offen, nicht mehrere Sichtweisen zu? Warum haut er dem Leser die Hinweise immer wieder penetrant um die Ohren? Oder: warum beschreibt er nicht von vornherein eine Annährung an die Insel? Schreiben kann er doch…

Die Kritik im Einzelnen

Da Quintus steht, könnte er die Schöne eigentlich genau betrachten, nicht nur flüchtig – es sei denn, die Schöne bewegte sich (was sie nicht tut, wie wir später erfahren); der Blick durch das beschmierte Fenster kann also weder flüchtig sein noch muss er erhascht werden, sondern eher ist der Schönen Anblick unscharf  oder verschliert oder brüchig  oder verschwommen oder oder  – das hängt von der Art der Beschmierung ab. Da ist der Erzähler gefordert! zurück
Das wäre ein viel besserer Erster Satz, weil er gleich zu Anfang Interesse weckt – Blicke auf Schöne oder Schönes sind viel zu alltäglich, vor allem die durch Fenster!  Der Beginn könnte sich dann zum Beispiel so lesen:
Die Empfehlung eines ihrer Ex-Liebhaber hatte Quintus in ihre Nähe gelockt: aber ein beschmiertes Fenster behinderte seinen ersten Blick auf die Schöne. zurück
Wozu dient diese ausschweifende Charakterisierung? Ist der Kerl nicht schon bedauernswert genug, wenn er dank Empfehlung eines Ex-Liebhabers auf Spannerfüßen wandert? Ich würde dringend anraten, den ganzen Sums seit dem letzten Hyperlink ersatzlos zu streichen – zumal Quintus später durch allerlei Eigenheiten viel lebendiger wird als durch all diese Schubladen! zurück
Wo bitte war er jetzt? Fast da? Er steht doch vor einem beschmierten Fenster – daer geht’s nicht mehr!  Und wozu dient das nun beim fast? Beabsichtigt er etwa, durch das Fenster zu klettern – und rauf auf die Schöne? Dann wäre er bislang tatsächlich nur jetzt nun fast da…  Empfehle wieder: Streichung! zurück
Das erste Fenster war nur beschmiert, das zweite war noch dreckiger (sofern mit Stück Glas ein weiteres Fenster gemeint ist) – aber erst jetzt fällt Quintus siedendheiß ein, das er Fenster reinigen könnte: das nenne ich eine gelungene Charakterisierung, denn es zeigt Quintus’ Gier; schön auch wird seine Buchhaltermentalität deutlich, da er immer mindestens (!) fünf Papiertaschentücher in der linken (!) Hosentasche mit sich führt; einen besseren Beweis kann der Erzähler nicht liefern, dass die von mir empfohlene Streichung der ausufernden Beschreibung tatsächlich notwendig ist! zurück
Glubschen ist in der Regel ein neugieriges Schauen (da die Augen hervorquellen) – also kann auf mit neugierigen Augen getrost verzichtet werden; zu fragen wäre vielleicht, ob glubschen stark genug ist: ich stelle mir eher einen stierenden oder starrenden Quintus vor. zurück
Ein Rätselsatz:
Erstens: Wenn Quintus sich Schweißtropfen vom Gesicht wischt, kann ihm das die Sicht nicht verstellen, sie allenfalls kurzfristig stören oder sie immer wieder behindern, abhängig vom Grad seiner Schweißproduktion. Es sei denn, die Schweißperlen wäre Schweißströme und er hätte Hände wie Schaufeln.
Zweitens:  Wenn die Sicht verstellt ist (was sie ja nicht ist), kann Quintus nicht einmal Umrisse erkennen, auch nicht schemenhaft, sondern dann sieht er überhaupt nichts! Wenn seine Sicht nur behindert ist, dann sieht er allemal mehr als schemenhafte Umrisse. Woher kommen also die schemenhaften Umrisse? Weiß ich nicht. Folge: weg mit diesem Teilsatz! Lassen wir Quintus glubschen und schwitzen und anschließend atmen. zurück
Wenn Brillen – wie wir später erfahren – seine Leidenschaft sind, wird auch ein Quintus sie niemals überstürzt abnehmen, sondern höchstens alarmiert oder erschrocken oder dergleichen (Word-Thesaurus empfiehlt unter anderem: bestürzt, aufgeweckt, beunruhigt, geängstigt, aufgefahren, erschaudert, eingeschüchtert usw. usw.: na bitte!) zurück
Weißt du wie viel Sternlein stehehen?  Stünde im Text etwa fünf Wassertröpfchens seines heißen Atems, könnte ich darüber lachen – aber unzählige Wassertröpfchen enthält genau eine nichtabzählbare Menge zu viel, ein allerobermegahyperüberflüssiges Adjektiv: weg damit! zurück
Wieso denn das? Was hat er denn zu sich genommen? zurück
Wieso denn das? Ist ihm etwa kalt? zurück
Wer sein Bein hinterher zieht, humpelt automatisch; deswegen kann kein Mensch humpeln und sein Bein hinterher ziehen, sondern er humpelt, weil er sein Bein hinterher zieht. Das hat was mit sprachlich-inhaltlichen Zusammenhängen zu tun. zurück
Menisken kann man nicht verknacksen, dazu sind sie viel zu elastisch. Man kann sie einklemmen, einreißen, abreißen, oder sie können einfach Schmerzen bereiten, wenn die Bänder ausgeleiert sind – und ich weiß, worüber ich schreibe!!! zurück
Streichen, diesen Unsatz, der überhaupt keine Information oder Steigerung enthält. zurück

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