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Textkritik & Gegenkritik: Hirn mit Ei – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer und eine Gegenkritik von Thomas Mechler

Ei mit Hirn

von Johann Jandl
Textart: Lyrik
Bewertung: von 5 Brillen

Weil Weiber geistreich Beine spreizen,
wohlweislich seine Reime reizen,
schreibt ein Meister geil bei Zeiten:
»Einfach Eine heimbegleiten

© 2003 by Johann Jandl. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Hier stehen die Eier im Vordergrund, zu wenig das Hirn, will sagen: viel zu wenig wurde gefeilt, als dass ich diese Spielerei so durchlassen könnte …
Wie immer bei solchen unfertigen Texten: man ahnt, was gemeint sein könnte, und man fragt sich, warum manche sich damit zufrieden geben.

Die Kritik im Einzelnen

Hier beginnt das Problem: wie spreizt jemand seine Beine geistreich, egal ob Männlein oder Weiblein? Dies Wort bringt hier so wenig Sinn hervor wie etwa eisfrei oder Schleimbrei, ganz im Gegensatz zu gewagteren Schöpfungen wie feist-dreist und anderen zu findenden Ei-Wörtern – ich kann zum wiederholten Male nur allerdringendst auf den Gebrauch von Reimlexika hinweisen … zurück
Ein Ei hat sich schon verabschiedet und einem o Platz gemacht; das ist minder tragisch, schließlich sind sinnvolle Lautketten schwierig herzustellen, und seit der Barockzeit versuchen sich immer wieder Menschen mit mehr oder weniger Erfolg daran, siehe z.B. die Buchstabensuppe hier im literaturcafe.de (soviel Eigenwerbung muss sein); dass aber besagte Beine spreizenden Weiber mit ebendieser Tätigkeit lediglich Reime reizen wollen statt des Reim-Kleistermeisters höchsteigene Hormone in Wallung zu bringen, will mir nicht in den Dickschädel. zurück
Der Meister ist wider Erwarten doch einigermaßen angetörnt, denn jetzt schreibt er geil. Warum aber schreibt er bei Zeiten? Was droht ihm zu entschwinden? Wieso schreibt er nicht zum Beispiel als Ersatzhandlung, weil er sich nicht traut – schließlich liegen die willigen Weiber ja provozierend bei ihm im Zimmer herum – die folgende Zeile auf zwei oder drei Seiten als eine Art Strafarbeit? Oder ist gemeint, dass der Meister rechtzeitig so schreibgeil geworden ist, dass er nunmehr endlich überhaupt und egal was schreiben kann (was dem Einen sein faulender Apfel, sind dem Anderen gespreizte Beine)? Ach, wer das wüsste … zurück
Da haben wir’s! Das heißt, wir haben gar nichts mehr: ein Weib gefällt ihm offenbar nicht, das will er heimbegleiten; die anderen bleiben bei ihm und spreizen derweil weiter ihre Beine, und er ist den Anblick los – das bedeutet aber doch, er ist gar nicht geil geworden, wie genau eine Zeile zuvor zu lesen war; sollte er aber dennoch geil geworden sein, ist der Reimmeister ein Heimbegleit-Fetischist: ob die Weiber das wissen?
Und für wen er die erlösenden Worte schreibt, wird immer unklarer. zurück

© 2003 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

 

Erstmals mit einer Gegenkritik!
Was soll eine Gegenkritik? Ganz einfach: maltes meinung ist meine Meinung, und ich versuche sie nachvollziehbar zu begründen, denn nur so ist Kritik hilfreich. Aber keine Kritik hat Anspruch auf die absolute Wahrheit. Es lassen sich viele Befunde durchaus unterschiedlich bewerten: enthält für mich hohe Plateausohlen ein blödsinniges Adjektiv, weil hoch in der Definition von Plateausohle steckt, könnte das jemand anders als Stilmittel sehen: es wird etwas durch die Wiederholung besonders betont – man denke z. B. an meist unüberlegt hingeschriebene Wendungen wie kaltes Eis oder heiße Sonne. Man kann und darf und soll also durchaus anderer Meinung sein als ich – aber man muss sie begründen! Jetzt, im Mai 2004, erreichte mich eine eMail, die sich mit einem von mir im März 2003 besprochenen Text anders auseinandergesetzt hat als ich und folglich zu einem anderen Ergebnis kommt – mit den erwähnten sorgfältigen Begründungen. Solche Auseinandersetzungen sind überaus sinnvoll und erhellend, und deshalb wollen wir diesen Text den interessierten Besuchern zugänglich machen.
Lesen Sie also zu diesem Gedicht auch die Gegenkritik von Thomas Mechler:

Hallo Herr Bremer,
ich bin gerade auf Ihre Kritik des Gedichtes »Hirn mit Ei« gestoßen, und meiner Meinung nach tun Sie diesem Stückchen doch ein wenig Unrecht. Es ist sicherlich nicht der größte Wurf aller Zeiten, aber so aus dem hohlen Bauch raus hätte ich ihm doch 2-3 Brillen (vielleicht sogar auch noch mehr) vermacht.
Formal würde ich zuerst einmal sagen, dass der Autor seine Spielereien doch auf einem recht akzeptablen Niveau betreibt.
Da ist zuerst die Einhaltung des Versmaßes zu erwähnen, wenn dieses auch im dritten Vers vom vierhebigen Jambus zum vierhebigen Trochäus wechselt. In diesem Zusammenhang halte ich die einmalige Verabschiedung des Ei’s zugunsten eines O’s auch für verzeihlich, denn sie findet auf einer unbetonten Silbe statt.
Zerfällt das Gedicht bereits aufgrund des Versmaßes in zwei Teile, so wird dies noch dadurch verstärkt, dass der erste Teil sowohl durch eine Alliteration eingeleitet wie auch beendet wird. Wenn man ganz spitzfindig sein wollte, könnte man dem noch hinzufügen, dass durch die beiden Ws in wohlweislich der zweite Vers wiederum in Gestalt des Weil Weiber an den ersten Vers angebunden wird.
Als Nächstes finde ich das Reimschema beachtenswert: Wir haben es hier mit zwei Paarreimen zu tun, welche erneut die Zweiteilung des Gedichtes unterstreichen. Auf der anderen Seite entpuppen sich diese Paarreime auch als unechte Reime (spreizen, reizen, Zeiten, …-begleiten), wodurch eine Verbindung zwischen den zwei Teilen des Gedichtes hergestellt wird. Darüber, inwieweit Form und Inhalt miteinander korrespondieren, möchte ich mich jetzt nicht weiter auslassen, denn das ganze soll ja weder einen Abituraufsatz noch eine Seminararbeit ergeben. Es geht mir lediglich darum zu zeigen, dass in diesem Gedicht mehr steckt als eine blödsinnige Spielerei mit den Ei’s.
Aber auch bezüglich der inhaltlichen Kritik kann ich nicht so ganz mit Ihnen übereinstimmen:
Hier steht zuerst einmal die Frage im Raum, wie jemand seine Beine geistreich spreizen kann. Nun, ich denke, darauf gibt es sogar eine ziemlich sinnhafte Antwort:
Mit dem Satz Weil Weiber geistreich Beine spreizen werden zwei Ebenen angesprochen: Während das geistreich auf den Intellekt verweist, spricht das Beine spreizen das Körperliche an. Mann kann diesen Vers also in der Art deuten, dass die Weiber beim Gespräch mit dem Meister diesen auf geistreiche Art zweideutig unzweideutig anmachen. Aber warum tun sie dies? Die Antwort darauf gibt der zweite Vers: Die Weiber versuchen in vollem Bewusstsein (wohlwissend) die Reime des Dichters zu reizen. Das heißt, es geht weniger darum sich mit dem Meister in der Kiste als vielmehr sich in seinen Reimen wieder zu finden. (Pointiert könnte man sagen, es ist der Versuch sich als Muse zu prostituieren, und als Hurenlohn winkt die Unsterblichkeit.) Was macht aber der Meister, anstatt die Weiber erotisch zu besingen? Er schreibt geil wie er ist: »Einfach Eine heimbegleiten!«.
In diesem Zusammenhang fragen Sie in Ihrer Kritik, warum der Meister bei Zeiten schreibt und was ihm zu entschwinden droht. Weiterhin fragen Sie, warum er nicht z.B. als Ersatzhandlung schreibt, weil er sich nicht an die willigen Weiber rantraut, die bei ihm im Zimmer liegen.
Nun, ich würde sagen, dass er genau dies tut, zumal aus dem Text nicht hervor geht, dass die Weiber wirklich bei ihm im Zimmer sind.
Aus diesem Grund gehe ich davon aus, dass sich der Meister bei Zeiten, also rechtzeitig, an seinen Schreibtisch geflüchtet hat, um das aufzuschreiben, was er sich nicht in die Tat umzusetzten traut. Sprich, er hat sich aus der Affäre gezogen, bevor es zu einer solchen kommen konnte.
Um diese Interpretation zu stützen ist es hilfreich zu fragen, wessen Geistes Kind der erste Vers eigentlich ist. Beschreibt das lyrische Ich hier einen objektiven Tatbestand, oder gibt es lediglich die subjektive Wahrnehmung des Meisters wieder? Ich plädiere hier für die zweite Lesart, denn dann ergibt das ganze einen eindeutigen Sinn: Der Meister hat Angst vor Frauen und vor seiner eigenen Geilheit. Deswegen qualifiziert er diese als geistreiche Weiber ab, die ihn nur deswegen anmachen, weil sie Teil seiner Kunst werden wollen. Statt sich auf eine Frau einzulassen flüchtet er lieber in seine Dichterstube und sublimiert dort seine Männerfantasien.
Aber da ist noch eine weitere Spur im Text, die es anzudenken gilt. Meines Erachtens lässt sich nämlich dieser nicht weiter beschriebenen Meister beim Namen zu nennen. Einfach Eine heimbegleiten – das erinnert mich doch stark an »Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?«. Hier gräbt Faust Gretchen an, indem er ihr vorschlägt, sie nach Hause zu begleiten …
Goethe zu unterstellen, er habe beim Schreiben des Faust auch seine verklemmten Männerfantasien befriedigt, sieht zwar auf den ersten Blick wie die Demontage eines Dichterfürsten durch einen Schreiberling aus, der ihm nicht das Wasser reichen kann. Bei genauem Hinsehen trifft das aber ziemlich ins Schwarze: So flüchtete der junge Goethe zum Beispiel Hals über Kopf aus Straßburg, weil ihm der Boden bei Friederike Brion zu heiß geworden ist. Geblieben ist davon vor allem das Gedicht »Willkommen und Abschied«. Darüber hinaus gibt es noch einige seltsame Beziehungen Goethes zu Frauen, aber wie gesagt geht es hier nicht um ein Proseminar, sondern darum zu zeigen, dass hinter Johann Jandls Gedicht sich mehr verbergen könnte, als eine Spielerei mit zu wenig Hirn und zuviel Ei.
Vielleicht handelt es sich bei dem Gedicht tatsächlich um eine in der Tat ziemlich bösartige Auseinandersetzung mit Goethe, die darin gipfelt unseren allseits geliebten und geschätzten Dichterfürsten als »Hirn mit Ei« (wohlgemerkt nur mit einem Ei ) zu bezeichnen. Mir würde das gefallen und ich würde in diesem Falle ohne wenn und aber für die volle Punkt bzw. Brillenzahl plädieren. Ansonsten würde ich bei 2-3 Brillen bleiben, denn das Gedicht hat es wirklich nicht verdient, mit so schrecklichen Dingen wie der Pseudoballade oder dem Horrorsonett auf einer Ebene zu stehen.

© 2003 by Thomas Mechler. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.