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Textkritik: Wilde Rose – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

Wilde Rose

von Tee-Ei2000
Textart: Lyrik
Bewertung: 2 von 5 Brillen

Die schönste aller schönen Blumen
ist die wilde Rose
nicht ihre Schwester in der Vase
die schlanke, dornenlose

Und mag ihr Duft auch stärker sein
und leuchtender ihr Kleid
doch ist ihr Glanz nur äusserlich
und kurz ist ihre Zeit

Die schönste aller schönen Blumen
ist die wilde Rose
nicht ihre Schwester aus der Zucht
die stolze, seelenlose

Jedoch auch sie verführte mich
ich gab ihr manchen Kuss
ein nettes, schnelles Stelldichein
ohne Hochgenuss

Die schönste aller schönen Blumen
ist die wilde Rose
nicht ihre Schwester aus dem Treibhaus
in geklonter Pose

Die wilde Rose ist wie ich
ungezähmt und frei
trägt Staub in ihrem Blütenkleid
und lächelt doch dabei

Die schönste aller schönen Blumen
ist die wilde Rose
ich liebe und verehre dich
komm blühe und bezauber mich
will mich nach dir nur sehnen
du Schönste aller Schönen

© 2003 by Tee-Ei2000. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Ein formal durchaus korrekt durchgeführtes Lied, das unter breitgetrampelt herkömmlichen Naturmetaphorismen leidet, aber durch ein Weniges zu einer (überflüssigen) Parodie hätte werden können. So erscheinen mir die Pannen eher als Versehen. Ein Trost: die Form ist durchaus gelungen. Und allein dafür gibt es Brillen.
Die Rose ist schon immer Inbegriff für eine Frau mit besonderer Betonung ihres Geschlechtsteils; lange vor Goethes Knab bedeutet im Volkslied Eine Rose brechen immer und nur Mit einer Jungfrau schlafen. Auch die anderen Naturmetaphern in dem Text Wilde Rose transportieren ungebrochen fröhlich Altbekanntes: man braucht nach der ersten Strophe nicht weiter zu lesen, denn man weiß, was kommt. Diese Bestätigung von bis zum Erbrechen Bekannten ist die Domäne unserer volkstümlichen Musik – wozu ich auch den Deutschen Schlager rechne. Ausnahmen mag es geben, ich kenne keine und bemühe mich auch nicht darum, weil mir Deutscher Schlager und volkstümliche Musik letztlich schnurzegal sind; und wenn ich zufällig etwas hören muss, kommt mir alles fürchterlich bekannt vor. Mit Grinsen erinnere ich mich noch an die Zeit, als Peter Alexanders und Udo Jürgens’ Kitschliedchen zu Protestsongs hochstilisiert wurden… Ich frage mich, wann Jürgen Drews oder der mit den vielen Freundschaftsbändern am Handgelenk anfangen, ihre Liedlein zu hiphoppen – oder tun die das gar schon?
Doch bei Gedichten falle ich immer wieder darauf herein, denn irgendwo in mir schlummert so etwas wie Hoffnung, dass Ausgelutschtem doch noch etwas Neues abgewonnen werden kann.

Die Kritik im Einzelnen

Das macht doch Hoffnung: immerhin ist die schlanke, dornenlose Rose damit 1.) eine schöne Blume und nicht eine hässliche, und 2.) hat ihr doch niemand den zweiten Platz streitig gemacht! Und Vasenschwester kann sich beruhigend auf die Blumenschulter klopfen und sagen: Lieber schön und schlank und dornenfrei als schön und fett und dornig!
Forschen ließe sich auch nach dem Übeltäter, der eine wilde Rose gepflückt, sie ihrer Dornen beraubt, einer Diät unterzogen und in eine Vase gestopft hat – es handelt sich doch wohl um eine leibliche Schwester? Oder sollte es doch eine weitläufige Schwester sein (alle Menschen sind Brüder, alle Blumen sind Schwestern)? Soll hier eine wilde Rose mit einer erzogenen verglichen werden?
Fest steht jedenfalls: auf Satzzeichen wird verzichtet (ein Komma darf hier bleiben, später übrigens noch eins), und die erste Strophe gibt das Schema vor. zurück
Das Subjekt der ersten Strophe ist: die wilde Rose. Alles, was in der zweiten Strophe folgt, gilt also für die wilde Rose: sie duftet stärker, ihr Kleid leuchtet anmutender (da kömmt 1 Erinnerung hoch: »Die Rosen und der Tulipan, die ziehen sich viel schöner an als Salomonis Seide, als Sahalohomohonihis Seide«), jedoch ist der Glanz nur äußerlich, und ihre (Lebens)Zeit kurz.
Also wenn das so ist und ich egal welche Blume wäre, dann würde ich ein Leben in der Vase aber so was von vorziehen! Ab in die Gärten, Blumen rupfen und in Vasen stecken.
Klar: gemeint war das Gegenteil. Nützt aber nichts, wenn es anders geschrieben steht.
Ein kleines Problem bedarf noch der Aufmerksamkeit: wenn Vasenschwesters Glanz nur äußerlich ist – worin besteht der innere Glanz von Wildlingin? Welches sind und wie äußern sich diese inneren Werte, auf denen hier bestanden wird? Bienentreue? Bodenständigkeit? Mitleid mit Blattläusen? zurück
Die Form gewinnt: Die erste Strophe ist gewissermaßen der Refrain, der jetzt wiederkehrt: Variation gibt es – wie es sich für einen guten Refrain gehört – nur wenig, hier bei den beiden Schlusszeilen in der Ortsbestimmung und den beiden Adjektiven am Ende; um dem möglichen Missverständnis in der ersten Strophe zu begegnen, würde ich vorschlagen, aus der Zucht mit in der Vase zu tauschen.
Dringender allerdings wird die Frage nach den inneren Werten: Vasenschwester wird immerhin die Menscheneigenschaft Stolz zugeordnet und zusätzlich die Zombie-Eigenschaft seelenlos – daraus ergibt sich zumindest 1 innerer Wert bei Wildlingin: Bescheidenheit. Welch innerer Glanz… Zudem verfügt Wildlingin über ein Seelchen (was bekanntlich kein Wert ist), das vielleicht dermaleinst in der Hölle bruzzelt, denn Wildlingin sticht andere mit ihren Dornen, z.B. den (ge)läufigen Knab. Glücklich, wer keine Seele hat: der kann auch nicht bruzzeln. Ein weiterer Pluspunkt für Zuchtprodukt Vasenschwester. zurück
Da schau her: das lyrische Ich geht ganz schön zur Sache, will heißen, es lässt sich gerne verführen; aber das sagen alle lyrischen Ichs und Konsorten alleweil allerorten allerwelt, denn Schuld hat seit Adam und Eva halt das Weib – Gott sei Dank! Unser lyrisches Ich merkt selbstverständlich beim ersten Kuss noch nicht, dass Vasenschwester ohne innere Werte und seelenclean war, sondern es gab ihr manchen Kuss, was in 1 nettes & schnelles Stelldichein mündete, bedauerlicherweise ohne Hochgenuss.
Damit ist noch nicht geklärt, wen das lyrische Ich sonst noch benutzt hat (um die Sache mal richtig zu stellen): immerhin muss es zumindest 1 Vorgängerin gegeben haben, denn auch die Vasenschwester hat ihn »verführt«! Darf man spekulieren? Kann es Wildlingin gewesen sein? Hat sie ihn etwa gestochen, was zum Hochgenuss führte? Oder hat er sich mit Gänseblümchen gemein gemacht, gar an Löwenzahn versucht, bei Klee sein Glück gesucht? Alles zusammen? Mein lieber Scholli, welch Schwerenöter…
Zur Erinnerung: auch hier ist der logische Bezug falsch, denn das sie aus auch sie verführte mich bezieht sich inhaltlich wieder auf die wilde Rose, was der Verständnis erschwert (sofern es wirklich etwas zu verstehen gibt). zurück
Es folgt wieder der Refrain, er verlässt aber in der letzten Zeile das bisher vorgegebene Schema: statt zweier Adjektive folgt nun ein Rätsel: in geklonter Pose. Posen sind nicht biologisch, also auch nicht klonbar; dass die Rosen in einem Treibhaus alle gleich sind, stimmt einfach nicht: sie sind genau so gleich wie die wilden – und geklont sind sie auch nicht, das wäre viel zu aufwändig (Der aufmerksame Leser Hans Berger hat mich völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass »sämtliche Rosensorten (…) echte Klone (sind), mit der identischen genetischen Konstitution der “Mutterpflanze”, unabhängig davon, ob sie als Stecklinge vermehrt wurden oder, wie bei den meisten Rosen, als okulierte (Augenveredlung) Veredlungen.« Ich habe mich hier unpräzise ausgedrückt, denn ich dachte dabei nur an das Klonen wie im Falle Dolly. Danke!). Auch die Models und die ihnen nacheifernden Besessenen sind nicht gleich (dabei genügen jene schon längere Zeit nicht mehr den Ansprüchen der Werbung: da wird retuschiert, was das Zeug hält).
Nein: dieser Refrain taugt nicht! Da es der letzte richtige Refrain ist, würde ich eine Mischung aus den beiden anderen Refrainschlüssen empfehlen (und das schreibe ich, der Adjektivhasser… Weit ist es mit mir gekommen, tief bin ich gesunken, finster wird es um mich her…): z.B. die Kombination schlanke, seelenlose oder stolze, dornenlose – zudem würde das einen Sänger dieser Zeilen doch einigermaßen verwirren: es wäre damit zu rechnen, dass er mitten im Lied abbricht… Wär das was, oder nicht oder doch?
Wenn es denn neue Adjektive sein sollen: die scharfe, wurzellose oder die kalte, bienenlose oder die forsche, arbeitslose – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt! Und Reimlexika können da wahre Wunder wirken. zurück
Nanana: wer sich so leicht verführen lässt, ist alles andere als frei, und schon gar nicht ungezähmt! Frei und ungezähmt sind die, die verführen – so wie die Vasenschwester. Und dass auch das lyrische Ich lächelnd ein verstaubtes Blütenkleid trägt, gibt mir erheblich & schwerst zu denken! Ich verrate aber nicht, was… zurück
Jetzt knallt das lyrische Ich endlich die Karten auf den Tisch, zeigt, wes Ungeistes Kind es ist: es lümmelt bräsig irgendwo herum, behauptet es liebe und verehre die ungezähmte und freie Wildlingin und fordert sie auf, zu ihm zu kommen (Gattung: Wanderrose: rosa itinerans), gefälligst zu blühen (freilich und ausschließlich für das lyrische Ich) und ihn zu bezaubern (das lyrisches Ich war also noch gar nicht bezaubert, die Liebeserklärung zuvor folglich ganz und erwartungsgemäß Standardgeschwalle) – also wenn das nicht Machogehabe pur ist! zurück
Jetzt wird auch noch das Blaue vom Himmel herunterversprochen: will mich nach dir nur sehnen lügt da das lyrische Ich, das so leicht verführbar ist, und macht gleichzeitig deutlich: »Wenn du die Nacht bei mir verbracht hast, muss ich leider weg, aber keine Angst, ich werde mich anschließend ewig nach dir sehnen, und zwar nur nach dir!«
Das ist das Ende vom Lied, die Quintessenz gewissermaßen. Weder neu noch überraschend noch überzeugend. Wenn ich Wildlingin wäre, wenn ich Wildlingin wäre, dann würde ich diesen sülzenden Machofuzzi nicht nur stechen, den würde ich erstechen!  zurück

© 2003 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.