Die folgende Geschichte zählt ebenfalls zu den sechs Gewinnertexten in Briefform der 71. Folge des Schreibzeug-Podcasts. Die 71. Folge mit den zugehörigen Textanalysen kann hier angehört werden – und überall, wo es Podcasts gibt. Über die Zahlen unter den Geschichten kann zwischen den Texten geblättert werden.
Die Leiden des W.
von Frau Düfi
München, 25. November: Wolfgang, warum hast du den Brief zu uns nach Hause geschickt und nicht in die Firma? Auch wenn ich nicht arbeiten kann, hole ich doch die Post ab! Hab’ dein Schreiben gerade noch verstecken können, bevor Diana es entdeckt hätte. Es soll doch eine Überraschung werden! Danke für die Autogrammkarte von Daniel Glattauer. Sie wird sich bestimmt freuen. Wann kommst du denn am 14.? Ich muss noch das Gästezimmer vorbereiten und die Girlanden aus der Garage kramen.
Nein, ich fühle mich nicht wie ein Steinzeitmensch, obwohl wir gestern bei minus zwei Grad gegrillt haben. War ganz gemütlich mit Glühwein und Früchtepunsch. Außerdem hat es endlich mal nicht geregnet.
LG
Jürgen
Stuttgart, 1. Dezember: Vorsicht, Jürgen, Vorsicht! Lass dir nichts anmerken bei deinen Vorbereitungen! Entschuldige bitte, dass ich meine Sendung falsch adressiert hatte – Macht der Gewohnheit. Könnte am 14. gegen Mittag da sein. Mit den alten Dieselzügen tuckere ich fünf Stunden zu euch und kann lesen. Soll ich noch etwas mitbringen? Freue mich!
Ciao
W.
Stuttgart, 5. Dezember: Jürgen, danke für deine schnelle Antwort. Meinen eigenen Schlafanzug brächte ich natürlich mit. Befürchte mittlerweile aber, es wird schwierig mit dem 14. – wünsche mir fast, in Sachsen-Anhalt zu wohnen. Hier Sintflut, dort höchste Waldbrandgefahr. Gleise sind unterspült und DB macht mir wenig Hoffnung. Gestern ging kurz das Internet, Überweisungen. Ansonsten Antikenstudium zu paradigmenwechselnden Überschwemmungen. Hab’ ja Zeit.
Ciao
W.
Stuttgart, 9. Dezember: Jürgen, Stuttgart schwimmt. Konnte gerade noch die eingelagerten Bücher aus dem Keller retten. Fotoalben und Weihnachtsdeko sind verloren (egal). Kurz überlegt, mit einem Boot auf Reisen zu gehen – unentschlossen, ob wie Gulliver oder Crusoe. Ein Glück, dass ich die Autogrammkarte schon vorausgeschickt habe. Verrückt, dass die Post überhaupt arbeitet.
Ciao
W.
Stuttgart, 10. Dezember: Jürgen, „die harte Kehle, die Zunge aus Gips, das Rasseln im Schlund und ein ekliger Geschmack im Munde. Das sind mir neue Empfindungen, und zunächst bringe ich sie in keine Verbindung mit dem Wasser, das sie heilen könnte“ – Wasser: das unablässig regnende. Lese gerade Saint-Exupéry – habe Durst nach Sonne und werde ertränkt in einem Meer aus Texten (gibt Schlimmeres).
Ciao
W.
Stuttgart, 11. Dezember: Wie froh wäre ich, wenn ich weg wäre! Beste Diana, zum Geburtstag alles Liebe! Hier fahren tatsächlich gelbe Postschlauchboote und bringen mir die Briefe deines Mannes. Kann nicht evakuiert werden, weil ich zu alt und unweiblich bin. Lesen mit Schwimmweste gewöhnungsbedürftig. Neuer Starkregen angesagt. Keine Besuche, stattdessen kopulierende Katzen auf Dächern und vorbei treibende Mülleimer. Fühle mich aber gut: wie ein Lesender auf Géricaults Medusenfloß (aus Goethes dtv-Gesamtausgabe gebaut), der der Argus den Rücken zudreht. wir werden uns wieder sehen!
Ciao
W.
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Was für wunderschöne Geschichten! Jede hat ihr eigenes Highlight! Die vom Sternenkind hat mich besonders berührt. Wie schade, dass ich von diesem Schreibwettbwerb nicht früher erfahren habe. Ich hätte auch eine wunderschöne Geschichte für Euch gehabt. Das heißt – nein – ich hätte wohl noch nicht, denn ich schrieb sie erst letzte Woche, ohne von dem Wettbewerb zu wissen. Aber lesen dürft Ihr sie trotzdem … wenn Ihr überhaupt Zeit habt. Ich schreibe auf story.one, einem österreichischen Storyportal. Hier meine Geschichte: https://www.story.one/de/story/goldene-bekenntnisse/
Und danke für Eure tolle Arbeit im Literaturcafé! Sehr bereichernd! Ich entdeckte Euch durch eine Verlinkung auf padlet.
Liebe Grüße, Ulrike Nikolai