Die folgende Geschichte zählt ebenfalls zu den sechs Gewinnertexten in Briefform der 71. Folge des Schreibzeug-Podcasts. Die 71. Folge mit den zugehörigen Textanalysen kann hier angehört werden – und überall, wo es Podcasts gibt. Über die Zahlen unter den Geschichten kann zwischen den Texten geblättert werden.
Traue keiner fremden Kuh
von Ana Gudelj
Hallo Oma,
Heute Morgen habe ich die Aussicht aus meinem Schlafzimmer festgehalten. Der Nebel hüllte die Landschaft in unheimliche Stille. Ein Windstoß und die Tür hinter mir krachte ins Schloss. Ich erschrak. Mein Handy fiel. Ich war im Obergeschoss.
Kurze Zeit später kam die Postbotin. Ich zeigte ihr mein kaputtes Handy, sie wünschte mir trotz allem einen guten Start und überreichte mir einen Brief. Mein Internetanbieter lässt mich wissen, dass das Internet sich um vier Wochen verzögert.
Mach dir keine Sorgen, Oma. Ich werde leider nicht erreichbar sein.
Fühle dich gedrückt,
deine Klara.
Hallo Oma,
Gestern Abend im nächstgelegenen Dorf sprach mich eine ältere Frau an. Sie saß auf einer Bank und starrte auf den Briefkasten. Mit zittrigen Händen hielt sie sich am Knauf ihres Gehstocks fest, beugte sich ein wenig nach vorne und sagte: „Die Post lässt einen hängen. Besser, man ist zügiger als sie.“
Sie wirkte aufgelöst.
Ich nickte ihr zu, schwang mich auf mein Fahrrad und brach auf. Kurz fragte ich mich, ob sie Hilfe braucht, ob ich etwas tun sollte. Dann dachte ich mir, dass sie wohl kaum von einer Kuh entführt wird.
In der Nacht hatte ich schlechte Träume. Ich hätte schwören können, die alte Frau war im Haus. Es ist ungewohnt allein in einem abgeschiedenen Haus.
Der Plan für meine restlichen drei Wochen Urlaub war, den Garten anzulegen. Mein Nachschlagewerk Internet verspätet sich um vier Wochen. Deshalb wollte ich dich fragen, ob du mir in Berlin ein paar Bücher übers Gärtnern kaufen und sie mir zuschicken kannst.
Ich bin heute über die Felder gelaufen. Mitten auf einem der Felder stand eine verlassene Badewanne. Das war eigenartig.
Ich hoffe, euch geht es gut in Berlin. Grüße mir alle, die sich über Grüße von mir freuen!
Ich habe euch lieb,
Klara.
Oma, ich war auf dem Feld mit der Badewanne. Die alte Frau vom Briefkasten liegt in der Wanne. Sie ist tot. Ich komme nach Berlin. Ich habe Angst und ich liebe euch. Ruft die Polizei, wenn ihr noch nichts von mir gehört habt. Klara.
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Was für wunderschöne Geschichten! Jede hat ihr eigenes Highlight! Die vom Sternenkind hat mich besonders berührt. Wie schade, dass ich von diesem Schreibwettbwerb nicht früher erfahren habe. Ich hätte auch eine wunderschöne Geschichte für Euch gehabt. Das heißt – nein – ich hätte wohl noch nicht, denn ich schrieb sie erst letzte Woche, ohne von dem Wettbewerb zu wissen. Aber lesen dürft Ihr sie trotzdem … wenn Ihr überhaupt Zeit habt. Ich schreibe auf story.one, einem österreichischen Storyportal. Hier meine Geschichte: https://www.story.one/de/story/goldene-bekenntnisse/
Und danke für Eure tolle Arbeit im Literaturcafé! Sehr bereichernd! Ich entdeckte Euch durch eine Verlinkung auf padlet.
Liebe Grüße, Ulrike Nikolai