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Relotius‘ ohne Grenze: Perfekt erfundene Geschichten im SPIEGEL

Beitrag »Die letzte Zeugin« von Claas Relotius auf SPIEGEL Online

Claas Relotius hat meisterlich komponierte Geschichten geschrieben. Beim Lesen überkommt einen oft eine Gänsehaut. Das Dumme daran ist nur: Der SPIEGEL hat die Texte als Reportagen veröffentlicht.

Geschichte mit interessanter Erzählperspektive und perfekter Dramaturgie

Man sollte sich einmal »Die letzte Zeugin« durchlesen. Ein Text über eine Frau, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, mit dem Bus durch die USA zu reisen, um als Zeugin Hinrichtungen beizuwohnen. Die Anwesenheit solcher Zeugen ist in den USA gesetzlich vorgeschrieben.

In dem Text begleiten wir Gayle Gladdis bei dieser Busfahrt. Man muss »wir« schreiben, denn der Text arbeitet mit einer interessanten Erzählperspektive. Eigentlich muss sie der Reporter bei dieser Fahrt begleitet haben, doch ein »ich« taucht in Text nicht auf. Während der Fahrt erzählt Gladdis. Sie stellt Fragen und liest aus Zeitungsartikeln und Bibelstellen vor. Sie liefert perfekt komponierte Hintergrundinfos und Drittmaterial zu ihrer Geschichte mit, alles ist aus sich selbst heraus zitiert. Ohne das Ich des Erzählers, sitzen wir alle neben ihr und erleben die Busfahrt hautnah mit, denn Gladdis erzählt uns die Dinge, während detailliert und stimmungsvoll geschildert wird, was draußen vor dem Busfenster alles zu sehen ist.

Die Dramaturgie des Beitrags ist perfekt. Sohn und Enkel von Gladdis wurden selbst Opfer eines Gewaltverbrechens. So darf sie in diesem Beitrag Fragen stellen, die wir alle nicht mal zu denken wagen: Ist die Todesstrafe für brutale Mörder vielleicht doch eine gerechte Sache?

Die Geschichte ist ein kleiner Roadtrip, über den sich eine Lebensgeschichte spannt. Garniert wird dieser Text mit vielen Zahlen, die die Authentizität zusätzlich steigern. Ein Schlüssel wird dreimal umgedreht, das Ticket kostet 141 Dollar, die Fahrt dauert 15 Stunden usw. usf. Diese präzisen Zahlen – eben 141 und nicht 140 Dollar – tragen zusätzlich dazu bei, dass alles wahrlich unglaublich glaubhaft wird.

»Passt alles perfekt. Stimmt nur nicht. Nichts davon. Der Autor Claas Relotius hat in den USA keine Frau zu Hinrichtungen begleitet. Er ist nicht mit ihr Bus gefahren, er hat nicht mit ihr im 3. Buch Mose geblättert. Er hat eine Geschichte erfunden.« Das ist in der aktuellen Ausgabe des SPIEGELs über »Die letzte Zeugin« zu lesen.

Relotius hat eine Geschichte erfunden – wie es ein guter Schriftsteller macht, möchte man bewundernd ergänzen. Das Dumme ist nur, dass der Text im SPIEGEL im Frühjahr als Reportage erschienen ist und niemand an der Wahrheit dieser Geschichte zweifelte.

Und »Die letzte Zeugin« ist nicht der einzige Artikel, den Claas Relotius erfunden haben soll. Knapp 60 Beiträge hat der Autor für den SPIEGEL verfasst. Sie alle stehen nun im Verdacht, dass sie ganz oder teilweise erfunden sind, fünf listet der SPIEGEL bislang zweifelsfrei als Erfindung auf. Der SPIEGEL spricht von einer »Affäre« und sieht die eigene Glaubwürdigkeit gefährdet. Im Zeitalter von »Fake News«-Vorwürfen ist dies eine Katastrophe. Von vielen Seiten bekommt der SPIEGEL aber auch Lob, wie man im Hause mit der Sache »schonungslos« umgehe.

Stilistisch befremdliche Affären-Rekonstruktion

Fast schon im Relotius-Sound der erzählenden Reportage rekonstruiert Ullrich Fichtner, wie es zu den unglaublichen Fälschungen kommen konnte und wie sie dann doch aufgedeckt wurden. Das wirkt stilistisch befremdlich.

Der szenische Einstieg ist das Markenzeichen von SPIEGEL-Beiträgen. Und schon immer musste man sich fragen, wenn beispielsweise haarklein Details von ministeriellen Treffen geschildert werden, wie das denn sein könne, wo doch kein Reporter dabei war. Nimmt man als Leserin und Leser nicht automatisch an, dass hier Wahrheiten und Stimmungen des Effekts wegen verdichtet werden? Sind die erfundenen Relotius-Beiträge nicht die konsequente Weiterführung dieser SPIEGEL-üblichen Imaginationen?

Der SPIEGEL hält den eigentlichen Skandal klein

Erschreckend ist, wie wenig Schuld der SPIEGEL bei sich sucht. Da wird Claas Relotius konsequent niedergeschrieben, ihm die Schuld zugeschoben. Es wird die Frage gestellt, ob Geltungssucht oder gar eine Krankheit für diese Fälschungen verantwortlich seien. Und es wird betont, dass man Relotius auch Hilfe angeboten habe. Er sei ein liebenswerter Kollege gewesen. »Er ist ein Kollege, auf den man sich freut im Büro«, schreibt Ullrich Fichtner.

So merkwürdig es klingen mag: Dass Claas Relotius Geschichten erfunden und als wahr verkauft hat, ist nicht der große Skandal. Spätestens seit Tom Kummer weiß man, dass das passieren kann und dass es gerade die großen unglaublichen Geschichten sind, die ganz oder teilweise erfunden sind.

Den eigentlichen Skandal hält der SPIEGEL bislang klein: Es ist das absolute Versagen der Dokumentationsabteilung des SPIEGEL. Der SPIEGEL rühmte sich stets damit, dass diese bei den Mitarbeitern nicht immer beliebte Abteilung, die Texte der Autorinnen und Autoren auseinandernimmt und jedes Detail gegenprüft. Hier haben Mitarbeiter versagt und die hochgelobte Dokumentationsabteilung offenbar zur Makulatur verkommen lassen. Fichtner verharmlost diese wirklich skandalöse Tatsache in seinem Beitrag, indem er lediglich schreibt: »Diese Enthüllung, die einer Selbstanzeige gleichkommt, ist für den SPIEGEL, für (…) seine Dokumentationsabteilung (…) ein Schock.« Als wäre der Fall Relotius wie ein Unfall über sie gekommen. Dabei haben die Mitarbeiter der Dokumentationsabteilung diesen Unfall maßgeblich verursacht, weil offenbar nicht geprüft wurde, ob Relotius die Verkehrsregeln eingehalten hat.

Claas Relotius ist ein genialer Betrüger und Täuscher. Warum und wieso, das müssen Psychologen erklären. Wir wissen es nicht. Leistungsdruck? Geltungssucht? Psychische Erkrankung? Alles wäre Spekulation.

Man muss nicht spekulieren, dass Claas Relotius nun am Boden ist. Wie der Name Tom Kummer ist nun auch Claas Relotius untrennbar mit dem Begriff Fälscher verbunden. Das steckt niemand so einfach weg, und man muss Claas Relotius in diesen Zeiten Stärke und gute Freunde wünschen.

Denn eines bleibt Relotius: ein genialer Geschichtenerzähler. Hoffen wir, dass er eines Tages als Romanautor wieder zurückkehrt. Man möchte gerne mehr von ihm lesen. Denn schon in »Die letzte Zeugin« steckt eigentlich ein ganzer Roman.

Wolfgang Tischer

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4 Kommentare

  1. Interessanter Kommentar. Ja, vielleicht wäre Romanautor der passendere Beruf. Das Wahrheits-Gemache des Spiegel nervt schon. Die Frage ist: Was ist Wahrheit? -Entstehen nicht schon verschiedene Realiäten durch die Anordnung von Tatsachen, die Kontextualisierung , das Weglassen von Details? – Hier mein Senf zum Thema: https://rotherbaron.com/2018/12/21/literarische-reportagen-oder-hochstapelei/
    Und: Vielleicht ist die Weihnachtsgeschichte auch erfunden. ;-)Trotzdem enthält sie eine Wahrheit. In diesem Sinne: Frohes Fest!

  2. „Man muss nicht spekulieren, dass Claas Relotius nun am Boden ist. Wie der Name Tom Kummer ist nun auch Claas Relotius untrennbar mit dem Begriff Fälscher verbunden. Das steckt niemand so einfach weg, und man muss Claas Relotius in diesen Zeiten Stärke und gute Freunde wünschen.

    Denn eines bleibt Relotius: ein genialer Geschichtenerzähler. Hoffen wir, dass er eines Tages als Romanautor wieder zurückkehrt. Man möchte gerne mehr von ihm lesen. Denn schon in »Die letzte Zeugin« steckt eigentlich ein ganzer Roman.“ – Das gefällt mir, denn hier hat jemand ein Gefühl dafür, dass Claas Relotius ein Mensch ist. Die Hexenjagd, die nun veranstaltet wird ist schon fast unmenschlich. Danke für diesen etwas anderen Kommentar zum Thema!!! Auch der Beitrag vom Vorredner (Rotherbaron) liest sich interessant… Schade, dass man bei dem Tag Relotius immer zuerst zu dem selbstgerechten „Aufarbeitungsgemache“ vom Spiegel gelangt.

  3. Ein überraschend anderer, doch zutreffender Kommentar in der Akte Relotius, die vermutlich erst am Anfang steht. Augstein Junior, der nach BILD.de 24% der Anteile des Unternehmensgründers repräsentiert, tritt – der virtuelle Ort überrascht – bei BILD.online gegen den SPIEGEL nach.
    Spannenderweise hadert Augstein Junior selbst mit den Fakten (siehe: Twitter-Beiträge zum G20-Gipfel in Hamburg), meint aber, sich hierüber hinwegzusetzen, wenn es ihm politisch opportun zu sein scheint.
    Das Problem des SPIEGEL ist – neben dem zu Recht angesprochenen szenischen Einstieg und der damit verbundenen Recherche- bzw. Darstellungstechnik – die Erwartungshaltung des fiktiven „linksliberalen“ Lesers, den Relotius bedient hat. Dieser Leser ist aber in Wirklichkeit viel schlauen und vor allen wesentlich vielfältiger (in alle politische Richtungen), als Herr Relotius und der SPIEGEL (wohl immer noch) glauben.

  4. Das Problem ist nicht das Lügen, das Problem ist das Versagen der Kontrolle.

    Man sollte nicht den Autor dieser Geschichten bestrafen, sondern die KOMPLETTE Riege an Mitarbeitern, die mit der Kontrolle solcher Artikel beauftragt ist: vom Chefredakteur bis zu jedem Mitarbeiter in der „Faktenabteilung“, der mit den Texten betraut war.

    Ich weiß schon, warum ich seit 10+ Jahren schon keine Artikel mehr vom SPIEGEL gelesen habe, obwohl ich politische eher links einzuordnen bin.

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