Rot-violett leuchten einige Fenster über Berlin ganz oben im Springer-Hochhaus, daneben der WELT-Schriftzug in Weiß. Im kleinen Bereich zwischen Drehtüren und Empfangstresen der Axel-Springer-Straße 65 steht eine grau-schwarz-dunkelblaue Ansammlung von Menschen in Winterkleidung. Beginn 19 Uhr stand auf der Einladung zum WELT-Literaturpreis. Damit war offenbar der Beginn des Abscannens der QR-Codes auf den Einladungen gemeint.
Smartphones, gefaltete DIN-A4-Blätter und Ausweise werden vorgezeigt, Mäntel und Jacken an der Garderobe zurückgelassen. Fahrstühle bringen die Menschen in den 19. und obersten Stock des Gebäudes. Es ist der Veranstaltungsraum gegenüber dem Springerschen Journalisten-Club, der mittels Design-Neonleuchten rot-violett nach unten strahlt. Der Ort der Preisverleihung. Weiße Stühle sind locker im Raum aufgestellt. Nur die vorderen sind für Preisträger und Nominierte und die wichtigsten Mitarbeiter des Hauses reserviert, neben dem Blatt »Virginie Despentes« liegen »Dr. Mathias Döpfner« und »Friede Springer«. Zur Literatur kommt die oberste Spitze des Hauses.
Hinter der Bühne auf dem überbreiten großen LCD-Display über einem violett-pinken, geloopten Film ist der Hashtag #weltliteraturpreis zu lesen. Und gegenüber, hinten im Saal, noch stehend, eine unglaublich hohe literarische Promidichte. Viele »Das-ist-doch-die/der-Dings«-Gesichter, dann fallen einem erste Namen ein: Monika Maron, Ijoma Mangold, Sybille Lewitscharoff, Stefan Aust, Elisabeth Ruge, F. C. Delius, Thea Dorn – und natürlich auch Denis Scheck.
Ein Gong ruft zum Beginn, und ein wenig Reise-nach-Jerusalem-artig füllen sich die gut über 150 Stühle.
Das LCD-Display färbt sich weiß, zum #weltliteraturpreis gesellt sich ein Willkommen und das Konterfei von Willy Haas. Der deutsch-jüdische Publizist hat 1925 zusammen mit Ernst Rowohlt die Literarische Welt gegründet, die bis 1933 bestand.
Ganz in Weiß betritt Mara Delius die Bühne, die die Literarische Welt heute leitet, seit sie 1998 vor 20 Jahren vom Springer-Verlag als Samstagsbeilage der WELT wiederbelebt wurde, da war Mathias Döpfner noch Chefredakteur der WELT. Delius begrüßt frisch und flott und hat sichtlich Freude daran, gleich am Beginn die Sätze der Preisträgerin Virginie Despentes zu zitieren: »Ich schreibe für die hässlichen Frauen, die schlechtgefickten, die ungefickten, die unzufriedenen, die, die in keine Schublade passen.«
Dann kommt WELT-Chefredakteur Ulf Poschardt auf die Bühne. Mit Sakko und Pullunder wirkt er dort etwas underdressed, um den in diesen Jahr erstmals vergebenen Preis »Welt von morgen« zu überreichen. Autorinnen und Autoren unter 25 waren aufgerufen, ihre Texte zum Thema »2028. Wie werden wir denken? Wen werden wir lieben? Was werden wir hassen?« einzureichen. Mit um die 30 Einsendungen habe man gerechnet, so Poschardt, schließlich waren es um die 150. Fünf Finalisten wurden ausgewählt, und per Online-Abstimmung gewann schließlich die 24-jährige Peregrina Walter mit ihrem Text »Wir (2028)«. Er kann online auf der Website der WELT nachgelesen werden. Auch Walter kam flott auf die Bühne. Sie habe keinen Dankestext vorbereitet, weil sie ja nicht wissen konnte, ob sie gewinne, aber wenn sie gewinne, dann wisse sie ja, was sie sagen würde.
Die Laudatio auf Virginie Despentes hielt Helene Hegemann. Dafür eine 26-Jährige auszuwählen, schien ungewöhnlich, doch war es genau die richtige Wahl. Ihr ebenfalls frischer und direkter Vortragsstil, die Mischung aus Information und persönlicher Bewunderung traf bei dieser Preisträgerin direkt auf den Punkt. Es hätte, so Hegemann, an ihrer Stelle natürlich auch ein 70-Jähriger stehen können, dessen literarische Expertise durch viele andere Stellen beglaubigt sei, doch dass sie nun hier stehe, sei auch ein Verdienst der Arbeit von Virginie Despentes.
Die französische Schriftstellerin Virginie Despentes wird mit dem Preis für ihr umfassendes literarisches, filmisches und feministisches Schaffen gewürdigt. Despentes arbeitete als Prostituierte, Filmemacherin (»Baise-moi«), Künstlerin und Jurorin des Prix Goncourt, des bedeutendsten französischen Literaturpreises. Ihre unlängst beendete Trilogie um Vernon Subutex, der in die Armut abgleitet, scheint das vorweggenommen zu haben, was die Gelbwesten derzeit in Frankreich auf die Straßen treibt.
Virginie Despentes bedankt sich kurz und sehr freundlich – und dann wird im Saal und im gegenüberliegenden Journalistenclub gefeiert.
Und wenn man später an diesem Abend wieder mit dem Mantel in die Kälte Berlins tritt, ist man ein klein wenig erstaunt und überrascht, dass Literaturpreise so frisch, flott, selbstverständlich, nahtlos, ohne Pausen, langweilige Reden und technische Probleme über die Bühne gehen können.
Wolfgang Tischer
Virginie Despentes; Claudia Steinitz (Übersetzung): Das Leben des Vernon Subutex 1: Roman. Gebundene Ausgabe. 2017. Kiepenheuer&Witsch. ISBN/EAN: 9783462048827. 22,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel