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»Er ist keiner von uns!« – BookTok-Community gegen Denis Scheck bei den BookTok-Awards

Der Video-Filter macht es möglich: BookTokerin @janes.wonda parodiert Denis Scheck (Foto: Screenshot, TikTok)
Der Video-Filter macht es möglich: @janes.wonda parodiert Denis Scheck (Foto: Screenshot, TikTok)

Unter dem Hashtag #BookTok reden meist junge Leserinnen über Bücher aus den Genres Romance und Fantasy. Umso entsetzter ist man dort, dass ausgerechnet ein »alter weißer Mann« bei den erstmals ausgelobten TikTok Book Awards mitmischt: Literaturkritiker Denis Scheck.

Falls Sie schon etwas älter sind, kennen Sie die Video-Plattform TikTok vielleicht nur vom Hörensagen oder von Ihren Kindern. Es gibt gute Gründe, TikTok zu meiden. Wie bei allen kostenlosen sozialen Netzwerken bezahlt man hier mit seinen Daten. Bei TikTok könnten diese nach China wandern. Berichten zufolge hat Bytedance, das chinesische Unternehmen hinter TikTok, Kritiker und Mitarbeiter überwacht und Beiträge zensiert. Viele westliche Regierungseinrichtungen verbieten mittlerweile die App auf Diensthandys.

Nachtrag vom 17.10.2023: Per Mail teilt uns Tiktok mit, dass Bytedance sich selbst nicht als chinesisches Unternehmen sehe. TikTok wiederum ist es wichtig zu betonen, dass die Daten des Dienstes in den USA, Malaysia und Singapur gespeichert seien.

Verlage und Buchhandlungen lieben jedoch TikTok, denn Bucherwähnungen unter dem Hashtag #BookTok bringen Umsatz. Erstmals kooperierte die Frankfurter Buchmesse im Vorjahr mit TikTok. Allerdings könnte Bytedance künftig aufstrebende Autorinnen und Autoren auf eigene Verlage umleiten, befürchten Kritiker. Zudem zweifelte unlängst das Branchenmagazin Publishers Weekly daran, ob der TikTok-Effekt anhalten werde.

TikTok macht Buch-Bestseller …

Seit kurzem gibt es in Deutschland eine #BookTok-Bestsellerliste, die vom Börsenblatt stets per Eilmeldung verkündet wird, und erstmals werden zur Frankfurter Buchmesse die »TikTok Book Awards« in mehreren Kategorien vergeben.

Denn auf TikTok hat sich eine starke Buchgemeinschaft gebildet. Sie widerlegt das Vorurteil, dass junge Menschen nur noch kurze Videos konsumieren, weil die Aufmerksamkeitsspanne für mehr nicht mehr reiche. Es sind überwiegend Leserinnen, die auf TikTok nach eigenen Aussagen einen »Safe Space« gefunden haben, um offen und ehrlich über Bücher und Inhalte zu sprechen, die an anderen Orten und von der Literaturkritik belächelt werden. Schwerpunktmäßig Liebesgeschichten, Romance, Young und New Adult und Fantasy werden unter dem Hashtag #BookTok behandelt. Was andere darüber denken, ist den Leserinnen auf TikTok egal. Sie sind sich dessen bewusst, dass sie keine Hochliteratur lesen. Sie lesen aus Spaß und um dem Alltag zu entfliehen, und ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, dass man alternativ auch etwas »Wertvolles« lesen könnte. Obwohl die Videos millionenfach geklickt werden, ist man hier unter sich.

So gelangen auf TikTok besprochene Bücher ganz nach oben auf die Bestsellerlisten, wie beispielsweise die Romane von Colleen Hoover und Rebecca Yarros.

… die bei Denis Scheck in der Papiertonne landen

Dort wiederum geraten die Werke ins Sichtfeld des Literaturkritikers Denis Scheck, der in seiner Sendung »druckfrisch« regelmäßig die Titel der Bestsellerliste bespricht. Die von der TikTok-Gemeinschaft geliebten Bücher landen bei Scheck ausnahmslos in der Papiertonne.

»Eine öde Dreiecksgeschichte über eine Frau, die in ihrer Ehe Gewalt erfahren hat, und nun ihre Jugendliebe wiedertrifft (…) nur eine Schmonzette«, so Scheck über ein Buch von Colleen Hoover. Rebecca Yarros‘ Roman »Fourth Wing« ist für Scheck »dumpfmilitaristische Fantasy, deren literarische Flughöhe mit denen der Drachen im Roman bei weitem nicht mithalten kann«. Und über Marah Woolf urteilt Scheck: »Ihre Romane erscheinen im Eigenverlag – und so lesen sie sich auch.«

Erstmals werden 2023 auf der Frankfurter Buchmesse die TikTok Book Awards in unterschiedlichen Kategorien vergeben. Eine davon lautet »Community Buch des Jahres«. Und wen haben die Veranstalter TikTok und Frankfurter Buchmesse ausgesucht, um als die Shortlist dieser Rubrik festzulegen?

Jemanden aus der Community?

Nein. Denis Scheck.

Warum sitzt Denis Scheck in der #BookTok-Jury?

Selbst als Nicht-TikToker wundert man sich, warum der omnipräsente Literaturkritiker, ohne den heutzutage scheinbar keine Literaturveranstaltung und kein Literaturwettbewerb mehr auskommt, jetzt auch noch bei TikTok mitmischt, wo er doch mit den dort geliebten Büchern so gar nichts anfangen kann.

Literaturkritiker und Jane-Austen-Fan Denis Scheck (Foto: Tischer)
Kein Buch-Event ohne ihn: Auch bei den »TikTok Book Awards« mischt Literaturkritiker Denis Scheck mit (Foto: Tischer)

Schecks Shortlist zum »Community Buch des Jahres« liest sich wie die Literaturempfehlung eines Deutschlehrers, der den Kindern mal zeigen will, was für sie geeignete gute Literatur ist. Tatsächlich ist der dort zu findende Roman »Corpus Delicti« von Juli Zeh prüfungsrelevant beim kommenden hessischen Abiturjahrgang.

Die auf der Longlist vorhandenen Bücher von Colleen Hoover und Rebecca Yarros hat Scheck aussortiert.

BookTok-Community gegen Denis Scheck

Seit Tagen herrscht daher Aufregung und Unverständnis unter dem Hashtag #BookTok. »Diese Buchauswahl ist total Schrott. Es ist nicht unsere Bubble, die hier repräsentiert wird«, ist dort zu hören und »Die [von Scheck ausgewählten] Bücher waren hier nie präsent.«

@lisasbookshelftour

Sagt mir unbedingt wie ihr das seht und teilt das Video wenn ihr meine Meinung teilt! #booktokawards2023 #booktokaward #kontrovers #rassismus #booktok

♬ Inspiring Cinematic (Cover) – Pieeto musik
Ihr Video hat mittlerweile über 25.000 Aufrufe und über 2.500 Likes: BookTokerin @lisasbookshelftour kritisierte als eine der ersten die Wahl Schecks zum Juror.

Nahezu alle BokTokerinnen betonen in ihren Videos, dass sich ihre Kritik nicht gegen die Bücher und ihre Autorinnen oder Autoren richte, sondern gegen Schecks Auswahl – und gegen Denis Scheck selbst: »Es geht nicht, dass ein alter weißer Mann entscheidet, was für die Community in Ordnung ist.« »Er ist keiner von uns!« Einige verweisen darauf, dass Scheck sich in der Vergangenheit gegen die Änderung rassistischer Begriffe in Kinderbüchern ausgesprochen habe und dazu auch noch auf Blackfacing setzte. Bei der Würdigung von Nobelpreisträgerin Annie Ernaux habe er eine sexistische Sprache verwendet – und immer wieder wird Schecks Urteil über die bei BookTok geliebten Bücher angeführt. Die Wahl und Auswahl von Denis Scheck sei »ein Schlag in die Magengrube für die ganze Community«. »Der Award soll uns repräsentieren, aber mit der Titelauswahl ist das nicht gelungen«, so ein weiteres Urteil.

@janes.wonda

Starring: @Shh! It’s me. Wir gönnen natürlich jedem seine Platzierung. Die riesige Fanbase der Kings ist mir Auszeichnung genug. ♥️🫶

♬ Originalton – Jane S. Wonda
Der Video-Filter macht es möglich: @janes.wonda parodiert Denis Scheck

Denn dass es in diesem Jahr einen eigenen Award für auf TikTok besprochene Bücher gibt, finden alle gut. Und auch die Shortlists der anderen Rubriken wie »#BookTok Autor*in des Jahres« (ausgewäht von Sven ja Pütz, Social Media Managerin der Frankfurter Buchmesse) oder »#BookTok Creator*in des Jahres« (ausgewählt von Creator Younes Zarou) werden nicht infrage gestellt.

Einige TikTokerinnen mutmaßen, dass »Gelder von A nach B geflossen« seien und Scheck auch deshalb in der Jury sitze.

Was sagt TikTok zu Schecks Auswahl?

Das literaturcafe.de wollte wissen, warum Denis Scheck auch bei den BookTok-Awards mitmischt, und wir haben bei TikTok Deutschland nachgefragt. Warum Scheck als Juror ausgerechnet für die Rubrik »Community Buch des Jahres« ausgewählt wurde, wird nicht direkt beantwortet. Man sagt uns eher allgemein, die Auswahl der Jury-Mitglieder für die Shortlists solle einerseits die BookTok-Community und andererseits die Buchbranche insgesamt repräsentieren und zusammenbringen.

Ob und in welcher Höhe Denis Scheck für seine Tätigkeit ein Honorar erhalte, dazu äußert sich TikTok grundsätzlich nicht.

Und wie sieht man bei TikTok Deutschland das Verhältnis zwischen den Buchvorlieben der Community und der der Literaturkritik? Man schätze den Austausch, egal wo dieser erfolge, sagt man uns. Dass es hier zu ganz unterschiedlichen Einschätzung kommen könne, sei ein Zeichen von Meinungsvielfalt und Pluralität.

Wie geht es weiter mit den TikTok Book Awards?

Und wie geht es weiter? Bei TikTok Deutschland habe man das Feedback aus der Community zur Kenntnis genommen. Man werde dieses für zukünftige Projekte evaluieren.

Noch bis zum 15. Oktober 2023 kann die BookTok-Community darüber abstimmen, wer in den verschiedenen Rubriken gewinnt. Einige sagen in ihren Videos, dass sie die Abstimmung in der Rubrik »Community Buch des Jahres« boykottieren, und sie fordern auch andere dazu auf. Alternativ, so schlägt eine BookTokerin vor, solle man lieber in der Kategorie »Verlag des Jahres« für dtv abstimmen, wo die Bücher von Colleen Hoover und Rebecca Yarros in deutscher Übersetzung erscheinen.

Wolfgang Tischer

Nachtrag vom 21.10.2023: Und wer hat gewonnen?

Gewonnen in der Kategorie »Community Buch des Jahres« hat nach der finalen Abstimmung schließlich der acht Jahre alte Lebenshilfe-Ratgeber »Das Kind in dir muss Heimat finden« von Stefanie Stahl (Kailash Verlag/Penguin Random House). Als »Verlag des Jahres« konnte sich dtv durchsetzen. Alle anderen Gewinner sind beim Börsenblatt des Deutschen Buchhandels nachzulesen.

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5 Kommentare

  1. Hi 🙂 Eine kleine Anmerkung: Eine der mehrfach im Artikel erwähnten Autorinnen heißt Colleen Hoover. Der Vorname “Collen” ist falsch.

    Außerdem spielt meiner Meinung nach die Seriosität des Unternehmens TikTok für den Artikel maximal eine marginale Rolle, der entsprechende Absatz ist wertend, zentral im Artikel platziert und relativiert durch den gewissen Unterton den Anspruch der BookTok-Community, vernünftig und aus den eigenen Reihen für den “Community-Preis” repräsentiert zu werden.

    Dennoch finde ich große Teile des Artikels gut zusammengefasst und eingeschätzt.

    Herzliche Grüße

  2. Noch eine Anmerkung zur Äußerung von Scheck über Marah Woolf: »Ihre Romane erscheinen im Eigenverlag – und so lesen sie sich auch.«

    Ihre Bücher erscheinen nicht nur im Selbstverlag, sondern auch bei den Verlagen Piper, Dressler und Oetinger. Das verschweigt Scheck entweder absichtlich, oder er weiß es schlicht und einfach nicht.

    Was er aber mit Sicherheit weiß, dass auch berühmte Autorinnen und Autoren manchmal Selbstverleger waren: Jane Austen, James Fenimore Cooper, Marcel Proust, Mark Twain, Virginia Woolf usw. – und dazu noch etliche Exil-Autoren, die in der Fremde keinen Verlag fanden. Und darunter fallen in der Zeit von 1933 bis 45 doch einige Namen.

    Wenn Scheck also mit dem Schlagwort Eigenverlag / Selbstverlag pauschal Bücher abwertet, dann zeigt er nur eins: Seine Literaturkritik ist nicht sachlich fundiert, sondern so emotional wie die Buchempfehlungen überschwenglicher BokTokerinnen. Nur verbirgt Scheck es besser…

  3. Also, wenn ich im Artikel lese:
    »Es sind überwiegend Leserinnen, die auf TikTok nach eigenen Aussagen einen »Safe Space« gefunden haben, um offen und ehrlich über Bücher und Inhalte zu sprechen, die an anderen Orten und von der Literaturkritik belächelt werden. Schwerpunktmäßig Liebesgeschichten, Romance, Young und New Adult und Fantasy werden unter dem Hashtag #BookTok behandelt. Was andere darüber denken, ist den Leserinnen auf TikTok egal.«

    Hm…, wie rücksichtslos die Leserinnen gegen Denis Scheck vom Leder ziehen, offenbart, dass es ihnen ganz und gar nicht »egal« ist, wie andere über die von ihnen favorisierte Lektüre denken! Inhaltliche Auseinandersetzung scheuen sie aber und konzentrieren sich lieber auf Äußerlichkeiten. Ist die Gesellschaft insgesamt nicht gerade mittendrin, Äußerlichkeiten zu überwinden und Diversität zu begrüßen, ja ausdrücklich zu fördern?

    Für sich selber beanspruchen die TikTok-Leserinnen einen »safe place«, aber einen renommierten Literaturkritiker diskriminieren sie unbesorgt als »alter weißer Mann«. Alters- und Geschlechtsdiskriminierung gebündelt in einer rassistischen und klischeehaften Floskel. Interessant zu erleben, welche Ressentiments in den digitalen Bücherecken schlummern… Finster!

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