Fünf Bücher sind in der Kategorie »Belletristik« für den Preis der Leipziger Buchmesse 2019 nominiert. Unser Textkritiker Malte Bremer hat sie sich angesehen und macht den Buchhandlungstest: Will man die Bücher nach den ersten Seiten weiterlesen? Was nützt es , wenn man sich erst 100 Seiten quälen muss, bis ein Roman endlich angeblich Fahrt aufnimmt, sprachlich und inhaltlich? Das ist verplemperte Lebenszeit! Welche Lebenszeit lohnt sich für Leipzig?
Kenah Cusanit: Babel
Bärenstarker Anfang: Da empfiehlt ein gewisser Koldewey: »Gehen Sie, Buddensieg! Wir sind geschiedene Leute. Melden Sie sich als Kriegsfreiwilliger, vielleicht finden Sie an der Front noch einen anständigen Tod!« Aber Buddensieg überlebt und versieht in Berliner Museen Fundgegenstände aus Babylon mit Inventarnummern.
Es folgt ein Perspektivwechsel auf Koldewey: Der liegt Pfeife rauchend auf seinem Bett und beobachtet durch ein Fliegengitter einen Fluss, der an den Ruinen (von Babylon) entlangfließt, und macht sich Gedanken über getrockneten Lehm, Mesopotanisches Gelb und Angeschwemmtes. Dass er krank ist, wird nicht erzählt, sondern ergibt sich daraus, dass Koldewey sich Liebermeisters Grundriss der inneren Medizin auf seinen Bauch legt, als ob es die Symptome lindern könne.
So soll es sein: Da wird nicht alles haarklein vorgekaut, denn wir sehen und fühlen und denken wie Koldewey: Wir bekommen die Geräusche der Ausgrabungsstätte mit oder wie Koldewey zentimeterweise Entfernungen zu schätzen versucht. Das irritiert, ja: fasziniert! Was ist das für ein Mensch, der solche Ratschläge gibt?
Kenah Cusanit: Babel: Roman. Gebundene Ausgabe. 2019. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG. ISBN/EAN: 9783446261655. 23,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Matthias Nawrat: Der traurige Gast
Irgendwie kann ich damit nichts anfangen. Der Text spricht mich nicht an. Der Ich-Erzähler teilt mir mit, dass er am dritten Sonntag im Januar mit der U-Bahn zur Hasenheide am Südstern auf die andere Seite der Stadt fuhr, weil es dort eine Kirche gab, in der sich die polnische Gemeinde traf. Er aber ging nicht zur Kirche. Genau gegenüber der Kirche befand sich das Lokal Mały Książę. Das ist Polnisch und bedeutet Der kleine Prinz. Warum nicht gleich so, statt zu irritieren? Und was bitte ist bei einer Kirche »genau gegenüber«? Gegenüber dem Haupteingang? Der Rückseite? Dem Seitenschiff? Und wenn ja: welchem?
Im Kleinen Prinz gesellte sich ein halbtauber Klavierstimmer zu ihm, der auch polnisch sprach und Pierogi bestellte. Und dann bezahlte der Ich-Erzähler und ging wieder und und und … genug Zeit verplempert!
Matthias Nawrat: Der traurige Gast. Gebundene Ausgabe. 2019. Rowohlt Buchverlag. ISBN/EAN: 9783498047047. 22,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise
Der 99-jährige Winterberg sitzt im Zug und beklagt, dass die Schlacht bei Königgrätz durch sein Herz gehe. Ich habe keinen Schimmer, wovon Winterberg redet, habe vielleicht mal irgendwann den Namen gehört, das war es auch schon. Ein Gemälde gibt es auch. Fein.
Aber was hat Winterberg damit zu schaffen, war schließlich schon 1866? Jetzt wird es sprachlich-inhaltlich seltsam, denn »Die kleine Bahn fuhr langsam und wankte wie ein einsames verlassenes Schiff ohne Kapitän auf hoher See.« Dieses Schiff ist also einsam und verlassen und ohne Kapitän – gleich dreimal der gleiche Inhalt: Sowas nennt man gemeinhin Kitsch. Wie wäre es hier mit einsam und verlassen, aber mit Kapitän? Zwar unlogisch, aber zumindest etwas tröstlicher! Muss ich mich etwa auf mehr derlei einstellen?
Schaun mer mal: Es stellt sich heraus, dass Winterberg kein Selbstgespräch hält, sondern zumindest einen Zuhörer hat, nämlich den lieben »Herr Kraus«! Der muss sich anhören, dass diese Schlacht der Anfang aller unserer Katastrophen gewesen sei, dass für immer verloren war, wer im Zeichen dieser Schlacht geboren sei, so wie er verloren sei und auch der liebe Herr Kraus, ob der wolle oder nicht. Dann verwechselt Winterberg Wildschweine mit Rehen und sabbelt weiter eifrig weiter ohne Punkt und Komma. Die hat der Autor zu unserem Glück richtig gesetzt!
Dieses pausenlose Schwafeln macht neugierig, ungeachtet oder gerade wegen Winterbergs überraschender Gedankensprünge. An manchen Stellen musste ich richtig laut lachen, so grotesk zog Winterberg in seinem Monolog vom Leder. Herrn Kraus‘ Versuche, diesen erfolgreich zu unterbrechen, scheiterten in dem Teil, den ich gelesen habe.
Ach ja: Dieser Herr Kraus ist übrigens der Ich-Erzähler in diesem Roman. Und der macht seinen Part ausgesprochen gut!
Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise: Roman. Gebundene Ausgabe. 2019. Luchterhand Literaturverlag. ISBN/EAN: 9783630875958
Anke Stelling: Schäfchen im Trockenen
Seltsam: Auch hier teilt von Anfang an eine Person (wohl die Mutter?) einer Bea wortreich mit, dass es »keine Eindeutigkeit« gebe, dass sie das Beste sei, was ihr je widerfahren sei, ihr aber gleichzeitig viel lieber wäre, Bea würde nicht existieren usw. usw. Letztlich der Beweis, dass es eben keine Eindeutigkeit gibt.
»Du hast recht, mein Schatz. Es stinkt. Nach uns. Nach Familie. So köstlich, geborgen und eklig, hau ab! Komm an mein Herz. Und erinnere dich, dass du da weg musst.«
Nach diesem beeindruckenden Beginn folgen Erinnerungen der Mutter an ihre Eltern, was sie als »Sicherheit. Geborgenheit. Glückliche Kindheit.« zusammenfasst – und dann wird eine 08/15-Midlife-Crisis dermaßen ausgewalzt, dass ich nach der vierten Text-Seite jede Lust verloren habe, das noch weiter zu verfolgen: Gähn und Schnarch!
Anke Stelling: Schäfchen im Trockenen: Roman. Gebundene Ausgabe. 2018. Verbrecher. ISBN/EAN: 9783957323385. 22,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Feridun Zaimoglu: Die Geschichte der Frau
Was ein pseudo-religiöses Moses-Geschwafel, sprachlich sperrig (soll wohl biblisch sein: aber in welcher Übersetzung?), inhaltlich mit Pathos aufgeladen, dass es nur so knirscht an allen Enden und Ecken:
Moses kennt Worte aus Luft und Wind. Er kann die schnellenden Schatten, die uns beißen, vertreiben.
Meiner Treu: Worte aus Luft? Worte aus Wind? Beißende Schatten?
Und was wird da auf der Buchrückseite gelobhudelt: Ein literarisches Abenteuer! Ein großer Gesang! Ein feministisches Manifest! Ein unverfrorenes Bekenntnis zur Notwendigkeit einer neuen Menschheitserzählung – aus der Sicht der Frau!
Und ich dachte immer, Feridun Zaimoglu sei ein Mann!
Feridun Zaimoglu: Die Geschichte der Frau: Roman. Gebundene Ausgabe. 2019. Kiepenheuer&Witsch. ISBN/EAN: 9783462052305. 22,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Malte Bremer