Lolita« von Vladimir Nabokov. Klassiker der Weltliteratur und Skandalbuch. Der Roman, erstmals 1958 in den USA erschienen, zählt zu jenen Büchern, deren Inhalt wir scheinbar alle kennen, ohne nur eine einzige Zeile davon gelesen zu haben. Lolita. Ein Titel und ein Name, der sich im kollektiven Sprachgebrauch verankert hat, als die verführerische Kindfrau. Ein Missverständnis, dem sich das Literaricum in Lech am Arlberg in seiner 4. Ausgabe annahm.
Schlimmes Verbrechen in schönen Worten
»Lolita« ist die knallharte Geschichte eines Pädophilen, der ein zwölfjähriges Mädchen missbraucht. Nabokov treibt ein perfides Spiel, lässt diesen Humbert Humbert von seinen Verbrechen in schönsten Worten in der Ich-Perspektive erzählen. »Bei einem Mörder können Sie immer auf einen extravaganten Prosastil zählen«, sagt Humbert Humbert. Reue kennt er bis zum Schluss nicht.
Es erscheint gewagt, dass man beim 4. Literaricum vom 18. bis 21. Juli 2024 ausgerechnet dieses Werk in den Mittelpunkt stellt. Denn das ist das Konzept dieses von Michael Köhlmeier und Raoul Schrott mit ins Leben gerufenen Literaturfestivals in Lech am Arlberg. Ein Klassiker wird vielfältig durchleuchtet und Bezüge zu aktuellen Büchern und Themen hergestellt. Kuratiert wird die jährliche Veranstaltung von Nicola Steiner, Leiterin des Zürcher Literaturhauses und ehemalige Moderatorin des Schweizer Literaturclub.
Für die Schriftstellerin Nora Bossong war es zu simpel und naheliegend, Nabokovs Roman im Licht von #MeToo und aktuellen Macht- und Missbrauchsberichten zu reflektieren. Bossong war eingeladen, in diesem Jahr die Eröffnungsrede des Literaricum zu halten. In den Jahren vor ihr Sprachen Denis Scheck über »Stolz und Vorurteil« und Elke Heidenreich zu »Bartley, der Schreiber«.
Mehrdeutigkeit und religiöse Bezüge
Nora Bossong konzentriert sich auf das Wort »confession« im fiktiv-dokumentarischen Untertitel von Lolita, der in der deutschen Übersetzung »Die Bekenntnisse eines Witwers weißer Rasse« lautet. Bekenntnisromane von unzuverlässigen Erzählern waren damals auch in Deutschland populär, von Stiller bis Oskar Matzerath und natürlich den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull, konstatiert Bossong. Lolita scheint sich hier einzureihen.
Der 1899 in Russland geborene Nabokov verstand Lolita auch als Liebeserklärung an die englische Sprache, und Bossong gibt zu bedenken dass, »confession« im Englischen so viel mehr bedeuten könne: Bekenntnis, Geständnis oder Beichte. Bossong schlägt sogar den Bogen zu den Bekenntnissen von Kirchenvater Augustinus. Kurz ist man über diesen religiösen Bezug verwundert, um dann mit Bossong festzustellen, dass die religiösen Referenzen tatsächlich gleich am Anfang des Lolita-Textes zu finden sind. Vom Licht ist am Anfang des Romans die Rede, von Seraphim und Dornengestrüpp. Humberts Bekenntnis berichtet jedoch nicht von der Hinwendung zu Gott, da er sich selbst für einen hält. Hören Sie ein ausführliches Gespräch mit Nora Bossong über »Lolita« im Podcast des literaturcafe.de.
Der Schauspieler Thomas Sarbacher hatte wieder die Aufgabe, dem Text und diesmal der Figur des Humbert Humbert eine Stimme zu geben und aus dem Roman eine eineinhalbstündige »Hörfassung« zu erstellen. Sarbacher liest am Morgen nach der Eröffnung und erledigte beide Aufgaben wieder mit Bravour. Wie man ein solches Werk für die Lesung bearbeitet, davon erzählt Thomas Sarbacher im Podcast des literaturcafe.de.
Zwei Verfilmungen und toxische Beziehungen
In diesem Jahr muss es beim Literaricum einen Schlenker zum Film geben, denn ohne Stanley Kubricks Verfilmung aus dem Jahre 1962 hätte sich die Figur der Lolita nicht so vehement in unser Bewusstsein drängen können. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen lobt Kubrick, der aus Nabokovs Vorlage einen Film-Noir mit komödienhaft-satirischen Zügen schuf, der das Thema Pädophilie jedoch gänzlich ausblendet. Tatsächlich hat Nabokov für Kubrick ein Drehbuch geschrieben, das den Film jedoch sechs Stunden lang gemacht hätte und letztendlich als unverfilmbar galt. Kubrick schrieb das Drehbuch kurzerhand selbst um, der Vorspann nennt dennoch werbewirksam Nabokovs Namen. Gänzlich misslungen, so Bronfen, sei die Neuverfilmung von 1997 mit Jeremy Irons in der Rolle des Humbert Humbert, um dann am Ende festzustellen, dass es beide Filme nicht unbedingt benötigt hätte. Einen unzuverlässigen Erzähler das Buch, aber nicht der kommerzielle Film. Was können wir Humbert Humbert schon glauben? Hören Sie demnächst dazu mehr im Podcast des literaturcafe.de.
Es ist das abgegriffene Wort der »toxischen Beziehung«, die am Freitagabend auch Büchner-Preisträgerin Therézia Mora nach Lech führt, die von Alexander Wasner mit tastenden Worten befragt wird. Umso deutlicher gibt Mora Auskunft über ihre Figur »Muna« und deren Opferrolle im gleichnamigen Roman. Auch mit Therézia Mora wird es demnächst eine Podcast-Folge geben.
Etwas verunglückt ist die Diskussion über »Tabus in der Literatur« am Samstagmittag. Zum einen werden lediglich die an anderen Orten schon genügend behandelten Schlagwortthemen wie das Streichen rassistischer Begriffe oder das Gendern listenartig von Moderator Raoul Schrott abgefragt, der sich zudem keinesfalls moderatorenhaft neutral gibt.
Den beiden hochkarätigen Autoren an seiner Seite hätte man eine bessere Bühne geben können. So hatte man das Glück, dass das Buch »Toxische Weiblichkeit« der eingeladenen Sophia Fritz just zum Literaricum auf der SPIEGEL-Bestsellerliste steht. Doch über das Buch und die Thesen Fritz‘ wurde nicht wirklich gesprochen. Und auch der Philosoph Philipp Hübl war mehr Erklärer und Zahlengeber und hatte nicht die Gelegenheit, die klugen Analysen seines Buches »Moralspektakel« vertiefter darzustellen.
Blick auf die Details
Das Gespräch Nicola Steiners mit dem griechisch-schwedischen Autor und Übersetzer Aris Fioretos bildete den abschließenden Glanzpunkt des Literaricums.
Mit dem Übersetzerinnen und Übersetzern eigenen Detailblick zeigt Fioretos noch einmal Nabokovs Sprach- und Bildvirtuosität und spannt somit den Bogen zu Bossongs Beginn. »Mundmirakel«, nennt Fioretos das, was Nabokov betrieb. Nabokov, der zunächst auf Russisch und dann auf Englisch schrieb, reichte eine Sprache für seine Wortkunst nicht aus. Aris Fioretos wird demnächst auch im Podcast des literaturcafe.de zu hören sein.
Dichten im Auftrag:
Clemens J. Setz ist Poeta Laureatus
Seit dem letzten Jahr hat das Literaricum auch seinen eigenen Literaturpreis, der am Sonntagmorgen verliehen wird. Eine Jury kürt den Poeta Laureatus. Die 15.000 Euro, mit denen dieser Titel honoriert wird, sind mit einer konkreten Gegenleistung verbunden.
Der »lorbeergekrönter Dichter« verpflichtet sich mit der Annahme des Titels, das aktuelle gesellschaftliche oder politisch Zeitgeschehen mit einem monatlichen Gedicht zu kommentieren.
Erster Preisträger war im vergangenen Jahr Michael Krüger, in diesem Jahr dichtet Clemens J. Setz. Leider konnte Letzterer krankheitsbedingt den Preis nicht persönlich entgegennehmen. Raoul Schrott trug stattdessen Setz‘ Gedichte vor und der Poeta Laureatus des Vorjahres, Michael Krüger, las nicht minder beeindruckend einiger Gedichte aus seiner »Amtszeit« vor. Die Werke beider Titelträger und Erläuterungen dazu können u. a. auf der Website des SWR angehört werden, der sie parallel mit anderen Medien wie ORF oder dem Standard veröffentlicht.
Dass Setz‘ erstes Gedicht einen Schmetterling sprechen lässt, schlägt – unbewusst und dennoch nicht minder beachtlich – einen feinen Bogen zu Nabokov, der nicht nur Autor und Literaturwissenschaftler, sondern auch Schmetterlingsforscher war.
Dass das Literaricum in diesem Jahr parallel zur nicht weit entfernten Eröffnung der Bregenzer Festspiele stattfand, mag nicht optimal geplant gewesen sein. Mehr Besucher wünscht man dem Literaricum allemal.
Im kommenden Jahr findet es vom 3. bis zum 6. Juli 2025 statt. Der zugehörige Klassiker wird noch bekannt gegeben.
Wolfgang Tischer