Erinnern = Leben / Jüdisches Leben in Deutschland / von Ulrich Struve

Juden in Deutschland heute
Und wie sieht heute, fünfzig Jahre nach dem Holocaust, jüdisches Leben in Deutschland aus? Gibt es so etwas wie deutsch-jüdische Normalität? Diesen Fragen geht Edward Serotta nach, ein international anerkannter Photojournalist, der für Newsweek und Time arbeitet, gelegentlich auch für die ZEIT und die Süddeutsche Zeitung schreibt.
     Juden in Deutschland heute. Eine fotografische Reise ist das eindrucksvolle Ergebnis fünfjähriger Recherchen im wieder vereinigten Deutschland. Seine ausgewogenen Reportagen und sensiblen Fotografien hat Serotta mit viel Feingefühl und Gespür für das sprechende Detail zusammengestellt, sodass ein Kaleidoskop deutsch-jüdischer Gegenwart entsteht. Der Gesamteindruck ist, bei allen Missverständnissen, Peinlichkeiten und Schwierigkeiten, der eines erfreulich zukunftweisenden, mitunter sogar entspannten Umgangs miteinander.
     In einem Prolog zeichnet Serotta die Geschichte der Juden in Deutschland anhand der vier jüdischen Friedhöfe Berlins nach. Er berichtet über Vertreibung und knappes Entrinnen, indem er den Spuren derjenigen nachgeht, die sich nach dem Krieg in Tel Aviv, London oder New York eingerichtet haben und nicht nach Deutschland zurückkehren wollten. Er fragt nach dem Umgang der Deutschen mit der Vergangenheit, berichtet über das zunehmende Interesse an jüdischer Kultur, über Teilnehmer von Aktion Sühnezeichen und deutsche Freiwillige in israelischen Altersheimen.
     Dabei berichtet Serotta stets über Einzelschicksale, über individuelle Versuche der Vergangenheitsbewältigung, die er dann überzeugend mit größeren gesellschaftlichen Trends und politischen Entwicklungen verknüpft, ohne das deutsch-jüdische Verhältnis zu beschönigen oder schwarz zu malen. Zwischen den Zeilen sind allenthalben die unbefangene Neugier des Amerikaners und die Verwunderung eines amerikanischen Juden darüber spürbar, dass sich Juden in Deutschland wieder heimisch fühlen können. Und doch ist es eben das, was Serottas Buch — auch — dokumentiert. Juden in Deutschland heute ist ein engagiertes, wertvolles Buch. Es gestattet dem deutschen Leser, den Blick eines Beobachters von Außen einzunehmen und so etwas über sich selber zu erfahren.
     Auch lohnt es, Zeit mit Serottas Bildern zu verbringen, lange nachdem man das Buch zu Ende gelesen hat. Kluge, einfühlsame Dokumentarfotos sind es, mit einer starken ästhetischen Sensibilität. Manche sind Zeugnisse einer nüchtern zur Kenntnis genommenen Bedrohung, etwa die Kinderzeichnung einer Menorah in der jüdischen Grundschule Berlin mit der daneben an die Wand gehefteten Warnung des Bundeskriminalamtes vor Brief- und Paketbomben. Andere sind hoffnungsfrohe Bilder, wie die von der Parade zum Laubhüttenfest in der Oranienburger Straße in Berlin oder eine Aufnahme von einem augenscheinlich gelingenden, von Lachen erfüllten Schüleraustausch in Jerusalem. Wieder andere sind Portraits einer lebendigen jüdischen Gemeinschaft, ernste und fröhliche Gesichter gleichermaßen auf Sabbatfeiern, Bar Mitzwas, Hochzeiten oder einem Chanukka-Tanz.
     Auf einem dieser Bilder kann man, wenn man genau hinschaut, etwas verschwommen im Hintergrund ein Banner ausmachen. Sein Motto, über einen Davidsstern hingepinselt, gilt in gewisser Weise für alle, die über die deutsche und jüdische Vergangenheit nachdenken, schreiben und Filme drehen, die Gräber pflegen oder in Altenheimen arbeiten. »Erinnern = Leben« heißt es dort. Und zu lebendigem Erinnern, zur Reflektion über unseren Umgang mit der Vergangenheit, lädt Serottas schönes und bewegendes Buch immer wieder neu ein.

Edward Serotta, Juden in Deutschland heute. Berlin: Nicolai 1996, 160 Seiten, 110 Abb., gebunden, ISBN 3-87584-599-4, 68 DM.


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