Erinnern = Leben / Jüdisches Leben in Deutschland / von Ulrich Struve

»Les Vrais Riches« - Notizen am Rand
Gegen die Gefahr des erzwungenen, immer währenden Schweigens, gegen die drohende Grabesstille hat der junge Autor von »Les Vrais Riches« — Notizen am Rand angeschrieben. Das jüngst bei Reclam verlegte Tagebuch stammt aus dem Getto Lodz, eben jenem Ort, an dem Bubis' und Mehlers Spurensuche stattfand. Auf Jiddisch, Hebräisch, Polnisch und Englisch hat der Autor drei Monate lang, vom 5. Mai bis zum 3. August 1944, in den Rändern eines französischen Romans aus dem 19. Jahrhundert seine wachsende Wut und Verzweiflung festgehalten. Weniger eine Chronik als vielmehr ein Stimmungsbericht versetzt mit Reflektionen über Gott, die Welt und die »brutalsten Bestien, die die Menschheit je gesehen hat«, bricht das Tagebuch mit der Nachricht von der bevorstehenden Räumung des Gettos ab. Die Spur des Autors verliert sich in Auschwitz.
     Das Vorwort der Herausgeber und eine Zeittafel erläutern den näheren Kontext. Das Lodzer Getto, eingerichtet in einer geschäftigen Industriestadt, in der vor dem Krieg 230.000 Juden zuhause sind, ist das letzte noch in Polen bestehende Getto. Die umfassende Organisation möglichst »kriegswichtiger« Industrien im Getto ist der seidene Faden, mit dem der »Judenälteste« Mordechai Chaim Rumkowski das Überleben der Bewohner zu sichern versucht.
     Ende 1941 leben noch über 160.000 Menschen auf den 4,13 Quadratkilometern des Gettos. Am 20. Januar 1942 wird auf der Wannsee-Konferenz die »Endlösung« beschlossen. Auch in Lodz laufen daraufhin in großem Unfang Verschleppungen zu Vernichtungslagern an. Im September werden alle Kranken, alle älteren Menschen über 65 und alle Kinder unter 10 Jahren, 16.000 an der Zahl, mit kaum überbietbarer Brutalität aus dem Getto entfernt. Am 30. Juli 1944 weist die offizielle Getto-Chronik noch 68.000 Menschen aus. Als Lodz am 19. Januar 1945 von sowjetischen Truppen befreit wird, sind nur noch die 877 Mitglieder der so genannten »Aufräumkommandos« am Leben.
     Über den Autor der Notizen wissen wir nur wenig: dass er seit fünf Jahren mit seiner zwölfjährigen Schwester im Getto überlebt, seinen Vater dort sterben sieht, möglicherweise für den »Judenrat« arbeitet. Nur das Tagebuch, die Flaschenpost eines verzweifelten jungen Mannes an die Zukunft, bleibt erhalten. Kreuz und quer in hastigen Einträgen notiert, wo immer sich Platz auf den Seiten fand, ist es in »Les Vrais Riches« vollständig reproduziert. Im Schriftbild tritt eine verstörende Unmittelbarkeit zutage. Nicht nur der Inhalt der Zeilen und die zusehends tiefere Hoffnungslosigkeit machen betroffen.
     Auch der Kontrast zwischen den Notizen am Rand und dem als Schreibmaterial verwendeten Buch — François Coppées Die wahren Reichen — ist von bitterböser Ironie. Dicht neben Illustrationen gepflegter Pariser Bürger, ganz à la mode gekleidet, stehen Einträge über erste Kämpfe in Warschau oder einen zeitweiligen Stopp der Aussiedlungen. Neben Kapitelüberschriften wie »La Cure de Misère« klagt der Autor über die Ermordung der Juden von Wilna oder notiert: »Die Unsicherheit wächst ständig - wegen dem neuen Bedarf an Opfern...« Heil für das Elend ist hier nicht zu finden, nur der heroische Versuch, den Mördern nicht das letzte Wort zu lassen.

»Les Vrais Riches« - Notizen am Rand, hg. v. Hanno Loewy/Andrzej Bodek. Leipzig: Reclam 1997, 165 Seiten, kartoniert, ISBN 3-379-01582-2, 18 DM.


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