Erinnern = Leben / Jüdisches Leben in Deutschland / von Ulrich Struve

Wir sind die Letzten. Fragt uns aus
Mittlerweile ist die Mehrzahl der KZ-Überlebenden und Exilanten in einem Alter, das die Spurensuche unter Zeitzeugen zur dringlichen Spurensicherung werden lässt. In diesem Sinne wurden Hans Sahls Gedichtzeilen Wir sind die Letzten. Fragt uns aus zum Leitfaden für Anne Betten und Miriam Du-nour. Die Herausgeberinnen präsentieren rund 700 Auszüge aus 150 Interviews mit den »Jeckes«, deutschsprachigen Juden, die in den 30er-Jahren nach Palästina ausgewandert sind. Diese Mosaiksteinchen ohne Anspruch auf Geschlossenheit fügen sich zu einem teils bedrückenden, teils heiteren, aber stets faszinierenden Selbstportrait der Exilanten und ihrer Zeit.
     In fünf Kapiteln wird ein Bogen geschlagen von Kindheits- und Jugenderinnerungen über den Aufbau des neuen Landes zum Schicksal der Familien und der Aufarbeitung der Vergangenheit — bis hin zu späten Wiederbegegnungen mit Deutschen. All dies in einem kultivierten Deutsch, das an vergangene Zeiten gemahnt.
     Ein großes Verdienst von Wir sind die Letzten ist es, Fragen deutsch-jüdischer Identität besonders konzentriert ausgelotet zu haben. Weltlich gesinnte Zionisten der ersten Stunde, tiefgläubige Orthodoxe, ehemals völlig assimilierte »jüdische Deutsche« reflektieren auf das Ineinandergreifen von deutscher und israelischer Kultur in ihrem Lebensweg. So werden scheinbar klare Vorstellungen von Heimat und Fremde komplexer. Das sorgfältig betreute und ansprechend gestaltete Buch wird zur Herausforderung an unsere Zeit, in der Migrations- und Flüchtlingsbewegungen weltweit zunehmen und unlängst direkt vor den Toren Westeuropas »ethnische Säuberungen« organisiert wurden. Vor allem ist Wir sind die Letzten ein facettenreiches Zeugnis für die Umbrüche im Leben einer Generation. Eine lohnende Lektüre.

Wir sind die Letzten. Fragt uns aus, herausgegeben von Anne Betten/Miriam Du-nour. Gerlingen: Bleicher 1996, 456 Seiten, gebunden, ISBN 3-88350-037-2, 49,80 DM.
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