Erinnern = Leben / Jüdisches Leben in Deutschland / von Ulrich Struve

Shtika: Versuch, das Tabu zu brechen
Beileibe nicht allen Kindern jüdischer Überlebender wird die Gewalt der Lager durch die Aggression der Eltern vermittelt, die das eigene Leid zur Waffe im familiären Kleinkrieg machen. Naomi Bubis und Sharon Mehler berichten in Shtika, hebräisch für »Schweigen«, von der Allgegenwart eines zähen Schweigens, einer Verdrängung, die für die KZ-Überlebenden lebensnotwendig, für deren Kinder oft erdrückend ist. Die Autorinnen recherchieren unter Überlebenden des Lodzer Gettos und deren Kindern für ein Film-Projekt, das 1995 unter dem Titel »Nazi-Opfer brechen ihr Schweigen« realisiert wurde. Sie begleiten mehrere Familien in Israel, Deutschland und Polen, um aus dem Holocaust herrührende Berührungsängste zu dokumentieren und um sich indirekt an das Schweigen in der eigenen Familie heranzutasten.
     Shtika macht nur allzu deutlich, dass der Holocaust auch in den Familien, wo die Lagererfahrungen der Eltern kein Thema sind, dicht unter der Oberfläche stets präsent ist. Die Tabus können auch in der »2. Generation« enorme Schuldgefühle verursachen und tiefe emotionale Wunden schlagen. Der »Versuch, das Tabu zu brechen«, scheitert für die Autorinnen und die meisten der Interviewten letztlich an der Tiefe des Schweigens. Bubis und Mehler kommen zu dem Schluss, dass man das »Lebenselixier« der Opfer, die Verdrängung, respektieren müsse: »Die langen, stummen Jahre zwischen den Generationen sind nicht durch Gespräche in der Zukunft aufzuholen«.
     Als Dokument verdient Shtika Beachtung. Als fiktionalisierter Bericht — die Autorinnen treten etwa als »Ann« und »Sarah« auf — bleibt der Text merkwürdig unterkühlt. Trotz der mehrfach beteuerten aufwühlenden Emotionen und furchtbarer Alpträume, ist die Prosa nüchtern und verkopft. Stellenweise klingt sie sogar ein wenig überheblich und ist selbst vor Klischees nicht gefeit. Auch das ein Ausdruck des Schweigens, der nur partiell überwundenen Sprachlosigkeit?

Naomi Bubis/Sharon Mehler, Shtika: Versuch, das Tabu zu brechen. Frankfurt: Suhrkamp 1996, 240 Seiten, kartoniert, ISBN 3-518-39170-4, 16,80 DM.


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