StartseiteLiterarisches LebenDer Mann mit dem Elektroarchiv - Ein Nachruf auf Reinhard Kaiser (1950–2025)

Der Mann mit dem Elektroarchiv – Ein Nachruf auf Reinhard Kaiser (1950–2025)

Screenshot eines Beitrags, den Reinhard Kaiser 1997 für das literaturcafe.de schrieb
Screenshot eines Beitrags, den Reinhard Kaiser 1997 für das literaturcafe.de schrieb

Der Autor, Übersetzer und Lektor Reinhard Kaiser ist tot. Ein Nachruf von Wolfgang Tischer auf einen Mann, der sich als Autor und Übersetzer früh fürs Internet begeisterte und darin literarisch spazierte.

Spaziergänger in einer Welt ohne Google

Im Jahre 1996 hatten die meisten deutschen Verlage noch keine Website. »Dieses Internet« war suspekt. Braucht man das? Google gab es noch nicht, und Suchmaschinen hießen Lycos oder AltaVista. Social Media gab es ebenfalls noch nicht, und man tauschte sich in Newsgroups oder Foren aus. Die MySpace-Community sollte erst sechs Jahre später gegründet werden.

Im Jahre 1996 ging das literaturcafe.de online, wenngleich noch unter einer kryptischen URL.

Doch bereits im Jahre 1996 erschien im Eichborn Verlag ein erster literarischer Reiseführer fürs Internet mit dem schönen Titel »Literarische Spaziergänge im Internet – Bücher und Bibliotheken online«. Geschrieben hatte das schmale Büchlein der in Frankfurt lebende Schriftsteller und Übersetzer Reinhard Kaiser, der 1950 in Viersen geboren wurde.

Während die übrige literarische Welt diesem »neuen Medium Internet« reserviert gegenüberstand, war Kaiser von den neuen Möglichkeiten begeistert. Sein Buch war eine gedruckte kommentierte Linkliste, ergänzt um Essay und Betrachtungen zum Internet. Damals überaus hilfreich, denn Google gab es wie gesagt noch nicht.

Ein legendäres Zitat aus den Literarischen Spaziergängen im Internet von Reinhard Kaiser
Ein legendäres Zitat aus den Literarischen Spaziergängen im Internet von Reinhard Kaiser

Die »Literarischen Spaziergänge im Internet« war eines der ersten Bücher, das ich überhaupt im literaturcafe.de rezensierte. Ich lobte vor fast 30 Jahren nicht nur Inhalt, sondern auch Aufmachung, war doch ein Spitzweg-Gemälde auf dem Cover etwas völlig Unerwartetes bei diesem Thema.

»Wir mir das Choas im Netz zweimal nützlich war«

Im Jahr darauf, 1997, traf ich Reinhard Kaiser auf der Softmoderne in Berlin erstmals persönlich. Hier hielt er einen Vortrag, darüber welche unglaublichen Möglichkeiten das Internet für Autoren und Übersetzer bietet, indem man unbekannte Begriffe, die kein Wörterbuch listet, dort einfach recherchieren und nachschauen könne. Heute, im Zeitalter der omnipräsenten Google-Suche, der Normalfall, damals eine Sensation, von der Reinhard Kaiser begeistert berichtete. Es war eine Ehre, dass mir Kaiser seinen Vortrag in überarbeiteter Form als Beitrag fürs literaturcafe.de zur Erstveröffentlichung überließ. Der Beitrag »Wir mir das Choas im Netz zweimal nützlich war« ist heute noch abrufbar.

Unter dem Titel »Reinhard Kaisers Elektroarchiv« betrieb er selbst ab 1998 eine Website bei AOL, auf der er seine Texte, Links und Erfahrungen mit dem Medium Internet veröffentlichte.

Im Jahr 1999 war ich bei ihm daheim in Frankfurt zu Gast, um danach gemeinsam zu einer Veranstaltung in einer Buchhandlung in Königstein aufzubrechen, bei der wir beide gebucht waren, um über Literatur und Internet zu sprechen.

Autor, Lektor und Übersetzer

Die ganze Bandbreite - naja, eher ein sehr kleiner Ausschnitt - des literarischen Schaffens von Reinhard Kaisers.
Die ganze Bandbreite – naja, eher ein sehr kleiner Ausschnitt – des literarischen Schaffens von Reinhard Kaisers.

Doch Reinhard Kaiser war nicht nur der Mann mit dem Elektroarchiv. Als Übersetzer übertrug er Irene Dische, Susan Sontag und viele andere ins Deutsche, er brachte auch den barocken Simplicissimus Teutsch ins heutige Deutsch. Als Autor schließlich schrieb er für Erwachsene (»Der kalte Sommer des Doktor Polidori«) und Jugendliche. Mit »Königskinder – Eine wahre Liebe« gewann er den Deutschen Jugendliteraturpreis. Als Lektor betreute er viele Bände der »Anderen Bibliothek«. 2006 führte ich mit ihm und Co-Übersetzerin Elena Balzamo für den Podcast des literaturcafe.de ein Gespräch über das Buch »Die Wunder des Nordens«. Auch das ist nahezu 20 Jahre her.

Erst durch einen Nachruf des Programmleiters bei Galiani musste ich erfahren, dass Reinhard Kaiser in der Nacht vom 15. auf den 16. Mai 2025 im Alter von 75 Jahren verstorben ist.

»Nach einem entdeckerfreudigen, schöpferischen guten Leben und fünf Jahren des Verlierens hat er uns verlassen«, schreibt seine Familie in der Traueranzeige.

Wolfgang Tischer

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