
Wenn lebende Bestsellerautoren wie Ken Follett nicht mehr reichen: Die BBC erweckt Agatha Christie per KI zum Leben, um Schreibkurse zu geben. Ein faszinierendes Experiment zwischen Innovation und Nekromantie – oder doch nur Marketing-Gag mit ethischen Fragezeichen?
Die BBC Maestro-Plattform ist bekannt für ihre exklusiven Online-Masterclasses mit lebenden Koryphäen der Kreativbranche. Ken Follett unterrichtet dort »Writing Bestselling Fiction« über 22 Lektionen hinweg, während Margaret Atwood auf der konkurrierenden MasterClass-Plattform (einer kalifornischen Firma, die seit 2015 ähnliche Celebrity-Kurse anbietet) ihre Geheimnisse des kreativen Schreibens verrät. Doch was passiert, wenn selbst solche literarischen Größen nicht genügen? Die BBC hat eine Antwort gefunden, die so faszinierend wie verstörend ist: Man holt eine Tote zurück.
Die wiederbelebte Queen of Crime
Agatha Christie, die 1976 verstorbene »Queen of Crime«, ist seit Ende April 2025 wieder im Geschäft – als KI-generierte Dozentin einer BBC Maestro-Masterclass. Was klingt wie der Plot eines dystopischen Romans, ist tatsächlich das Ergebnis einer aufwendigen Kollaboration zwischen BBC Studios, den Christie-Nachlassverwaltern und einem Team von Christie-Experten.
Die Schauspielerin Vivien Keene wurde durch Gesichtsvermessung ausgewählt – sie bekam den Job buchstäblich »aufgrund der Form ihres Gesichts«, wie sie laut Deadline erklärte. Ihre Aufgabe: Christie am Schreibtisch sitzend so bewegungslos wie möglich zu verkörpern, da von der Autorin kaum Filmmaterial existiert. Auch Christies Stimme wurde mithilfe von KI-Technologie und restaurierten Audioaufnahmen nachgebildet. »Agatha Christie war von der Seite kaum gefilmt worden, und es gibt sehr wenig Filmmaterial, fast gar keines«, erklärte Keene zu den ungewöhnlichen Anforderungen ihres Jobs.
Wenn Experten Geister beschwören
Die technische Umsetzung mag beeindruckend sein, doch die inhaltliche Legitimation ist das eigentliche Verkaufsargument. Ein Team aus Christie-Experten, darunter Dr. Mark Aldridge (Solent University), Michelle Kazmer (Florida State University), Gray Robert Brown (University of Derby) und Jamie Bernthal-Hooker (University of Wisconsin-Madison), rekonstruierte die Kursinhalte ausschließlich aus Christies eigenen Worten – aus Briefen, Interviews und Schriften.
James Prichard, Christies Urenkel und CEO von Agatha Christie Limited, betont gegenüber The Guardian nachdrücklich: »Das [Drehbuch zur Masterclass] wurde nicht von einer KI geschrieben. Es sind führende Wissenschaftler, die alles ausgegraben haben, was sie über das Schreiben gesagt hat«. Eine wichtige Klarstellung in Zeiten, in denen KI-generierte Inhalte die Kreativbranche verunsichern.
BBC Maestro: Lebende gegen Verstorbene
Die BBC Maestro-Plattform positioniert sich als britisches Pendant zu MasterClass und wirbt mit über 40 Kursen zu einem monatlichen Preis von etwa zehn Dollar. Ken Follett, einer der erfolgreichsten Thriller-Autoren der Welt, bringt dort seine 50-jährige Erfahrung in 22 Lektionen unter. Auf der amerikanischen MasterClass-Plattform lehrt unterdessen Margaret Atwood, die Autorin von »Der Report der Magd«, kreatives Schreiben.
BBC Maestro CEO Michael Levine scherzte bei der Vorstellung des Christie-Kurses, dass nur die Werke Shakespeares und der Bibel ähnliche Verkaufszahlen erreichen wie Christies Bücher. Eine bemerkenswerte Aussage, die das Projekt in einen fast religiösen Kontext rückt – passend zur digitalen Wiederauferstehung.
Das Uncanny Valley der Literaturvermittlung
Der elfstündige Kurs mit elf Lektionen und zwölf Übungen kombiniert KI-generierte Bilder mit Archiv-Audio und verspricht Einblicke in Christies Methoden zu Spannung, Wendungen und unvergesslichen Charakteren. Bei der Präsentation im noblen Claridges Hotel war ein »Hauch von Uncanny Valley« spürbar – vermutlich lag es an den Augen, berichtete ein Journalist von Engadget. Das »Uncanny Valley« beschreibt das beunruhigende Gefühl, das entsteht, wenn menschenähnliche Darstellungen fast, aber nicht ganz realistisch wirken. Besonders deutlich wird dieser Effekt im Making-Of-Video des Kurses: Ab Minute 10:03 zeigt ein geradezu gruseliger Moment den direkten Übergang von der digitalen Christie zur realen Vivien Keene – ein faszinierender, aber verstörender Einblick in die technische Umsetzung.
Diese technische Unschärfe führt zum Kern der Problematik: Warum überhaupt diese aufwendige KI-Inszenierung? Hätte der Inhalt nicht ebenso gut in einem Dokumentarformat von Christie-Experten oder Prichard selbst präsentiert werden können? Die einzige plausible Antwort: Wir leben im KI-Zeitalter, und die Verantwortlichen fragen selten, ob sie sollten, sondern nur, ob sie können.
Ethik-Marketing in der KI-Ära
BBC Studios CEO Nicki Sheard betonte ausführlich, dass es »in unserer Branche so viele Diskussionen darüber gibt, wie KI anzuwenden ist« und man stolz darauf sei, dies »mit unglaublicher Sorgfalt und Handwerkskunst, großem Nachdenken und höchstem Respekt« getan zu haben. Solche Statements klingen verdächtig nach vorauseilender Schadensbegrenzung.
Prichard räumte gegenüber Telegraph durchaus Bedenken ein. »Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es keine Bedenken gäbe«, gesteht er. Gleichzeitig argumentiert er, dass das KI-Modell ohne Keenes Performance nicht funktioniere – ein Hinweis darauf, dass menschliche Elemente bislang unverzichtbar bleiben.
Die Industrialisierung der Nostalgie
Das Christie-Projekt steht exemplarisch für einen problematischen Trend: die Industrialisierung verstorbener Künstler-Persönlichkeiten. Bereits Peter Cushings Familie verklagte Disney, als der Schauspieler für »Rogue One« digital wieder auferstanden wurde. Das BBC-Projekt mag ethisch sauberer sein, da die Familie involviert war, doch es öffnet Türen für weniger skrupulöse Nachahmer.
Wie das Magazin Literary Hub treffend bemerkt: »Das zeigt, wie antisozial die Sicht der Tech-Industrie auf die Welt ist. Anstatt einen Kurs mit einem menschlichen Lehrer zu belegen, kann man ein KI-verstärktes Schreibseminar oder eine ›KI-first‹ Duolingo-Klasse nehmen«.
Wenn Tote bessere Lehrer sind als Lebende
Die Ironie ist nicht zu übersehen: Christie verkaufte über zwei Milliarden Bücher weltweit und schuf 66 Romane sowie 14 Kurzgeschichtensammlungen. Ihre Methoden und Techniken sind durchaus lehrreich. Doch braucht es dafür wirklich eine digitale Séance?
Dr. Mark Aldridge, der das Projekt wissenschaftlich begleitete, enthüllte beispielsweise, dass Christie in »Ein Mord wird angekündigt« ursprünglich einen anderen Mörder im Sinn hatte – eine Erkenntnis, die für angehende Krimiautoren durchaus wertvoll ist. Solche Einblicke hätten jedoch ebenso gut in einem traditionellen Dokumentarfilm oder Buch vermittelt werden können.
Das große Geschäft mit der digitalen Unsterblichkeit
BBC Maestro CEO Michael Levine beschrieb die Erschaffung der KI-Christie als »Traum, der wahr geworden ist«. Für die Plattform ist das Projekt zweifellos ein Marketing-Coup: Es generiert Aufmerksamkeit, Kontroversen und vermutlich auch Abonnenten, die neugierig auf das »weltweit erste« KI-Autorenteaching sind.
Das Produktionsteam wuchs auf über 100 Personen an, inklusive KI-Rendering-Experten, Hair-Stylisten und Toningenieuren – ein beträchtlicher Aufwand für 11 Lektionen. Man fragt sich, ob diese Ressourcen nicht besser in die Förderung lebender Autorinnen und Autoren investiert gewesen wären.
Lehrt Shakespeare bald Sonette?
Das Christie-Experiment dürfte erst der Anfang sein. Die Technologie ermöglicht bereits heute, dass bald Hemingway Journalismus lehren, Virginia Woolf Modernismus erklären oder Shakespeare höchstpersönlich das Verfassen von Sonetten demonstrieren könnte.
Die Frage ist nicht, ob die Technologie das ermöglicht – sie tut es bereits. Die Frage ist, ob wir eine Gesellschaft werden wollen, in der die Toten die Lebenden als Lehrer ersetzen, nur weil sie berühmter sind.
Fazit: Innovation oder Geisterstunde?
Die BBC hat zweifellos ein technisch beeindruckendes und inhaltlich sorgfältig kuratiertes Produkt geschaffen. Die Beteiligung des Christie-Nachlasses und die ausschließliche Verwendung authentischer Worte der Autorin machen das Projekt ethisch vertretbarer als viele andere KI-Experimente. Dennoch bleibt ein fahler Beigeschmack.
Die wahre Innovation wäre gewesen, zeitgenössische Krimiautorinnen und -autoren mit ähnlicher Sorgfalt und Ressourcen zu fördern. Stattdessen setzt die BBC auf digitale Nekromantie und verkauft sie als Fortschritt. Christie selbst, die zeitlebens eine Innovatorin war, hätte vermutlich weniger Verständnis für diese Art der »Innovation« gehabt, als ihre Erben behaupten.
Am Ende bleibt die KI-Christie das, was sie ist: ein faszinierendes technisches Experiment, das mehr über unsere Obsession mit Prominenz und Nostalgie verrät als über die Zukunft der Bildung. Wer wirklich schreiben lernen will, dem helfen lebende Mentoren immer noch mehr als digitale Geister – auch wenn letztere deutlich mehr Aufmerksamkeit generieren.
Der Kurs »Agatha Christie on Writing« ist auf BBC Maestro verfügbar. Die Tote unterrichtet, die Lebenden zahlen – ein perfektes Geschäftsmodell für das 21. Jahrhundert.
Victor Frankenstein ist wieder am Werk, und diesmal nutzt er statt der Knochensäge eine KI.