Zum ersten Mal bot das Literarische Quartett einen unerwarteten Mehrwert. Man muss über 600 Seiten nicht lesen und kann dennoch mitreden. Und dann fiel noch Herr Augstein auf.
Immer wieder wird dem Literarischen Quartett vorgeworfen, dass dort neben Thea Dorn keine echten Literaturkritiker mehr säßen. Nun kann man lange darüber streiten, was denn einen echten Literaturkritiker ausmacht, doch mit Ijoma Mangold war diesmal ohne Frage ein solcher vertreten.
Neu in der Quartett-Runde war die Journalistin und Moderatorin Shelly Kupferberg. Wieder einmal mit dabei war der Journalist und Verleger Jakob Augstein, und der fiel diesmal literaturkritisch nicht positiv auf. War das bzw. der schon immer so? Oder fiel das beim letzten Besuch nur nicht auf, weil Vea Kaiser auch in der Runde war?
Denn es erstaunte, wie wenig literaturkritisches Handwerkszeug Augstein ansetzte und wie sehr seine Beiträge von »ich mag« und »ich mag nicht« geprägt waren. Das erschwerte oftmals eine differenziertere Betrachtung.
Bereits den von ihm vorgestellten Titel leitete er mit den Worten ein, es handle sich um ein »schönes und berührendes Buch«, nachdem er zunächst selbst feststellen musste, dass er klänge, als arbeite er in der Werbeabteilung eines Verlages. Augstein mag das Buch »Liebes Arschloch« der französischen Autorin Virginie Despentes, weil er Virginie Despentes schon immer mochte. Gilt diese Gleichung also für alle Fans, die die Subutex-Romane der Autorin mögen? Mangold differenziert, bezeichnet sich ebenfalls als »glühender Despentes-Fan«, doch sei »Liebes Arschloch« ein »flacher Roman«.
Als Dorn dann den Roman und seinen Humor lobt, rutscht es Augstein in seiner Freude über die Mitstreiterin heraus: »Das Buch passt auch zu Ihnen!«. »Wie meinen Se denn det etzt?«, zeigt sich Dorn verwirrt.
Randbemerkung 1: Es wurden die Übersetzung und die Übersetzer erwähnt und gelobt (Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis). Randbemerkung 2: Doof, dass über ein Buch diskutiert wurde, das erst eineinhalb Wochen später erscheint.
Im Jahre 2023 wolle Augstein nicht noch ein Buch über das Los Angeles in den 1980er-Jahren lesen. Und Thriller möge er auch nicht. Ok, kann man nachvollziehen. Dennoch auch hier wieder ein seltsamer Diskussionseinstieg für »The Shards« von Bret Easton Ellis. Wie kann man nach dieser Meinungsäußerung noch differenziert über das Buch sprechen, das im Kern gar kein Thriller ist?
Dennoch gelingt gerade beim neuen 600-Seiten-Werk des American-Psycho-Autors das, was dem Literarischen Quartett vielleicht noch nie gelungen ist: Bisweilen machten Diskussionen neugierig auf ein Buch, andere schreckten eher ab, doch hier hatte man nach der Diskussion den Eindruck, alles über das Buch zu wissen, um sich darüber ausführlich beim nächsten literarischen Smalltalk zu unterhalten, ohne es lesen zu müssen. Ein echter Mehrwert.
Die anschließende Diskussion über die von Ulrich Sonnenberg neu übersetzte Urfassung des Romans »Hunger« von Knut Hamsun, wird geprägt durch Mangolds und Kupferbergs kluge Worte. Augstein findet das Werk »total faszinierend«, aber als alter Mann sei Hamsun »einfach ein Arsch« gewesen, worauf Kupferberg resümiert, dass sich »›Arsch‹ heute wie ein roter Faden« durch die Sendung ziehe.
Einen Meinungstreffer landete Augstein beim zuletzt vorgestellten Buch von Ljudmila Ilitzkaja. Der Essay-Band fasse teilweise auch ältere Texte zusammen und man habe den Eindruck, der Verlag wolle hier nach dem zuletzt erschienenen Band mit Erzählungen »was nachlegen«. Das sei zwar »doof und unfair für die Frau«, aber daran denke er nun mal ein bisschen. Ein Buch für die, die den Eindruck haben, sie hätten sich bislang zu wenig für den Osten interessiert. Er fände es aber gut, in einer solchen Sendung »eine russische Autorin zu machen«. Russische Opernsängerinnen dürften ja nicht mehr auftreten, wozu Thea Dorn nur bemerkte, dass zwischen Frau Netrebko und Frau Ilitzkaja viel Papier passe. Worauf Augstein meinte, dass es »Leute gibt, die sagen, man soll nicht Tschechow lesen oder Tschaikowski spielen«.
»Sie geben der Sendung gerade einen eigentümlichen Dreh«, stellte Mangold fest, und Dorn bat, wieder zu versuchen, über das Buch zu reden.
Viel zu sagen gab es da aber nicht mehr, denn »diese Verherrlichung des Erinnerns geht mir manchmal auf den Sack«, fasste Augstein sein eigentliches Problem mit dem Buch zusammen. Und selbst Mangold konstatierte, er habe »eine gewisse Meinungslosigkeit zu diesem Buch«. Die Autorin habe zwar eine starke Sprache, aber das Buch habe etwas »Zusammengestelltes aus Anlass der Weltgeschichte, dass man in diesem Jahr von dieser Autorin gerne ein Buch machen wollte«.
Thea Dorn bedankte sich am Ende bei den drei Gästen, für »diese sehr lebhafte Sendung«, und Meinung und Literaturkritik waren wieder im Dienste des Fernsehens unter einen Hut gebracht.
Wolfgang Tischer
Link ins Web:
- Video: Das Literarische Quartett vom 27.01.2023 in der ZDF-Mediathek
- Audio: Das Literarische Quartett vom 27.01.2023 in der Deutschlandfunk Audiothek und als RSS-Feed
Die in der Sendung vom 27.01.2023 besprochenen und erwähnten Bücher:
- Virginie Despentes; Ina Kronenberger (Übersetzung); Tatjana Michaelis (Übersetzung): Liebes Arschloch: Roman. Gebundene Ausgabe. 2023. Kiepenheuer&Witsch. ISBN/EAN: 9783462004991. 24,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
- Bret Easton Ellis; Stephan Kleiner (Übersetzung): The Shards: Roman. Gebundene Ausgabe. 2023. Kiepenheuer&Witsch. ISBN/EAN: 9783462004823. 28,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
- Knut Hamsun; Ulrich Sonnenberg (Übersetzung): Hunger: Roman. Neu übersetzt von Ulrich Sonnenberg nach der Erstausgabe von 1890, mit einem Nachwort von Felicitas Hoppe. Gebundene Ausgabe. 2023. Manesse Verlag. ISBN/EAN: 9783717525608. 25,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
- Ljudmila Ulitzkaja; Ganna-Maria Braungardt (Übersetzung); Christina Links (Übersetzung): Die Erinnerung nicht vergessen. Gebundene Ausgabe. 2023. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG. ISBN/EAN: 9783446276307. 23,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Das schönste am Literarischen Quartett sind die Kritiken dazu im Literaturcafe. Zum Glück gibt es am Dienstagabend eine neue Folge des Literaturclub im SRF, nach der Sendung auch in Deutschland im Internet abrufbar. Der Literaturclub ist gerundet, nicht gehetzt.