Vor 10 Jahren, am 11. September 2001, war unser Redaktionsmitglied Gero von Büttner in den USA und erlebte dort unmittelbar die Reaktionen auf den Anschlag auf das World Trade Center und die Zeit danach. Seine damaligen Eindrücke und Gedanken sind in seinem Reisetagebuch USA nachzulesen.
Vor drei Jahren, am 11.09.2008, war Gero von Büttner erneut in Nordamerika unterwegs. Doch diesmal stand er buchstäblich auf der anderen Seite und warf einen Blick auf die USA und auf das, was bisher geschah. Lesen Sie seinen Beitrag, den er zum 10. Jahrestag der Anschläge im Jahre 2011 aktualisiert hat – im Fernsehen wird schließlich auch alles wiederholt.
»Ich will nicht wie ein Verbrecher behandelt werden«
Wieder einmal ist Jahrestag. Noch heute – zehn Jahre danach – finde ich es bemerkenswert, dass ich an dem Tag, an den sich jeder erinnert und von dem angeblich jeder weiß, wo er war und wie ihn die Nachricht von den Terroranschlägen des 11. September 2001 erreicht hat, dass ich also an diesem Tag, erst durch die Räumung eines Einkaufszentrums davon erfahren habe, dass irgendetwas passiert sein musste. Das war über vier Stunden, nachdem die erste Boeing ins World Trade Center krachte. Damals war ich in den USA unterwegs, nur wenige hundert Meilen vom Ort des Anschlags entfernt. Heute erinnert man im Fernsehen, das damals die Originalbilder in Endlosschleifen wiederholte, bereits mit Spielfilmen an die Anschläge, was zeigt, dass deren Ikonisierung weiter voranschreitet. Zu jener Zeit hieß es noch, dass kein Buch und kein Film jemals das Unfassbare wiedergeben könne. Heute gibt es diese Bücher und Filme und jeder Sender nudelt Dokumentationen ab.
»Das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat«
Als der Komponist Karlheinz Stockhausen seinerzeit wenige Tage nach dem Anschlag anmerkte: »Also was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat«, da herrschte Empörung über diesen Kunstvergleich. Heute, zehn Jahre später, als uns die Umstellung mit Abstand vielleicht gelingen mag, muss man zugeben, dass Stockhausen nicht Unrecht hatte. Die Bilder der brennenden Zwillingstürme haben Symbolcharakter und sind vom Leid der Opfer mittlerweile genauso abstrahiert wie die möglichst authentische Darstellung eines brutal gequälten und ermordeten Folteropfers, welches heute in jeder christlichen Kirche zu finden ist. Damals fand ich den Satz, dass »dieser Tag unser aller Leben verändern« werde, maßlos übertrieben und pathetisch. Ich hatte gedacht, dass man rasch zur Tagesordnung übergehen würde. Doch das ist nicht passiert. Denn in der Tat hat sich im Denken und Reden fast aller etwas verändert, in vielen Bereichen. Das Bild des Islam hat sich für viele gewandelt. Er ist nicht mehr orientalisch-märchenhaft, sondern fremd, unheimlich und gewalttätig geworden. Irgendwie potenziell alles Terroristen da unten.
»Ein Ding, das man ›Al-Qaida‹ nennt«
Das ist eine Einstellung, die weniger unmittelbar auf den 11. September 2001 zurückzuführen ist, als vielmehr auf die Propaganda der westlichen Regierungen, die die Anschläge für ihre Zwecke instrumentalisierten und paradoxerweise als Reaktion die Menschenrechte eingeschränkt haben. Während man sich im Westen als fortschrittlicher, weltoffener und in Sachen Toleranz und Meinungsfreiheit den Ländern des Islams überlegen darstellte, versuchte und versucht man, Gedanken, Kommunikation, Daten und Gesinnungen zu überwachen. Die Attentäter hatten gesiegt, ihr Ziel erreicht und die westlichen Demokratien beschädigt. Das Feindbild Sowjetunion war in den 1990er-Jahren verblasst. An ihre Stelle traten die Islamisten und ein Ding, das man »Al-Qaida« nennt und fortan hinter allem Bösen steckt, das die westliche Welt bedroht. Das Berufsbild des Terrorexperten war geboren. Damals an den Tagen nach dem 11. September 2001 war ich an den Niagarafällen, die sich an der Grenze zu Kanada befinden. Seinerzeit wollte ich die USA nicht verlassen, um die Fälle von der schöneren, kanadischen Seite aus betrachten zu können. Denn zu groß erschien mir die Gefahr, dass ich nicht in dieses Land zurückkehren kann, weil aus Angst vor weiteren Anschlägen die Grenzen dicht gemacht werden. Da mein Rückflug damals von Boston aus erfolgte, blieb nur der Blick hinüber zum kanadischen Ufer. Sieben Jahre später war ich wieder dort. Doch ich stand auf der kanadischen Seite. Vor dem 11. September 2001 wäre es leicht gewesen, zu Fuß über die »Rainbow Bridge« in die USA zu laufen.
Bildergalerie: Blick auf die USA im September 2008
Heute will ich nicht mehr in dieses Land, weil ich nicht wie ein Verbrecher behandelt werden will. Nicht meine Fingerabdrücke hergeben und als potenzieller Terrorist behandelt werden will. Der Generalverdacht ist zurückgekehrt.
Müßige Fragen ohne Antwort
Was wäre passiert, wenn damals ein vernünftiger und intelligenter Mensch Präsident der Vereinigten Staaten gewesen wäre? Krieg in Afghanistan? Krieg im Irak? Einschränkungen der Menschenrechte? Hätte es das dann auch gegeben? Hätte es das so gegeben? Was wäre, wenn der damalige deutsche Innenminister ein besseres Vorbild gehabt hätte als einen ehemaligen Alkoholiker? Wäre sein Überwachungs- und Kontrollfetischismus, verstärkt durch die persönliche Erfahrung eines Anschlags, nicht ausgebrochen? Das sind müßige Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Haben die Anschläge des 11. September die Welt verändert? Oder waren es bestimmte Politiker durch ihre Reaktionen? Auch das lässt sich nicht beantworten. Vor drei Jahren habe ich mich buchstäblich wieder von den USA entfernt, die damals in Sichtweite waren. Gerne komme ich wieder, wenn ich dort irgendwann wieder wie ein freier Mensch behandelt werden sollte. Wird das jemals der Fall sein? Auch das lässt sich nicht beantworten. Denn auch der wie ein Heilsbringer angekündigte Barack Obama konnte das Land nicht zurück in die Freiheit führen. Nicht einmal den antidemokratischen Terrorknast Guantanamo konnte er schließen. In seiner Amtszeit wuchs stattdessen seine konservativ Gegnerschaft.
Kollektives Gruseln bei multimedial aufbereiteten Todesschreien
Fast harmlos ist das kollektive Gruseln beim Anhören der Todesschreie aus dem WTC, die uns SPIEGEL Online in diesen Tagen per interaktiver Flash-Animation präsentiert und die keinerlei Nachrichtenwert oder Neuigkeitsgewinn darstellt, oder das »Weißt-du-noch-Gefühl« bei den unzähligen Fernseh-Dokumentationen, die in erster Linie unsere eigene Erinnerung anregen und genauso wenig Neues bringen. Der Medien-Overkill, der die Flugzeuge in diesen Tagen erneut tausendfach in die WTC-Türme krachen lässt und jede Meinung, die von den offiziellen Regierungsverlautbarungen abweicht, als Spinnerei und Verschwörungstheorie abtut, hat eine klare Botschaft: »So und nicht anders ist es passiert, und es war schlimm. Der Tag hat unser aller Leben verändert. Dass unser aller Freiheiten nun eingeschränkt wurden, dass wir verstärkt überwacht und unsere Daten gespeichert werden und wir für die Regierenden alle potenzielle Terroristen sind, damit müssen wir nun mal leider leben. So ist es eben, da kann man nichts machen.« Wollen wir das und ist es wirklich so?
Gero von Büttner
Lesetipp:
- Was wohl wäre, wenn Amerika keinen Gott hätte? Ein New York Tagebuch der Katastrophentage von Sonja Schultz
FREIHEIT ist etwas, was uns genommen werden soll. Wir sollen parieren. Chipimplantate und die Machenschaften der ‚Großen Männner‘ verändern unsere Welt jeden Tag. WIR können diese Menschen nicht ändern – aber wir können UNS ändern. JEDER kann einen kleinen Schritt für sich machen – ZUSAMMEN ist es dann ein großer. 🙂
Wie man sieht, weiß auch der Autor dieses Artikels noch genau, was er an dem Tag gemacht hat und wann und wie er davon erfahren hat. Und wenn der mediale Overkill NICHT wäre, dann würde er vermutlich auch einen Kommentar schreiben und beklagen, daß 9/11 schon vergessen ist…
Ich fand – und finde es noch immer – eine absolute Frechheit, ständig auf der Tatsache herumzureiten, dass Bush ein ehemaliger Alkoholiker ist. Wäre er ein Linker, würde man das gar nicht erwähnen, oder es im Gegenteil als Nachweis seiner Stärke ansehen, dass er die Krankheit, und um eine solche handelt es sich, überwunden hat und nun einen Staat lenken kann.
Die Ignoranz von Büttners ist indes kein Einzelfall, sondern weit verbreitet. Hält sich die linksliberale Presse sonst ach so viel auf ihre soziale Kompetenz zu Gute – ehemalige Alkoholkranke und Drogensüchtige oder auch ehemalige Kriminelle sind zu resozialisieren – versagt dieser menschenfreundliche und richtige Ansatz beim politischen Gegner. Das ist schäbig.
Ich erinnere an Diskussionen um Franz-Josef Strauß. Der war in den Augen des deutschen Feuilletons ein fetter, schwitzender, zu viel essender und trinkender Zeitgenosse. Ein Mann wie Konstantin Wecker, der ebenfalls gerne gut lebte und darüber hinaus Kokain konsumierte, war hingegen „sinnenfroh“ und „barock“ und „den schönen Seiten des Lebens zugetan“.
So redet man sich die Dinge zurecht, wie man sie gerade braucht.