Was wohl wäre, wenn Amerika keinen Gott hätte? Ein New York Tagebuch der Katastrophentage von Sonja Schultz | ![]() |
10. September Ich bin nach New York geflogen, um hier ein Praktikum bei einer Independent-Filmfirma zu machen, auf das ich mich schon lange gefreut habe. Mein bester Freund Jens ist auch den ganzen September über da. Er studiert Medizin und absolviert eine Famulatur am St. Vincents Hospital in Downtown Manhattan. Wir können beide umsonst bei seinen Bekannten Kristina und Juan wohnen, sie ebenfalls Ärzte sind, sie Dermatologin, er Chirurg. Sie schlafen auf dem Sofa, solange wir da sind. Wir kaufen ihnen Bier. New York ist die schönste und die dreckigste Stadt der Welt. 11.September Es ist mein zweiter Tag in New York. Um 9.03 Uhr rast ein zweites Flugzeug in den Südturm. Ich gehe ins Badezimmer. Zähne putzen, duschen. Juan sitzt auf dem Sofa und murmelt etwas. Ich ziehe mich an und laufe zur Küche. »Morning«, sage ich. Juan antwortet nicht. Im Fernsehen läuft eine Endlosschleife, in der das zweite Flugzeug in den Tower kracht. Ich wundere mich nur kurz, warum Juan so früh am Tage ein so schlechtes Hollywood-Movie ansieht, dann begreife ich, dass etwas nicht stimmt. Juan fragt: »Is Jens still asleep? They gonna need him at the hospital.« »Jens, Jens, steh auf, es sind zwei Flugzeuge in das World Trade Center gerast!« 9.38 Uhr. Ein drittes Flugzeug rast ins Pentagon. Das Ziel ist zweite Wahl. Eigentlich war es fürs Weiße Haus bestimmt, für den Präsidenten. Jens putzt sich die Zähne und legt sich Klamotten zurecht, die dreckig werden können. Was passiert, ist nicht mehr fassbar. Das Telefon klingelt: Juans Mutter aus Spanien. »Si, si, no, alles okay, everyone alive...« Als die letzte Maschine in Pittsburgh herunterkommt, sind wir schon aus dem Haus. Der doorman diskutiert mit schwerhörigen Hausbewohnern: »No, believe me, its true! Its real!« Wir bezahlen für den nächsten subway, aber die Bahnen nach Downtown fahren nicht mehr. Im heißen Tunnel singt ein Schwarzer gläubige Lieder, was die Leute etwas beruhigt. Wir suchen draußen eine Haltestelle und einen Bus, der nicht heillos überfüllt ist. Es dauert eine Weile, aber dann fahren wir die Fifth Avenue herunter. Die Touristen shoppen noch, die Männer im Anzug gehen noch zur Arbeit. Nur der Verkehr stockt. Draußen bilden sich Menschentrauben um aufgedrehte Autoradios. Sie hören ungläubig die Nachrichten. Ich sehe zur Frontscheibe hinaus. Vorn ist eine dichte Rauchwolke. Sie wächst. Immer wieder biegen Amerikanerinnen um die Ecke, bleiben schlagartig stehen und rufen: »Oh my god! What is this!« Jeder ist begierig, es zu erklären, ohne es wirklich erklären zu können. Wir machen Witze, wie es gewesen wäre, wenn die Piloten die Türme näher am Boden gerammt hätten, sodass diese umgefallen wären. Whamm. Haha. Die Vorstellung ist abstrus, denn die Amerikaner preisen das Trade Center als das sicherste Gebäude der Welt. Wir wussten noch nicht, wie sich die Katastrophe weiterentwickeln würde. Immer mehr Menschen scharen sich um Ghettoblaster und geparkte Autos. Sie sind sehr ernst, einige halten sich eine Hand vor den Mund. Die Rauchwolke wächst und wird dunkler. Ich mache Fotos. Dann begleite ich Jens zum Krankenhaus. Draußen warten in mehreren Reihen leere Krankenliegen auf die Opfer. Ambulances kommen und rasen wieder davon. Jens zieht seinen weißen Kittel über und verschwindet hinter der Polizeisperre. Schließlich kam er nach New York, um etwas zu erleben. Ich ja auch. Also mache ich mich auf den Weg und versuche, so nah wie möglich an die Katastrophe heranzukommen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was passiert ist. Doch downtown ist die Stadt vollständig abgeriegelt. Leute filmen die Rauchwolke, die schwer zwischen den Wolkenkratzern hängt. Die Fernsehtauglichkeit des Anschlages ist unglaublich. Viele Passanten tragen bereits einen Mundschutz oder pressen sich Tücher auf das Gesicht. Es riecht nach verbranntem Plastik. Straßen, Häuser, Autos sind von einer dicken, grauen Staubschicht überzogen. Die Krankenwagen, die aus dem abgeriegelten Gebiet herausrasen, ziehen eine lange Staubwolke hinter sich her. »You kill the people, now the people kill you!« schreit ein Schwarzer, der auf dem Fahrrad vorbeirollt. Wer eines hat, fährt heute Fahrrad und versucht, sich so einen Überblick zu verschaffen. »Whatever« hat jemand in die dicke Staubschicht auf einem Porsche geschrieben. »Who knows«. Das eben, was New Yorker immer sagen, wenn sie die Ereignisse in dieser Stadt nicht begreifen. Nur ist es diesmal nicht witzig. Alle sind sehr freundlich. Vor den Kirchen und Heilsarmeen werden Wasserflaschen und Äpfel verteilt, die Telefone in ganz Manhattan sind kostenlos. Vor jeder Zelle steht eine lange Schlange, sie telefonieren in den verschiedensten Sprachen, um zu erklären, dass es ihnen gut geht, und zu fragen, ob jemand vermisst wird. Die Bilder werden immer und immer wieder gezeigt. Es sieht aus wie eine perfekte Sprengung, erschreckend professionell. Die Türme sacken gerade herunter und werden einfach zu dickem Staub. Die Asche weht inzwischen bis zum Wasser und nach Brooklyn herüber. Auf der Canal Street downtown zieht eine Prozession von Menschen Richtung Brooklyn Bridge. Zu Fuß überqueren sie die Brücke, um sich evakuieren zu lassen. Polizisten bringen Schulkinder hinüber. Es sind die Kinder, deren Eltern nicht gekommen sind, um sie abzuholen. Der Menschenstrom reißt nicht ab, doch alle sind sehr diszipliniert. Am Ende der Straße, am Chelsea Piers, kommen die ersten Bulldozer angerollt. Junge Männer wollen sich als Freiwillige melden, um Überlebende aus den Trümmern zu ziehen, aber jetzt beginnen auch die kleinen Türme des Trade Centers zusammenzubrechen. Blut soll gespendet werden. Auch da sind die Schlangen der Freiwilligen lang, die Blutbeutel gehen nach einigen Stunden aus. Jeder will helfen. Doch das viele Blut wird niemand brauchen. Ich treffe mich mit Jens am Krankenhaus. Er hat Brandwunden gereinigt und Spritzen gegeben. Doch nach den ersten Einlieferungen am Morgen ist niemand mehr gebracht worden. In seinem Arztkittel bekommt er jetzt alles umsonst, Fremde klopfen ihm auf die Schulter. Geschäfte helfen mit Sandwiches und Getränken. Wir trinken einen Kaffee auf den Stufen eines Hauseinganges in einer Seitenstrasse. Ein Ehepaar mit Hund geht vorbei. Der Hund kackt aufs Trottoir, die Frau nimmt ein Tuch und sammelt es auf. Der Mann grinst uns an. Am World Trade Center werden die ersten Suchhunde eingesetzt. Sie reagieren auf Fleischgeruch und sind schnell überfordert. Alles stinkt nach Fleisch. Hauptsächlich finden die Helfer Arme und Beine, mit einer grauen Schicht überzogen. Und Matsch, dunklen Matsch. Eine alte Frau neben mir im Bus freut sich, dass sie heute nichts bezahlen muss und wünscht mir noch einen weiteren aufregenden Aufenthalt in der Stadt. Sie meint, ich wäre lucky. Der weltgrößte Terroranschlag, und ich bin dabei. Im Apartment gucke ich mit Kristina und Juan Nachrichten. Der Fernseher hat nur ein Programm, es ist kaum etwas zu erkennen. Es läuft die Rede des Präsidenten. In meiner Lieblingsstelle zitiert er die Bibel: »I was walking through the valley of death ...« und fügt natürlich hinzu: »God bless America«. Wir stöhnen. Er droht, zurückzuschlagen, und zwar mächtig, bloß auf wen, das sagt er nicht. Hauptsache Krieg. Bush schauspielert ein besorgtes Gesicht über dieser Rede, die ihm jemand anderes geschrieben hat. Am Anfang versucht er sogar ein trockenes Schlucken von Tränen. Vermutlich ist es echt? In Amerika ist es schwer, Realität und Fernsehen auseinander zu halten. Besonders jetzt, wo Bilder wie aus einem Actionfilm real geworden sind und viele Helfer versuchen, sich so zu verhalten, wie sie es im Kino gesehen haben. Sie wollen anpacken, sie spucken alle paar Meter auf die Straße, ständig rotzen mir Männer vor die Füße, sie wollen in den Krieg ziehen. Der Verkauf von Handfeuerwaffen ist in die Höhe geschnellt. Karten von Afghanistan sind ausverkauft. 12. September Heute rückt die Armee in die Stadt. Die meisten Läden sind geschlossen, nur nicht die für die Touristen, die wenig beeindruckt sind. Es ist fast ekelhafter, uptown zu sein, wo Frauen mit leuchtenden Augen shoppen gehen, als unten vor dem Schutthaufen zu stehen. Es sind mehr Verrückte unterwegs als sonst, tief verwickelt in Selbstgespräche über das Ende der Welt. Ein Amerikaner schimpft mit mir wegen Hitler und erklärt, dass Amerika seiner Meinung nach ruhig den Rest der Welt in Schutt und Asche legen kann. »Nuke them all.« Er sagt, ich werde schon sehen. Wir werden uns alle noch umgucken. Wir werden alle schon sehen. Abends wurden Kerzen angezündet. Fotografen haben sich auf weinende Frauen gestürzt, doch niemand hat sich beschwert. Junge Leute haben Plakate auf das Pflaster gelegt, die mit Bitten, mit Bildern, mit Gebeten und Aufrufen zum Frieden und zur Rache bemalt werden. Zwei New Yorkerinnen griechischer Herkunft halten ein Banner hoch, auf dem sie bitten, eine eMail an George Bush zu schreiben, um einen Krieg zu verhindern: President@whitehouse.gov. Die Stadt ist voller Amerikaflaggen. »God loves you all«. Was wohl wäre, wenn Amerika keinen Gott hätte? 13. September Ich sitze zwischen den Finanzhochhäusern an der 6th Avenue in einem Park und lese die Times, als die zahlreichen Bombendrohungen auch die zwei Gebäude neben mir erfassen. Die Polizei ist sehr vorsichtig. Die Banker werden evakuiert und sitzen jetzt auch im Park herum. Ganze Firmenbelegschaften beraten sich. Nach Hause? Essen? Da kommt eine Panik auf, die etwa 10 Sekunden dauert. Alle springen von ihren Stühlen auf und laufen durch den Park. Dann drehen sie sich und starren auf eines der Hochhäuser. Ich auch. Vor dem St. Vincents Hospital stehen Fernsehübertragungswagen, die über und über mit Suchmeldungen bedeckt sind. So wie jede Ampel, jeder Sicherungskasten und die Telefonzellen. »Have you seen this man, have you seen this woman, we love her, we love her so much, please.« Und die Staubschicht, die auf den Feuerwehrwagen, die durch die gesperrten Straßen rasen, klebt, ist von gemalten Flaggen und Worten überzogen: »God loves you all«, »Thank you, guys!«, »You are heroes.« Amerikanische Flaggen sind ausverkauft. Am Union Square versammeln sich abends wieder Leute, die diesmal »Give peace a chance« singen. Sie halten Kerzen, und Jens, der im Arztkittel vorbeikommt, wird umarmt. Einige Blutspender tragen stolz ihre T-Shirts: American Red Cross Blood Donor. Sie kriegen Rabatte in den meisten Geschäften. Jens bekommt weiterhin alles umsonst: Lachsbrötchen mit Zitronenscheibchen zwischen den Trümmern. »Attack on America« ist das neü Logo der Fernsehkanäle. Sie zeigen schon die Best-of-Zusammenschnitte. Das Trade Center aus den verschiedensten Perspektiven, fokussiert von Amateurvideokameras, als überraschend das zweite Flugzeug einschlägt. Frauen im Off kreischen. »Holy F...!« ruft ein Mann, sein Ausruf ist mit einem Piepton überblendet. CBS2 zeigt den halben Tag tränenreiche Kurzauftritte von Familien, die Fotos ihrer loved ones in die Kamera halten. Schnell wird daraufgezoomt. »He is a good man. He is a good father. He is a good guy. If you have seen him, please call this number!« Die Telefonnummern sind unleserlich und auch nicht wichtig. In den rauchenden Ruinen breitet sich schnell eine neue Organisation aus. Pappschilder mit handgemalten Pfeilen weisen den Weg: morgue, toilets ... An den Toiletten sind Zettel angeklebt für men und women. 14. September In der Nacht schlugen die Gewitterblitze ein, dass uns ganz mulmig wurde. Es regnet den ganzen Vormittag. Jens arbeitet jetzt auch im ground zero. Er musste amerikanischen Korrespondenten von SAT1 und RTL Interviews geben. Sie wollten von ihm hören, dass sich sein Leben verändert hat, dass er sich als Held fühlt, und das die Feinde Amerikas von Grund auf böse sind. Den Gefallen hat er ihnen nicht getan. Er kommt in die MAX und macht sich Gedanken, wie seine Frisur auf dem Foto aussieht: »Ich sah am Dienstag so scheiße aus!« 15. September Ich höre den Vormittag über Radio. Eine Moderatorin spricht mit Anrufern über die Katastrophe. Es geht hauptsächlich um einen Artikel in der New York Post, der das, was geschehen ist, als Strafe Gottes beschreibt. Schuld seien die vielen Sünder, die es gibt: Ungläubige, Ausländer, Lesben und Schwule. Araber werden jetzt auf den Straßen schief angesehen, einige werden beschimpft, mit Baseballschlägern gejagt, jemand wurde erschossen. Aber nicht von New Yorkern, der meiste Hass bleibt außerhalb. Bush verkündet, er wolle gegen »das Böse« in der Welt Krieg führen. Für viele Menschen ist Amerika Teil des Bösen. Was meint Mohammed Atta? Er ist bei den Jungfrauen. Wir sollten heute Besuch aus Boston von zwei deutschen Freundinnen bekommen, aber sie haben abgesagt. »Aus Pietätsgründen« und auf Druck ihrer Eltern, sagen sie. Das ärgert uns, denn wir fühlen uns fast schon wieder sicher in der Stadt. Das Leben hat sich normalisiert, wenn man nicht richtig hinsieht. Dann gehen wir runter und besuchen Kristina, die schon den ganzen Tag auf dem Sofa liegt und in das grieselige Fernsehbild starrt. »I'm totally freaked out!« sagt sie. Erst hat sie erfahren, dass ihre Nachbarin tot ist. Jetzt sieht sie Berichte über chemische Kampfstoffe und Atomwaffen, die in den Händen von Terroristen befürchtet werden. Atomwaffen aus Pakistan zum Beispiel. Mir wird kurz schlecht, obwohl der Gedanke sehr unwahrscheinlich ist. Aber es war auch unwahrscheinlich, dass zwei Flugzeuge präzise und ungehindert in das World Trade Center krachen. 16. September Heute ist alles ruhig. Im ground zero ist niemand mehr, der lebend geborgen werden kann. Die evakuierten Bewohner werden kurz in ihre Wohnungen gelassen, um ihre Haustiere abzuholen. All die Hunde und Katzen, die seit Dienstag in den verstaubten Apartments gefangen sind. 17. September Ich laufe zu Fuß zu der Filmfirma, in der ich mein Praktikum machen wollte. Unpassenderweise produzieren sie Horrorfilme. Die Büros sind mit Gliedmassen aus Gummi voll gestopft, abgerissene Köpfe, Torsi, Monster. »Hey, welcome to hell!« begrüßen sie mich. Die Stimmung ist etwas gedrückt, alle starren wieder in ihre Computer. Der Zombiefilm, der gedreht werden sollte, wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Am Times Square steht ein Mann im ewigen Strom der New Yorker und Touristen, und er hält die Bibel hoch. Auf dem Schild in seiner ausgestreckten anderen Hand steht: »The end is at hand.« |