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weiter:lesen22 in Leipzig – Ein Leuchten in den Wäldern der Angst

War auch bei weiter:lesen mit dabei: der Autor Wladimir Kaminer beim Signieren
War auch bei weiter:lesen mit dabei: der Autor Wladimir Kaminer beim Signieren

Trotz abgesagter Buchmesse fanden am Wochenende vom 18. bis 20. März 2022 in Leipzig zahlreiche literarische Veranstaltungen statt. Neben der Popup-Buchmesse gab es das Lesefestival weiter:lesen22. Mitorganisator David Gray berichtet darüber. Auf die Frage »Warum macht man das?« gibt er eine sehr persönliche Antwort. 

Bandbreite an literarischen Stilen, Genres und Themen

Eigentlich wollte ich diesen Text über weiter:lesen22, dem sicher größten der Ersatzevents für das mit der Buchmesse auch abgesagte Leipzig-Liest-Festival, gar nicht schreiben. Als Mitorganisator von weiter:lesen22 fehlt mir die nötige objektive Distanz.

Dennoch lügen Fakten nicht: 2.000 Besucher sahen am Wochenende vom 19. und 20. März 54 Autor:innen, die im Rahmen von weiter:lesen22 auf vier Bühnen an zwei Veranstaltungsorten auftraten. So konnte das Festival zumindest etwas vom Leipzig-Liest-Feeling vermitteln, das vom Publikum so sehr vermisst wurde, dass sich bereits vor Beginn unserer Veranstaltungen Schlangen vor den Locations bildeten.

Plakat- und Web-Motiv von weiter:lesen22 (Foto: weiter:lesen22)
Plakat- und Web-Motiv von weiter:lesen22 (Foto: weiter:lesen22)

Es war unsere erklärte Absicht, bei der Auswahl der Künstler:innen eine große Bandbreite an literarischen Stilen, Genres und Themen abzubilden. Genauso wie es »Leipzig liest« außerhalb der Pestjahre gelingt. Die Themen der Lesungen in den beiden traditionsreichen Leipziger Kulturlocations Moritzbastei und Felsenkeller reichten vom hochkarätigen Talk mit preisgekrönten Autor:innen und Vorständen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels über die Zukunft von Intellektuellen und Kulturarbeitern in einem neuen Europa bis zum Comiczeichnen-Seminar für Kinder, vom Roman über ausfransende Hipsterträume, einer satirischen Biografie Satans bis hin zur literarischen Aufarbeitung der historischen Hintergründe des Ukrainekrieges.

Isa Tschierschke hat fürs literaturcafe.de u. a. die Popup-Messe besucht, jenes weitere der größeren Ersatzevents der Leipziger Buchmesse 2022. Die Popup-Buchmesse stellte einen Ersatz für die Fach-Events und Messestände dar, ohne den Hauptfokus auf jenes Element, das die Buchmesse in Klein-Paris so unverzichtbar und anziehend für die Branche macht: die Lesungen und der Kontakt zwischen Leser:innen und Autor:innen.

Zusammen mit weiteren Veranstaltungen, die engagierte Verlage, Verbände und Autor:innen in Leipzig organisierten, ist es durchaus angebracht, davon zu sprechen, dass im dritten Pestjahr die Literatur unter den gegebenen Umständen zu ihrem Recht kam.

Wir alle, die sich seit der Absage der Messe für Lesungen, Ersatzevents und Verlagspräsentationen engagierten, haben in der Buchmessewoche ein Leipziger Buchbranchenfest auf die Beine gestellt, das es so noch nicht gab und wohl auch in diesem Umfang nicht wieder geben wird.

Das ist keine kleine Leistung. Vor allem, wenn man bedenkt, dass es nicht die finanziell und personell ganz anders aufgestellten Konzernverlage waren, die diese Leistung vollbrachten, sondern der vielfältige Unter- und Mittelbau der Branche.

Weiter:lesen22 wurde mit keinem Cent aus dem Stadtsäckel gefördert, wie übrigens auch nicht viele der anderen kleineren Events, die zur Buchmessewoche in Leipzig stattfanden. Auch dies ein Fakt, den man sich einen Augenblick auf der Zunge zergehen lassen sollte. Die Buchbranche und die Bürgerschaft dieser Stadt haben sich spontan in Dutzenden Kombinationen zusammengefunden, um aus ihrer Mitte heraus ein Zeichen für Leipzig als Buchstadt zu setzen.

Ich persönlich freue mich schon darauf, dem nächsten Kolumnisten, der nächsten Medienpersönlichkeit, die oder der von einer Naziverseuchung des Ostens raunt, jenen Fakt entgegenhalten zu können. In der (nach Berlin) größten Stadt Ostdeutschlands existiert eine Bürgerschaft, die bereit und fähig ist, auch ohne staatliche Beihilfen Zeichen für Literatur, Kunst und Freiheit zu setzen.

Bomben-Angst

Heute, während ich diesen Text verfasse, lässt die übliche Taubheit, die einen als Mitorganisator nach dem erfolgreichen Ende eines solchen Events ergreift, bereits leidlich nach. Die Interviews sind gegeben, die Bühnen für die nächsten Künstler:innen wieder hergerichtet.

Dennoch bietet dieser Text eine Gelegenheit, persönlich schreibend darüber nachzudenken, weshalb all die Arbeit gut und notwendig war. Oder eben auch nicht.

Mir blieben von den vergangenen sechs Wochen voller Anspannung und Organisationsstress eine Menge Erinnerungen, die sich in jenem seltsam intimen unbewussten Prozess, in dem so etwas passiert, gerade noch sortieren. Trotzdem ahne ich, dass sich eine unserer fast täglichen Zoomkonferenzen zur Vorbereitung von weiter:lesen22 tiefer ins Gedächtnis geschnitten hat als andere Ereignisse während des Festivals.

In jener Konferenz wollten wir uns über Budgets die Köpfe zerbrechen. Stattdessen sprachen wir über die Wiederkehr jener alten Angst vor den Bomben, die man uns in unserer Kindheit hinter der scheiß Mauer eingetrichtert hatte. Eine im Team sagte, dass sie ständig das Gefühl habe, weinen zu müssen, und ein anderer gestand sein bedrückendes Gefühl von Hilflosigkeit angesichts der brennenden Häuser in Kiew ein.

Das sind Momente, in denen man unverhofft mit der Sinnfrage konfrontiert wird: Wozu das alles hier? Weshalb ein Literaturfestival aus dem Boden stampfen, Geld, Nerven, Zeit riskieren, bei Freunden um Gefallen bitten und sich um Sponsorengelder und die Budgets für Security-Personal streiten?

Rationale Antworten gibt’s darauf angesichts der Bomben nicht.

Der kleine Preuße, der irgendwo in meinem Hinterkopf wohnt und großer Fan von Rationalität und Vorsicht ist und sich gern mit dem anarchistischen Chaos in mir streitet, zappelt aufgeregt in seinem Sessel umher. Er fühlt sich umzingelt von Angst, Furcht, Zorn und trotziger Liebe. All diese Emotionen werden in diesen Tagen unbemerkt größer. Sie schieben sich übereinander, leuchten mal heller, mal dunkler, fahren dir unbewusst in die Tippfinger oder lassen dich an Straßenampeln den einen Moment länger stehen, als nötig ist, weil du plötzlich eine banale Winzigkeit am Wegesrand entdeckt hast, an die du zu anderen Zeiten keinerlei Aufmerksamkeit verschwendet hättest.

Ich war nie weit vorn im Glauben an die Macht der Götter. Das Beten hat selten genutzt. Selbst wenn ich in meinem Leben Glück gehabt habe, in jenen Augenblicken, in denen es drauf ankam. Ohne den Trost der Götter wird’s kälter, während die Einschläge der Bomben jede Minute näherzukommen drohen. Der rationale kleine Preuße im Hinterkopf ahnt, dass er gerade ein bisschen ins Hintertreffen gerät.

Trotzdem reicht’s mit meinem Aberglauben so weit, dem Ukrainer, der in gebrochenem Englisch nach dem Weg zur Bahnhofsmission fragt, ein »Good luck!« hinterherzurufen, während er seiner Familie hinterdrein eilt – auf dem Weg in ein anderes Leben, von dem keiner sagen kann, ob’s besser oder auch bloß mittelfristig sicherer sein wird als das, vor dem er fliehen musste. Über dieses Good Luck hat der blöde kleine Preuße übrigens hochmütig gelächelt.

Von Feuern und Werbetafeln

In unserer Orga-Konferenz haben wir die Bomben-Angst schließlich mit einer Metapher kleingehalten. Kann sein, dass morgen all der Aufwand, Streit, die Mühe und das Herzblut sich als eine Übung im Nullkommanix entpuppen könnte. Doch immerhin werden wir sagen können, wir haben gegen die Bomben mehr getan, als Däumchen zu drehen. Denn wir zündeten ein Lagerfeuer an, dessen Schein vielleicht dem ein oder anderen seinen Weg durch einen der kürzlich noch dunkler gewordenen Wälder der Furcht und Sinnlosigkeit weist. Das ist es, was du als Künstler tun kannst: Feuer entzünden aus Bildern, Worten, Ideen und manchmal damit das Gefühl erzeugen, dass trotzdem zu lachen, dennoch Lachen bedeutet.

Hin und wieder kann der kleine rationale Preuße nicht anders, als die Macht der Träume zu akzeptieren. Jetzt, während ich diesen Text heruntertippe, meckert er über die drei Kippen, die ich dazu rauche. Doch das sind Rückzugsgefechte meiner Rationalität.

Ich glaube zwar nicht an die Macht der Götter. Aber ich bin überzeugt, dass Sisyphus’ Stein ihm, während er ihn den Berg hinaufrollt, als Meditationshilfe dient. Ich weiß, dass im wilden Herzen der Welt kein Platz für Registrierkassen sein kann, und ich habe gelernt, dass ein Gedicht auch eine andere Form von Gebet ist. Letztlich sind wir alle scheiß Romantiker, die glauben, dass die Wirkung von Gedichten, die an Lagerfeuern rezitiert werden, sich noch einmal verstärkt.

»Möglich«, flüstert der kleine Preuße hämisch. »Das Problem ist nur, dass auch auf der Seite, die Bomben abwirft, Lagerfeuer brennen, an denen Gedichte rezitiert und Lieder gesungen werden. Und womöglich sind es sogar dieselben Lieder und Gedichte.«

Na klar, erwidert ihm mein trotziges anarchistisches Restselbst, alles andere wäre noch unerträglicher.

Während in Kiew und Mariupol weiter die Bomben fallen, berichtet der Verband der US-amerikanischen Bibliotheken, dass selten zuvor so viele Versuche unternommen wurden wie im letzten Jahr, bestimmte Bücher aus den Schulbüchereien zu verbannen. Und auch hier in Deutschland sind (zaghafte) Versuche zu verzeichnen, die Verbreitung von (scheinbar) politisch kontroversen Texten, Bildern und Ideen zu limitieren.

Irgendwo in der Dimension unserer Träume und Albträume rollt Sisyphus weiter seinen Stein den Berg hinauf und leuchten in den dunkler gewordenen Wäldern der Angst und Hoffnungslosigkeit die kleinen Feuer der Menschlichkeit. Und eines Tages werden sie vielleicht – wie alles im Kapitalismus – von Leuchtpunkten im Dunkeln zu Werbetafeln am Waldrand.

Es gibt Schlechteres, für das geworben wird, als jene Erkenntnis, dass – nicht nur laut Nora Gomringer – Gedichte temporär wirksame Gebete für eine bessere Welt sein können.

David Gray

David Gray (Foto: Erik Weiss, Berlin)
David Gray (Foto: Erik Weiss, Berlin)

David Gray ist das Pseudonym des deutschen Journalisten und Filmkritikers Ulf Torreck. Er gehörte zur Gruppe von Literatur-, Medien- und Technologiespezialisten, die nach Absage der Leipziger Buchmesse das Lesefestival weiter:lesen22 organisierten. Zu dieser Gruppe zählten u. a. auch M. Kruppe, Martin Jehnichen und Matthias Jobke vom Live Stream Anbieter streamio.de, der Livestreamexperte Remo Rink von Beat Media, Robert Dobschütz, Geschäftsführer der Leipziger Zeitung sowie die PR- und Buchmarkt-Expertin Susanne Tenzler-Heusler, Inhaberin des Netzwerk für Kommunikation | Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, brandvorwerk-pr.

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