StartseiteBachmannpreis 2023Warum ich vom Bachmannpreis weiterhin per Twitter berichte

Warum ich vom Bachmannpreis weiterhin per Twitter berichte

Hashtag #tddl auf der Twitter-App
Hashtag #tddl auf der Twitter-App

Seit 2011 reise ich im Sommer nach Klagenfurt zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur und berichte vom Bachmannpreis via Podcast und Twitter. In diesem Jahr frage ich mich jedoch, ob man Twitter noch nutzen sollte. Bis auf Weiteres werde ich bei dem Kurznachrichtendienst bleiben. Leider.

»Twitter ist die sympathische Tuschelebene«

Vor 12 Jahren habe ich mich das erste Mal in den Zug gesetzt und bin zum Bachmannpreis, einem der wichtigsten deutschsprachigen Literaturwettbewerbe, nach Klagenfurt gefahren. Ich war begeistert, wie nah und nahbar dort alles ist und was für ein besonderer Ort für Literaturfans die Hauptstadt Kärntens für wenige Sommertage ist. 12 Jahre später sehe ich das immer noch so, und ich freue mich auf Klagenfurt 2023.

»Twitter ist die sympathische Tuschelebene beim Bachmannpreis«, schrieb ich 2011. Offen, frech und respektlos kann man den Literaturwettbewerb auf diesem Weg begleiten. Anders als die Zusammenfassungen in den Feuilletons ist Twitter schnell, impulsiv und für den Moment gemacht, damals noch pro Tweet in 140 Zeichen. Die stichwortartige Dokumentation und die Kommunikation mit anderen haben für mich und für viele andere den Bachmannpreis bereichert. Ein klein wenig war man damals unter sich, und das lange, bevor der Literaturwettbewerb seinen eigenen Twitter-Account hatte oder auf anderen Social-Media-Kanälen vertreten war.

Überhaupt war Twitter damals mein Social-Media-Kanal Nummer eins, der hauptsächlich während des Bachmannpreises und anderen literarischen Veranstaltungen brummte. Ansonsten schickte ich im Rest des Jahres überwiegend Links zu interessanten Beiträgen zu Twitter und sammelte auf diesem Weg für mich und andere die Neuigkeiten und Kuriositäten aus der Buchwelt. Über 10.000 Follower kamen zusammen.

Twitter hat sich schon vor Musk negativ entwickelt

Doch Twitter veränderte sich bereits vor Elon Musks Übernahme auf vielerlei Weise. Es kam Werbung hinzu, was ok ist, denn durch irgendwas muss sich Twitter finanzieren. Doch dann änderte sich das, was ich an Twitter schätzte. Ich mochte die Kommunikation und Timelines in Echtzeit. Alle Menschen, denen ich folgte, waren gleichgestellt. Doch irgendwann änderte Twitter die Algorithmen. Plötzlich war nicht mehr oben, was als Letztes getwittert wurde, sondern das, was die Algorithmen für mich scheinbar als relevant und wichtig erachteten. Plötzlich wurden empfohlene Tweets von Unbekannten eingestreut. Tweets von Menschen, die ich schätze, sah ich seltener in meiner Twitter-Timeline. Stattdessen angeblich relevante Tweets, die mich nicht interessieren. Es ist, als würde eine wilde Horde an Schreiern vor denen stehen, denen ich eigentlich zuhören wollte.

Hinzu kam, dass ich selbst erfahren musste, wie diese Schreier die Wirklichkeit für sich verdrehen.

Die letzten Jahre habe ich mich daher weitgehend von Twitter zurückgezogen. Bis auf einmal im Jahr, wo ich »wie früher« aus Klagenfurt vom Bachmannpreis twittere.

Im letzten Jahr hatte ich den Twitter-Client Fenix entdeckt. Der baute Twitter so um, dass alles wieder chronologisch und ohne Priorisierung war. Plötzlich sah ich wieder Tweets und wohlbekannte Profilbilder von lieben Menschen, die mir die offizielle Twitter-App vorenthielt.

Für kurze Zeit war für mich Twitter wieder wie früher.

Unter Elon Musk wird Twitter noch schlimmer

Und dann kam Elon Musk.

Der reichste Mann der Welt kaufte Ende Oktober 2022 den Kurznachrichtendienst.

Früher sah ich Bösewichter, die die Welt beherrschen wollten und sogar ins All flogen, als Fantasieobjekt von James-Bond-Drehbuchautoren an. Zum Glück gibt es solche Menschen nicht im echten Leben.

2023 müssen wir alle erkennen: Es gibt diese Superschurken wirklich. Man muss zur richtigen Zeit ein Elektrofahrzeughersteller übernehmen und großspurig und großkotzig auftreten, dann folgen einem Fans und Politiker wie der Esel der Karotte an der Angel. Musk ist kein Menschenfreund.

Er übernahm Twitter und wütete auch dort. Er entließ Mitarbeiter, er wollte angeblich die Meinungsfreiheit herstellen (»free the bird«) und öffnete die Plattform für rechte Hetzer und andere Schwurbler. Datenanalysen belegen dies. Mitarbeiter und Mechanismen, die Fake-News und andere unliebsame Posts filterten, wurden entlassen. Musk drohte Promis, Journalisten und Werbekunden. Der blaue Haken, der die Authentizität von Accounts bestätigte, wurde entfernt. Stattdessen kann man ihn sich kaufen. Musk gibt solchen Profilen und Posts nun mehr Sichtbarkeit, egal was sie schreiben. Technische Schnittstellen wurden entfernt, Apps wie Fenix funktionieren nicht mehr. Die neuesten Tweets kann ich nicht mehr datenschutzkonform im literaturcafe.de einbinden.

Kann man Twitter jetzt noch nutzen?

Kann man es noch vertreten, eine solche Plattform zu unterstützen? Einige zogen ihre Konsequenzen wie z. B. der Schriftsteller Saša Stanišić, der seinen Twitter-Account löschte. Andere wie Jan Böhmermann kritisieren die Plattform, bleiben jedoch. Gerade jetzt sei es spannend, sagt Böhmermann im Podcast »fest & flauschig«. Er fühle sich wie der Geiger vom Bordorchester der Titanic, der weiterfidelt, auch wenn Untergang und Ende absehbar seien.

Ich habe meine Twitter-Aktivitäten nahezu auf null runtergefahren.

Doch jetzt ist wieder Bachmannpreis. Die Zeit meiner jährlichen Twitter-Hochphase. Was soll ich tun?

Mastodon als Alternative zu Twitter?

Spätestens an dem Tag, als Musk die Twitter-Übernahme verkündete, brachte fast jedes relevante Online-Medium eine Anleitung, wie man zu Mastodon wechselt. Mastodon sei das besser Twitter. Es sei dezentral und gehöre niemandem, der Quellcode läge offen, und ansonsten könne das Netzwerk alles, was Twitter auch könne. Es gibt sogar Dienste, die prüfen, ob ein Twitterer bereits einen Account bei Mastodon hat, um ihm dort zu folgen. Nimm das, Elon!

Doch so einfach ist es leider nicht. Lange vor dem Twitter-Niedergang hatte ich einen (kaum genutzten) Mastodon-Account. Ich habe ihn aktualisiert und eng ans literaturcafe.de angebunden.

Ich habe das Gefühl, dass bei Mastodon alle sind, die vor vielen, vielen Jahren auch die ersten bei Twitter waren. Ich selbst bin seit 2008 bei Twitter.

Doch trotz aller Beteuerungen, Mastodon sei im Grunde wie Twitter, ist einiges anders. Alles wirkt hier etwas wie von Hand gemacht. Alles ist minimal nerdig, nicht so glatt und nutzerfreundlich wie bei Twitter.

Die Auswertung der Mastodon-Aktivitäten zeigt, dass offenbar viele so agieren wie ich: Man hat sich angemeldet oder den Account bei Mastodon wiederbelebt, um zu schauen, was sich dort tut. Aber so viel tut sich dann doch nicht, als dass man Twitter konsequent den Rücken zudrehen könnte. Das berühmte Henne-Ei-Problem.

Daher ist bei Twitter das Grundrauschen immer noch höher, daher sind und bleiben die meisten dort. Bezahlfunktion hin oder her, die Reichweite ist größer als mit Mastodon.

Was soll ich jetzt tun?

So stellt sich die Frage: eine neue Plattform unterstützen, auf der weitaus weniger aktiv sind, in der Hoffnung, dass man mit gutem Beispiel vorangeht? Oder bei Twitter bleiben, weil dort Reichweite und Vernetzung größer sind – trotz aller Skandale und moralischer Bedenken?

Klar, es gibt Tools und Möglichkeiten für Crossposts, sodass Beiträge auf beiden Plattformen landen. Die habe ich eingerichtet, obwohl das nicht elegant ist.

Allerdings bleiben Reichweite und Interaktionen auf Twitter höher. Und das macht den Reiz der Plattform aus. Ich stelle fest, dass ich 2023 den Bachmannpreis via Mastodon kommentieren könnte, dass ich die Beiträge problemlos ins literaturcafe.de einbinden könnte, dass aber bereits im Vorfeld mehr zum Hashtag #tddl (Tage der deutschsprachigen Literatur) auf Twitter los ist.

Twitter trotz aller Bedenken?

Ein Dilemma, das ich so angehe, dass trotz aller Bedenken Twitter meine Hauptkommunikationsplattform für die Live-Berichterstattung beim Bachmannpreis 2023 bleiben wird. Vieles werde ich auf Mastodon spiegeln und sehen, was sich dort tut. Vielleicht sieht es ja im nächsten Jahr ganz anders aus.

Von all diesen Überlegungen unberührt bleiben der tägliche Bachmannpreis-Podcast aus Klagenfurt und zusammenfassende Berichte im literaturcafe.de.

Wie ist Ihre und eure Haltung zu Twitter? Nutzt ihr Mastodon? Wie seht ihr die Zukunft der beiden Plattformen?

Ich freue mich über Meinungen und Rückmeldungen. Am liebsten nicht via Twitter oder anderswo, sondern hier unten in den Kommentaren zum Beitrag, damit sie alle lesen können, denn dort bleiben sie länger gespeichert als in den Sozialen Medien, und kein Algorithmus macht sie unsichtbar.

Wolfgang Tischer
Twitter: @literaturcafe
Mastodon: literatur.social/@literaturcafe

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3 Kommentare

  1. Danke für das ausführliche Statement. Ich bin schon seit zwei Jahren inaktiv bei Twitter und habe lediglich über WordPress den Kanal bespielen lassen, wenn neue Beiträge gepostet wurden. Nun fällt dieses Feature bei meinem WP-Account auch weg (sie wollen ein Upgrade auf Executive). Ich müsste es also händisch einstellen und lasse damit Twitter brach liegen. Die letzte Konsequenz mit dem Abmelden habe ich noch nicht gezogen. Vielleicht ist da immer noch ein Rest Hoffnung, dass es irgendwann wieder so wird, wie es war. Ok, ich merke es selbst.

  2. Der elende Algorithmus ist wirklich ein Problem, von der Seite betrachtet ist Mastodon wirklich die reine Freude. Aus meiner persönlichen Sicht ist es auch so, dass die Interaktion auf Mastodon besser ist, trotz weniger Kontakten.
    Viele sind halt immer noch auf Twitter, das ist tatsächlich ein Henne/Ei-Problem und Mastodon dürfte noch einiges an Politur vertragen. Ich war mit meinem ursprünglichen Account seit 2008 auf Twitter, als es noch richtig neu und cool war. Aber am Ende war der Dienst für mich nicht mehr nutzbar, da mir der Algorithmus fast nur noch Tweets von Personen eingestellt hat, die ich absolut nicht mehr sehen kann (Lauterbach, Spahn, etc).
    Jetzt fange ich mit einem neuen Account praktisch bei Null an (Twitter und Mastodon) und achte darauf, ja nichts kritisch zu kommentieren und blocke bestimmte Accounts in der Timeline sofort. Mal sehen …

  3. Wobei sich ja jetzt etwas ändern könnte, wenn man a) Twitter überhaupt nicht mehr uneingeloggt lesen kann und b) ohne Musk-Gebühr nur noch eine sehr begrenzte Anzahl an posts. Wie viele Leser fallen da weg?

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