Thomas Mann, Kafka oder Musil würden heute wahrscheinlich keinen Verlagsvertrag mehr bekommen – nicht weil sie schlecht sind, sondern weil wir anders lesen. Was früher große Literatur war, gilt heute oft als zu langsam, zu sperrig, zu unklar. Unverkäuflich! Das kann man beklagen oder mit der Zeit gehen.
Angenommen, Thomas Mann würde heute »Der Zauberberg« bei einem Verlag einreichen. Die Antwort käme wahrscheinlich nach drei Monaten per Standardmail (wenn überhaupt): »Vielen Dank für Ihr Interesse an unserem Verlag. Leider passt Ihr Manuskript nicht in unser aktuelles Programm. Wir wünschen Ihnen alles Gute!« Und das wäre keine höfliche Ausrede, sondern ehrlich gemeint.
Nicht etwa, weil Thomas Mann schlecht schreibt. Schließlich hat er für seine Texte den Nobelpreis erhalten. Doch das war 1929, das ist fast 100 Jahre her. Der Literaturbetrieb und die Verlage haben 2025 völlig andere Erwartungen als zu Zeiten der klassischen Moderne. Denn das Leseverhalten hat sich geändert. Die Zahlen des deutschen Buchmarktes zeigen die Realität: Während der Gesamtumsatz 2024 zwar um 1,8 Prozent auf 9,88 Milliarden Euro stieg, wie der Börsenverein meldete, ist dies primär dem wachsenden Erfolg von Social-Media-getriebenen Genres wie Young Adult und New Adult zu verdanken.
Literatur? Ja. Aber bitte mit Rendite!
Bei einem wachsenden, aber immer umkämpfteren Markt können sich Verlage literarische Experimente oder Nachwuchsförderung immer weniger leisten. Die Zahl der Buchkäufer ging 2024 um 2,0 Prozent zurück – nur bei den 16- bis 29-Jährigen stieg sie deutlich an (16-19 Jahre: +9,6 Prozent, 20-29 Jahre: +7,7 Prozent), so die offiziellen Zahlen des Buchhandels.
Diese junge und überwiegend weibliche Zielgruppe liest aber anders: Sie bevorzugt Young Adult und New Adult-Bücher, die durch BookTok bekannt wurden und inhaltlich oft erwartbar und einfach gestrickt sind. Komplexe Literatur wie die von Thomas Mann würde diese kaufkräftige Altersgruppe nicht erreichen.
Lesen nach F-Muster
Das Leseverhalten der Nutzer ändert sich fundamental. Online lesen Menschen ohnehin anders als in gedruckten Publikationen. Selten wird hier Zeile für Zeile gelesen, sondern »gescannt und überflogen«. Der Leser geht dabei nach einem F-Muster vor, liest also vor allem die erste Zeile eines Inhaltes, dann die ersten Wörter einer Zeile und nach Abschnitten wieder die erste Zeile. Diese Erkenntnis basiert auf Eye-Tracking-Studien der Nielsen Norman Group, die das Leseverhalten von Hunderten Probanden auf tausenden Webseiten untersuchte.
Diese veränderte Wahrnehmung hat direkten Einfluss auf die Manuskriptbewertung. Auch Bücher sollten heute sofort »funktionieren«, sie müssen die Leserin mit den ersten Sätzen packen und dürfen sie nicht mit langen Einleitungen verlieren.
Klassiker – aber bitte kürzer
Wobei Thomas Mann an seinem ausufernden Stil bereits damals gescheitert wäre. Als Thomas Mann 1900 das Manuskript seiner »Buddenbrooks« an Samuel Fischer schickte, war dieser nicht begeistert. »Glauben Sie, dass es Ihnen möglich ist, Ihr Werk um etwa die Hälfte zu kürzen, so finden Sie mich im Prinzip sehr geneigt, Ihr Buch zu verlegen […] Ich weiss, dass ich Ihnen eine ungeheuerliche Zumuthung stelle«, schrieb der Verleger.
Thomas Mann bestand auf der ursprünglichen Länge seines Familienepos und belastete damit die noch frischen Bindungen zum renommierten Verlag. Der Verleger ließ sich jedoch überzeugen und druckte den Roman, der sich anfangs nur schleppend verkaufte. Doch würden heutige Verlage einer solchen Beschwerde noch Gehör schenken? Ein so von sich überzeugter Autor würde als schwierig gelten. Besser ablehnen.
Kein Hook? Kein Vertrag.
Nehmen wir den berühmten Beginn des »Zauberbergs«: »Ein einfacher junger Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Davos-Platz im Graubündischen …« Heute würde eine Lektorin wahrscheinlich fragen: »Wo ist der Hook? Wo ist die Spannung? Warum soll ich weiterlesen?«
Die gemächliche Einführung Hans Castorps über mehrere Seiten entspricht genau dem, was heute als problematisch gilt: »zu viele Texte mit langem Anlauf«. Die philosophischen Diskussionen zwischen Settembrini und Naphta würden als zu kopflastig abgelehnt werden. Die berühmte Schnee-Episode, in der Castorp stundenlang durch die Schneelandschaft wandert und dabei über das Leben philosophiert, wäre ein Paradebeispiel für »unterbricht den Lesefluss«.
Exposé? Viel Glück, Herr Musil
Robert Musil hätte es noch schwerer. Versuchen Sie mal, »Der Mann ohne Eigenschaften« in einem Pitch zu erklären: »Ein junger Mann namens Ulrich nimmt sich ein Jahr ›Urlaub vom Leben‹ und wird Sekretär seiner Cousine, die eine Aktion zum Thronjubiläum des österreichischen Kaisers plant. Es passiert eigentlich nichts Dramatisches. Achja: das Buch ist noch nicht fertig geschrieben.«
Musil selbst macht im Mann ohne Eigenschaften eine »konstruktive Ironie« zum Programm: »Ironie ist: einen Klerikalen so darzustellen, daß neben ihm auch ein Bolschewik getroffen ist. Einen Trottel so darstellen, daß der Autor plötzlich fühlt: das bin ich ja zum Teil selbst«. Diese Komplexität ist heute schwer vermittelbar.
Wenn die KI das Sagen hat
Nicht nur Menschen bewerten heute Manuskripte. Media Control, der offizielle Ermittler der deutschen Buchmarkt-Charts, hat ein KI-basiertes Tool namens »DemandSens« entwickelt, das Verkaufserfolg von Büchern vorhersagen soll. Das System soll »fünf Milliarden Verkaufsdaten in nur 1,3 Sekunden« analysieren und erstellt Prognosen für drei, sechs und zwölf Wochen.
Amazon hat bereits alle Bücher in digitalisierter Form vorliegen, kennt Verkaufszahlen und die Verknüpfungen von Büchern untereinander. Mit dem Kindle und Audible wissen sie sogar, was innerhalb der Bücher gelesen wird. Es ist eine Frage der Zeit, bis dieses Wissen zusammengeführt und mittels KI zugänglich gemacht wird – wenn es nicht schon längst passiert.
Ein Text wie Kafkas »Das Schloss« würde an solchen Systemen scheitern: Konflikt nicht eindeutig, Protagonist nicht aktiv genug, kein befriedigender Abschluss.
Literatur in 60 Sekunden
Die Vermarktung von Büchern hat sich grundlegend verändert. Erfolgreiche Titel müssen heute auf Social Media funktionieren, müssen »aesthetisch« sein und schöne Zitate für Posts liefern. Ein Roman muss in 60-Sekunden-Videos erklärbar sein. Und die kaufkräftige Community sollte Autorin oder Autor am besten gleich noch selbst mitbringen.
BookTok, die Buchcommunity auf TikTok, habe laut eigener Aussage 2024 über 25 Millionen Buchverkäufe in Deutschland beeinflusst – mehr als doppelt so viele wie im Jahr davor. »BookTok hat in den letzten Jahren eine enorme Dynamik in die Buchbranche gebracht«, so Ulrike Altig, Geschäftsführerin von Media Control. Diese Entwicklung zeigt die Kraft der BookTok Community und deren Einfluss auf Veränderungen im Markt.
Früher Experimentierfreude, heute Absatzrisiko
Der deutsche Buchhandel orientiert sich zunehmend an schnellen Erfolgen. Die »Bestseller« von Autorinnen und Autoren, »deren Namen nicht einmal der Wind kennt«, werden saisonweise durchgetaktet, kritisierte Gerhard Beckmann bereits 2022. Bestsellerlisten spiegeln nicht mehr die Realitäten des Marktes. Darum bieten sie auch zunehmend weniger Kauf- und Lese-Anreize. Und wenn, dann nur in Form eines orangefarbenen Aufklebers, denen offenbar viele blind vertrauen.
Was früher literarische Experimentierfreude war, ist heute ein Absatzrisiko. Während die Belletristik neue Impulse erfährt, stoßen die anderen populären Warengruppen auf weniger Interesse – aber auch in der Belletristik dominieren bewährte Muster.
Zwischen Anspruch und Abverkauf
Die Verlage stehen vor einem Dilemma: Noch ist der Umsatzrückgang im deutschen Buchhandel überschaubar. Durch Preiserhöhungen und dank der Buchpreisbindung kann mit der bestehenden Leserschaft nach wie vor gut gewirtschaftet werden. Doch schon heute trifft der Rückgang der Leser die ersten Verlage, analysiert der Software-Dienstleister Elephantpark.
Eine vom Forschungsinstitut DIW Econ durchgeführte Studie sieht die gesamte Buch- und Verlagsbranche mitten in einem fundamentalen Strukturwandel. Hauptursachen seien ein verändertes Leseverhalten der Kunden und der steigende Wettbewerbsdruck durch neue digitale Angebote.
Wenn die Leser wegsterben
Laut einer Studie der Wirtschaftsprüfer PriceWaterHouseCoopers (PWC) wird Deutschland 2050 nur noch Platz 9 der großen Wirtschaftsmächte sein und nicht mehr Platz 5 wie heute. Ein Grund hierfür ist die Bevölkerungsentwicklung, schreibt Elephantpark. Neben der Leserschaft wird somit auch die Kaufkraft der noch verbleibenden Leser sinken.
Schreiben gegen den Algorithmus
Die harten Marktdaten zeigen: Wer heute noch »wie« Thomas Mann oder Robert Musil schreiben will, tut dies gegen alle ökonomischen Realitäten des Systems. Das bedeutet nicht, dass solche Texte minderwertig wären – aber sie haben strukturell schlechtere Chancen. Punkt.
»Die verlegerische Vielfalt in Deutschland ist absehbar nicht allein durch die Marktdynamik im Buchverlagswesen erhalten«, warnt die DIW-Studie. Das ist die Realität, mit der Autoren rechnen müssen.
Zwischen TikTok und Thomas Mann
Dabei geht es nicht darum, Intertextualität oder das Lernen von Vorbildern zu verteufeln. Jede Autorin und jeder Autor sollte sich seine Vorbilder suchen – das Lesen ist eine der wichtigsten Voraussetzungen fürs Schreiben. Vielleicht ahmen wir erst einmal unseren Vorbildern nach, bevor wir unseren eigenen Stil entwickeln. Das ist völlig normal und richtig, bewusst oder unbewusst.
Nur: Die Welt dreht sich weiter. Die Leser von heute lesen anders als früher. Viele lesen leider überhaupt nicht mehr. Die Aufmerksamkeitsmaschinerie und -ökonomie läuft anders, getrieben durch das Internet und die sogenannten Sozialen Medien. Da klingt es für viele schlimm und kulturell desaströs, wenn man feststellt: Ein Text von Thomas Mann oder Robert Musil hätte heute wahrscheinlich keine Chance mehr bei den meisten Lesern und Verlagen. Zu lange der Einstieg, zu ausufernd die Beschreibungen, bis es endlich losgeht. Zu subtil der Humor, und die Ironie wird von vielen heute gar nicht mehr verstanden.
Aber man schreibt nicht nur für sich allein. Die meisten streben nach Veröffentlichung. Und heute hat sich die Rezeption der Leserinnen und Leser geändert. Wer sie erreichen will, muss dem gerecht werden. Den eigenen Weg gehen und die Erwartungen von Lesern treffen – das wird von einigen Schreibenden knallhart geplant, andere treffen zufällig einen Zeitgeist.
Fazit: Realismus hilft und nichts ist planbar
Literatur, Schreiben und Veröffentlichen ist in den meisten Fällen nicht planbar. Zufall und Durchhaltevermögen sind wichtige Aspekte. Und dennoch: Die Verlage werden final nach ökonomischen Gesichtspunkten urteilen und bewerten. Ist der Text verkäuflich? Wollen die Leser das heute noch lesen?
Wer heute erfolgreich schreiben möchte, sollte sich nicht fragen, wie Thomas Mann geschrieben hätte. Sondern: Wie schreibt man für Menschen, die gewohnt sind, in 60-Sekunden-Häppchen zu denken? Wie erzählt man Geschichten für eine Generation, die parallel vier Bildschirme bedient?
Wer gelesen werden will, sollte heute nicht mehr unbedingt schreiben wie Thomas Mann.
Obwohl: Trotz aller Prognosen und KI-Einsatz sind Bestseller nicht wirklich planbar. Vielleicht gibt es ja demnächst in Südkorea einen Hype um einen Autor, der lange Sätze mit subtilem Humor schreibt und den die TikTok-Community vergöttert und dessen Ruhm bis nach Deutschland schwappt. Und die älteren Leser werden sagen: das gab es doch bereits!
Wer weiß das schon.
Wolfgang Tischer
Wie dieser Text entstanden ist
»Solche Texte funktionieren heute nicht mehr«, habe ich in der Sommerfolge unseres Schreibzeug-Podcasts über Thomas Mann und Robert Musil gesagt und einige der Argumente aufgeführt, die oben zu lesen sind. Daraufhin kommentierte jemand:
Dieses »man würde heute nicht mehr schreiben wie…« geht mir gehörig auf den Kranz. Schon mal was von Intertextualität oder Metatextualität gehört? Im Gegenteil: ich schreibe heute genauso wie, weil ich… und setze dieses Mittel bewusst ein.
Intertextualität oder Metatextualität haben mit meinem Urteil nichts zu tun haben, und daher ist klar, dass dieser Kommentator den Sachverhalt nicht verstanden hat. Wobei: Vielleicht wollte der Kommentator den Sachverhalt auch nicht verstehen, denn aus solchen Kommentaren lese ich auch die Verbitterung über die eigenen erhaltenen Verlagsabsagen heraus.
Ich meine mich auch daran zu erinnern, dass es vor vielen Jahren die Aktion gab, dass jemand einen Text von Thomas Mann an verschiedene Verlage geschickt hat und tatsächlich Standard-Absagen kamen. Leider habe ich dazu keine Quelle mehr im Internet finden können. Schon damals war die Häme über die Verlage groß, weil sie Weltliteratur nicht erkannt haben. Natürlich ist die Tatsache an sich blöd, aber gerade dann, wenn man Mann nicht (er)kennt, verwunderten mich die Absagen nicht. Heute muss ein Text anders »funktionieren«.
Daher dieser Text, der einige Punkte zusammenfasst. Weltliteratur bleibt natürlich Weltliteratur, aber dennoch ändern sich Lesegewohnheiten und vieles würde heute nicht mehr als solche erkannt und verlegt werden. Warum? Das lesen Sie oben.
Und bevor ich schon wieder falsch verstanden werde: Dies ist kein Text gegen Thomas Mann und seine Werke! Ich bin ein Fan seiner Texte, habe neulich vier Stunden live den Zauberberg gelesen und ich bin stolzer Online-Botschafter für Thomas Mann des S. Fischer Verlags.



„Wer gelesen werden will, sollte heute nicht mehr unbedingt schreiben wie Thomas Mann.“
Schreibt der Mann, der mich kürzlich mit seiner Zauberberg-Lesung geschlagene vier Stunden an den Youtube-Bildschirm gefesselt hat, ohne dass ich einmal weggeklickt hätte. 🙂
Dieser Text ist einseitig und chauvinistisch geschrieben! Dazu unsachlich.
Eine Tatsache, die verschwiegen wird: Verlage brauchen vermeintlich „einfach gestrickte, erwartbare“ Zugpferde, um weniger kommerzielle, dafür literarisch anspruchsvolle Werke überhaupt veröffentlichen zu können – das ist heute so und das war auch schon zu Zeiten von Thomas Mann so, als „Groschenromane“ noch im Kolportagestil zwischen Tür und Angel verkauft wurden. Das nennt sich „Querfinanzierung“.
Anstatt auf den kommerziell erfolgreichen Frauen der Branche und in der Leser:innenschaft herumzutrampeln und den guten alten Zeiten nachzujammern wären angebrachte Aufgaben des Buchmarkts und dessen Kritiker:innen:
1. Junge Männer zum Lesen bringen, denn das ist empathie- und damit demokratiefördernd. Wenn junge Frauen weniger stark am Patriarchat, Autoritarismus und Kapitalismus leiden würden, hätten sie womöglich die Muse und sogar die mentale Kapazität mehr Mann, Musil oder Steinfest zu lesen. Oder eben auch nicht, denn warum sollten sie? Diese Texte sind ganz klar von Männern für Männer. Dann doch lieber Austen.
2. Autor:innen und Übersetzungen aus anderen Erdteilen fördern, um einen diversen Literaturkanon zu bauen (komisch, dass Kazuo Ishiguro und Han Kang sich trotz TikTok verkaufen lassen, oder?).
Dieser Text birgt keine neuen Erkenntnisse, sondern weißt nur auf offensichtliche, zeitlose und universelle Fakten hin: Dass die neue Generation alles falsch mach, dumm ist und dass Menschen mit wenig Zeit und viel Stress packende Unterhaltung intellektuell anspruchsvoller, langatmiger Lektüre vorziehen. Revolutionär! (Für meine dummen Leser:innen, das war Ironie.)
Es ist 2025, nicht 1925 – zum Glück hat sich viel mehr geändert, als nur unser Leseverhalten.
Dieser Rant ist in wenigen Minuten entstanden und daher nicht so reflektiert wie er sein könnte, da hab ich mich ganz an Wolfgang orientiert 😉
Die oft zitierte »Querfinanzierung« vergangener Zeiten gibt es aufgrund der ökonomischen Zwänge in dieser Form nicht mehr. Verlage können es sich heute immer weniger leisten, mit Bestsellern literarische Experimente zu subventionieren. Lieber hätte man nur noch Bestseller. Zudem gehören viele Verlage zu Konzernen, bei denen auch von oben entsprechende Vorgaben kommen.
Der Text »trampelt« nicht auf Lesergruppen herum, sondern nennt Marktdaten. Dass die 16-29-jährige, überwiegend weibliche BookTok-Zielgruppe andere Bücher kauft, ist eine messbare Tatsache, keine Wertung. Es ist unfair gegenüber dieser Zielgruppe, sie als »einfach« darzustellen oder abzustempeln – sie liest nur anders und anderes. Nicht besser, nicht schlechter. Nicht richtig, nicht falsch. Anders. Derzeit. Wenn Sie sich mit dem Thema differenzierter auseinandersetzen wollen, finden Sie im literaturcafe.de entsprechende Artikel und Interviews. Was in diesem Bereich passiert, ist beachtenswert. Gerade die Autorinnen in diesem Bereich haben die Veränderungen längst verstanden und nutzen sie zu ihrem Vorteil. Das unterschiedliche Leseverhalten von Männern und Frauen ist nicht Thema des Beitrags. Der Artikel blickt auf Marktmechanismen – KI-Bewertung, Social Media-Einfluss, veränderte Lesegewohnheiten. Man solle nicht den Fehler begehen und die Realität als Polemik interpretieren, auch wenn es für den ein oder die andere so vorkommt.
Dass Kazuo Ishiguro und Han Kang sich verkaufen, widerspricht diesen Entwicklungen nicht – beide haben Nobelpreise und damit eine völlig andere Vermarktungsgrundlage als unbekannte Autoren mit sperrigen Texten.
Der Artikel beklagt keine »gute alte Zeit« (die es ohnehin nie gab!), sondern beschreibt, warum bestimmte Texte heute strukturell schlechtere Chancen haben. Es geht dabei nicht um »gut« oder »schlecht«, sondern um veränderte Marktbedingungen. Ich weiß, dass es für einige nicht einfach ist, diese Dinge zu akzeptieren. Lieber liest man durch die eigene Brille das hinein, was man gerne lesen lesen möchte – oder über das man sich aufregen möchte. Aber damit tut man sich auch selbst keinen Gefallen. (WT)
Wie schön, dass dieser Artikel zu einem auch weiterhin überfälligen Diskurs unter Lesenden und Schreibenden anregt. Wie schade, dass der Text reflexartig auch gekapert und instrumentalisiert wird für feministische Austeile und die übliche Aufgeregtheit. Das ist leider glatte Themenverfehlung, werte Autorin.
Denn die von Wolfgang Tischer hier angesprochenen Zusammenhänge erzählen nicht nur etwas über den Literaturvertrieb sondern insbesondere über uns selbst als Lesende und Schreibende. Über unsere Gesellschaft, die einen derartig durchökonomisierten Literaturbetrieb überhaupt erst hervorbringen konnte. Da bleibt für Staunen in der Tat nur noch wenig Raum. Das ist fatal, ist es doch Triebfeder menschlichen Handelns und zivilisatorische Kinderstube.
Mir scheint, dass wir Lesende und Schreibende recht wenig dazu beigetragen haben und beitragen, dass diese für mich fragwürdigen, depolitisierenden und narkotisierenden Entwicklungen des Literaturbetriebs auf dem Weg in die Falle seiner eigenen Erwartbarkeit einen anderen Lauf genommen hätten. Wir wollten halt veröffentlicht werden. Und zum Glück gab es dann ja noch Selfpublishing. Da hätte man schreiben können, was persönlich wirklich wichtig erscheint und über den eigenen Tellerrand etwaiger Genres hinausführt. Aber selbst dort ist ein wesentlicher Unterschied zur großen Schwester nicht erkennbar. Höchste Zeit also, dass dieser Artikel hier erschien und debattiert wird.
Da muss man anscheinend gratulieren!
Wolfgang Tischer schreibt einen humorvollen und doch ernsten Text darüber, wie die Verlage heutzutage mit einigen bekannten Autoren und ihren Wälzern von vor 110 Jahren umspringen würden, und Sie zücken sogleich Ihre Gender-Feder und beklagen die angeblich »chauvinistische Schreibweise«, fordern kategorisch junge Männer »zum Lesen« zu bringen, weil Sie es für »demokratiefördernd halten«. Schöner Gedanke…, aber zugleich irgendwie autoritär, finden Sie nicht?
Ich fand den Artikel sehr interessant, aber teilweise etwas zu undifferenziert.
Erstmal hätte ich es schön gefunden, wenn nicht suggeriert worden wäre, dass die TikTok-Zielgruppe ausschließlich NA und YA liest, das stimmt nämlich nicht. Yellowface zum Beispiel war ein riesiger BookTok-Hype. Und selbst wenn etwas nicht auf TikTok trendet, können Menschen in der Altersgruppe (wie ich) es ja trotzdem lesen. Es nutzen nicht mal alle Leser*innen zwischen 13 und 30 TikTok. Okay, da steht „bevorzugen“, das ist eine schöne, nicht pauschalisierende Formulierung. Aber dann geht es weiter mit: „Komplexe Literatur wie die von Thomas Mann würde diese kaufkräftige Altersgruppe nicht erreichen.“ Wie wäre es mit „würde das Gros dieser kaufkräftigen Altersgruppe nicht erreichen“? Oder eine ähnliche Formulierung? Übrigens gibt es auch #classicliterature auf TikTok. Insbesondere Kafka ist da sehr beliebt. Wollte ich auch nochmal in den Raum stellen.
Dann fand ich es etwas merkwürdig, dass Thomas Mann und Co als „DIE Literatur von früher“ dargestellt wurden und NA als „DIE Literatur von heute“. Gleichzeitig steht im Artikel, dass Der Zauberberg sich erstmal nur schleppend verkauft hat. Das ist doch ein entscheidender Punkt: Die tatsächlichen Bestseller vergangener Zeiten kennen wir in der Regel gar nicht mehr! Ist es nicht so, dass experimentelle/anspruchsvolle Literatur schon immer nur von einem kleinen Teil der Buchkaufenden gelesen wurde, statt von der breiten Masse?
Wenn wir das berücksichtigen, hat sich, glaube ich, gar nicht so viel geändert. Denn natürlich wird heute immer noch anspruchsvolle Literatur veröffentlicht und gelesen. Abseits der Bestsellerlisten. In der Regel in kleinen Verlagen in kleinen Auflagen und von wenigen Leser*innen.
Dass es von letzteren immer weniger gibt, ist natürlich ein entscheidender Punkt. Allerdings frage ich mich, gibt es durch den starken Anstieg der Bevölkerung nicht immer noch mehr Leser*innen in Deutschland als vor 100 Jahren? Und mehr Verlage? Mehr Neuerscheinungen? Ich weiß ja nicht, ob die Chancen von anspruchsvoller Literatur heute wirklich schlechter sind als damals. Zumindest die auf Veröffentlichung.
Die von Thomas Mann, die wären mit Sicherheit schlechter. Aber nicht, weil er anspruchsvoll ist, sondern weil seine Art zu schreiben, nicht mehr modern ist. Auch anspruchsvolle Literatur geht mit der Zeit. (Senthuran Varatharajah, Maren Kames, Raphaela Edelbauer und Helene Hegemann würden mir jetzt als Beispiele einfallen, die zusammengenommen einen ganz guten Eindruck geben, wie anspruchsvolle Literatur heutzutage aussehen kann. Wobei ich natürlich den Urheberrechtsverstoß letzterer nicht unterstütze.) Aber nicht, um sich möglichst gut zu verkaufen, sondern weil Kunst das immer tut. Schätzungsweise, weil auch die Menschen, die sie erschaffen, in unterschiedlichen Zeiten großwerden. Wenn ich ein altes Buch lese, kann ich das auch aus heutiger Perspektive toll finden. Wenn aber jemand heutzutage so schreiben würde, würde das höchstwahrscheinlich nicht funktionieren. Außer, das Ganze ist perfekt imitiert, dann lese ich doch aber lieber etwas authentisch altes – oder der Roman referenziert nur und bringt neue Elemente rein. Die üblichste Form ist hier mit Sicherheit die Parodie, die die Merkmale damaliger Literatur ironisch überspitzt.
Damit wären wir auch beim nächsten Punkt: Dass Menschen Ironie verlernt hätten, halte ich für großen Unsinn. Natürlich treiben sich viele Leute im Internet herum, die unfähig sind, Ironie zu verstehen. Aber m. E. gab es die schon immer, früher musste nur niemand ihre Ergüsse lesen, weil entsprechende Leserbriefe meist gar nicht geschrieben und erst recht nirgendwo abgedruckt wurden. Und ironische Literatur gibt es immer noch zuhauf. Auch das Internet ist voll von ironischen (journalistischen) Kommentaren. Aber vielleicht war es so auch gar nicht gemeint. Vielleicht war die Art und Weise gemeint, wie Mann und Musil Ironie verwendet haben. Die wird heute mit Sicherheit tatsächlich schlechter verstanden als damals, weil die zeitgenössischen Bezüge für Menschen von heute weniger ersichtlich sind und die Sprache weiter von der Alltagssprache weg ist und somit schwerer zu erfassen. Aber das wäre jetzt auch keine wirkliche Erkenntnis, das ist ja offensichtlich.
Zu guter Letzt möchte ich als Lektorin anmerken: Der Anfang des Zauberbergs hat doch eine Hook, mehrere sogar! Keine bombastische mit Explosionen oder einem rasanten Dialog, klar, aber schon in diesen wenigen Wörtern, die hier zitiert wurden, steckt doch total viel. „Ein einfacher junger Mensch“ – ist er wirklich einfach? Welcher Mensch ist schon wirklich einfach? Gerade einer, über den ein Roman geschrieben wird. Da will ich mir sofort selbst ein Bild machen und anschließend entscheiden, ob ich die Hauptfigur letztendlich tatsächlich auch als einfach bezeichnen würde, und wenn ja, in welcher Hinsicht. Dann frage ich mich, warum hier Mensch steht statt Mann, auch nicht uninteressant. Und zu guter Letzt natürlich, warum wird diese Reise unternommen?
Also, Hooks, Spannung, Gründe weiterzulesen, alles da.
Und beim Mann ohne Eigenschaften – der Pitch ist doch super! Klar, wenn ich nach einem klassischen Selbstfindungsroman suche, dem die Heldenreise zugrundeliegt, passt das natürlich nicht. Aber es ist witzig und du kriegst einen Eindruck, um was für Literatur es sich handelt. Ich als Lektorin, wenn ich in einem Verlag arbeiten würde, der entsprechende Bücher herausbringt, würde sofort sagen „gib mir eine Leseprobe“.
Damit will ich nicht sagen, dass ich Mann und Musil akquirieren würde. Wie gesagt, nicht mehr modern innerhalb der heutigen anspruchsvollen Literatur. Aber an Anfang und Pitch lässt sich das m. E. nicht festmachen.
Das wären so meine Ansichten zum Thema.
Mal ganz entspannt nebenbei zu Musil: Meines Wissens war „Der Mann ohne Eigenschaften“ zu Lebzeiten des Autors schwerst verkäuflich. Wenn dann auch mal das journalistische Einkommen von Musil nicht reichte, hat Ernst Rowohlt ihm hin und wieder außerhalb der Tantiemenabrechnung etwas zugesteckt. Klassische Querfinanzierung durch eine Verlegerpersönlichkeit, versuch das heute mal in einem Verlagskonzern…!
Geld reingebracht hat u.a. Tucholsky, dessen hochironischen Anfang von „Schloß Gripsholm“ (köstlicher Briefwechsel zwischen Autor und Verleger über Marktchancen eines Liebesromans) man in diesem Zusammenhang gerne mal wieder genießen darf.
Musils Romananfang finde ich übrigens ausgesprochen „modern“, für visuell geprägte Menschen entspricht er dem in SciFi-Filmen gern verwendeten Anfang mit dem Blick aus einem Raumschiff beim Flyby an unserem blauen Planeten – anschließend folgt dann der Zoom ins Gewusel der in ihren letzten Zuckungen liegenden KuK-Population mit ihren Schranzen, Wichtigtuern und nützliche Ameisen, die anlässlich einer anstehenden Feierlichkeit ihre innere Leere mit bombastischer Geschäftigkeit zelebrieren.
Das gab es auch früher. Schopenhauer hatte Mühe, seine Bücher verlegen zu lassen. Seine Mutter schrieb Kolportageromane und konnte teilweise davon leben.
Angeblich hat sie mal ihrem Sohn vorgeworfen: „Meine Bücher verkaufen sich besser als deine.“ Worauf Schopenhauer geantwortet haben soll: „Meine werden dafür auch in hundert Jahren noch gelesen werden.“
Ob es stimmt, weiß ich nicht. Beschreibt aber sehr treffend die Situation. Viele Bestseller aus Thomas Manns Zeit kennt heute keiner mehr. Seine Buddenbrooks verkauften sich erst schleppend.
Wer was liest, entscheidet eben der oder die oder das.
Und deshalb muss es jene und solche Bücher geben. Für Hinz und Kunz und über dies und das.
By the way:
Lesen ist heute meher denn je ein Zeitfaktor. Hab eich Zeit für 250 und meher Seiten? Nein.
Ich nicht. Andere schon. Ich bin ein großer Fan von ShortStories. In Amerika, England und Frankreich wird Kurzprosa geliebt. In Deutschland aber heißt es, sie seien schwer verkäuflich. Man würde das nicht kaufen und lesen. Ah ja. Wer bestimmt den Markt? Die kaufende Person? Echt? Seit wann kann die Käuferschaft über die neuste Sommerkollektion entscheiden? Ist es nicht vielmehr so, dass dank kräftiger Werbung und einem Markengesicht Schlaghosen aus dem Siebzigern wieder en vogue sind? Und Vokuhilas den Trottoir schmücken? Okay, den Berliner Bürgersteig und den Hamburger und Kölner. Nicht den in Detmold oder Posemukel.
Mein Vorschlag:
Drückt Prince Damian den Buddenbrook in die Hand und schon wird er von der Tik-Tok-Generation gehypt. Nehmt Kim Kardashian mit Alice Munroe-Büchlein und Tony Garns mit weiß-der-Geier-was … so funktioniert Markt. Die Käuferschaft will überlistet überrumpelt und bevormundet werden.
Ein sehr schöner Beitrag zum Wandel des Lesens und des sog. Buchmarktes. Der Mehrzahl der Verleger (eigentlich sind es keine Verleger mehr, sondern Manager) sind inzwischen Inhalt und Qualität eines Buches vollkommen Wurst. Monetarisierung heißt das Zauberwort. Gedruckt wird, was sich verkauft, und wenn es die unsortierten Einkaufszettel von Kim Kardashian sind. Das ist, mit Verlaub, eine Pervertierung.
Die im Beitrag geschilderte Realität führte bei mir nach sechs erfolgreichen Buchveröffentlichungen (ja, auch in „richtigen“ Publikumsverlagen) dazu, dass ich meinen Beruf an den sprichwörtlichen Nagel gehängt habe. Für das eine und die zwei halben Romanmanuskripte, die noch in der Schublade liegen, interessiert sich kein Agent, kein Verleger mehr.
Was der Beitrag ausblendet, ist die Vielzahl der Schriftsteller, deren Existenz durch diese Entwicklung gefährdet wird. (Mir hilft glücklicherweise die Rentenversicherung. )
Was uns wieder zu Thomas Mann führt: Ein Schriftsteller ist ein Mensch, dem das Schreiben schwerer fällt als anderen.
Das freilich kann der neuen Generation von Autoren nicht passieren, die leichtfüßig den Social-Media-Trends hinterherschreiben.
Schriftsteller ist ein Beruf? Seit wann gibt es diesen Ausbildungsberuf? Bitte mal durchstellen, das wäre nämlich ein Gütesiegel.
Falls Sie dieser Klaus Jäger sind, der beim Militär studierte und dann Berufssoldat war, also dieser Kaus Jäger hat einen (Ausbildungs-)Beruf: nämlich den des „achtbaren“ Eisenbahners.
Insofern können Sie Ihr Hobby und Ihre Passion, denn nichts anderes ist das Schriften erstellen, an den Nagel hängen, nicht aber Ihren Beruf.
Liebe Redaktion, sehr interessanter Artikel.
Ich glaube dass die Lösung für die Massen von wannabe Bestseller Autoren die Glorie auf diese Erde suchen, ganz einfach ist: das Meisterstück soll die KI schreiben. So einfach ist es. Die KI kennt alle Tricks, um die Aufmerksamkeit der Leser bis zum letzten Wort der letzten Zeile der letzten Seite aufgeputscht zu halten. Die KI kennt die passenden Inhalte, Charakters, Kontraste usw. die den Markterfolg garantieren. Außerdem, da die KI von der KI selbst bewertet wird, ist das Risiko eines Scheiterns gleich null.
Also bitte kein Thomas Mann, kein Musil und um Gottes willen bloß kein Peter Weiss mit seiner unerreichbaren (für die von ADHS zerstörten Gehirne von Heute) Ästhetik des Wiederstandes. Passen alle nicht in unsere brave new World Zeiten.
Es bliebt die Frage, was macht man mit viel zu viel komplexen Werken wie „Infinitve Test“ oder „Ein weites Feld“ die Ende XX Jahrhundert, also nicht vor hundert Jahre, publiziert wurden? Sofort rausschmeißen aus dem Katalog um Platz an Meisterstücke wie „Wir sehen uns wieder am Meer“ oder „Kein Geld Kein Glück Kein Sprit“ zu machen. Wunderbare Zeiten sind unsere.
Liebe Grüsse