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Den Zauberberg in vier Stunden entzaubert – Bericht einer Lesung auf dem größten Marktplatz Deutschlands

Der Zauberberg: Lesung vor dem Ko-Kubus auf dem Marktplatz von Freudenstadt
Der Zauberberg: Lesung vor dem Ko-Kubus auf dem Marktplatz von Freudenstadt

Zwischen »literarisches Monument« und »langatmiger Langweiler«: Der Zauberberg von Thomas Mann schreckt ab, begeistert und polarisiert. Wenn man aber vier Stunden daraus laut auf einem Marktplatz liest, sieht der 1.000-Seiten-Roman plötzlich ganz anders aus. Der Bericht einer öffentlichen Lesung von Wolfgang Tischer.

Vier Stunden stand ich gestern auf dem größten umbauten Marktplatz Deutschlands und habe den »Zauberberg« von Thomas Mann in Freudenstadt gelesen. Den Anfang. Genau 10 Prozent des Werkes, die ersten gut 100 Seiten. Ich hatte hierfür eine Lesezeit von vier Stunden berechnet, was sich als realistisch erwiesen hat. Bei rund 5 Prozent habe ich eine fünfminütige Pause gemacht, ansonsten »durchgelesen« – mit Begrüßung und ein paar Erläuterungen für die Zuhörer.

Das Wetter war mit rund 26 Grad und blauem Himmel am 12. Juni 2025 hervorragend für eine Open-Air-Lesung. Die Wirtschaftsförderung der Stadt stelle mir mit dem sogenannten Ko-Kubus den Ort und die Internet-Anbindung bereit, denn alles wurde parallel live gestreamt und aufgezeichnet. Bei schlechtem Wetter wäre die Stadtbibliothek nebenan der Ausweichort gewesen. Doch das war nicht nötig.

Vieles muss bei langen Lesungen unter freiem Himmel bedacht werden. Vor allem die Sonne wandert in dieser Zeit, und ich will nicht mitwandern. Stehe ich zwischen 17 und 21 Uhr plötzlich ungeschützt im Sonnenlicht? Oder gibt es Problem mit dem Kamerawinkel der Webcam? Alles hat gepasst! Fast schon malerisch ging hinter mir die Sonne unter, während ich las.

Live-Lesung: Zehn Prozent Zauberberg von Thomas Mann
Das Logo zur Lesung: »10% Zauberberg«

Ich ging nicht davon aus, dass jemand online oder gar vor Ort wirklich vier Stunden zuhört. Man durfte kommen, gezielt oder zufällig, zuhören, bleiben oder gehen. Nebenan hatte die Weinbar geöffnet. Von heiliger, ehrfürchtiger Stille angesichts einer Thomas-Mann-Lesung bin ich nicht ausgegangen.

Vier Stunden »Der Zauberberg« war eine Kunstaktion, eine stehende Performance, ursprünglich aus einer nicht ganz ernst gemeinten Bemerkung entstanden.

Wolfgang Tischer vom literaturcafe.de ist offizieller Thomas-Mann-Botschafter
Wolfgang Tischer vom literaturcafe.de ist offizieller Thomas-Mann-Botschafter

Ich bin Thomas-Mann-Botschafter, und es war eine Ehre, vom Fischer Verlag hierfür angefragt worden zu sein, zum Jahr des 150. Geburtstags von Thomas Mann – und seines 70. Todestages. Gemeinfrei werden Manns Werke also erst im kommenden Jahr.

»Darf ich denn als Online-Botschafter für Online-Aktion seine Werke verwenden?«, war meine Frage an den Verlag. »Rund 10 Prozent eines Werkes sind okay«, war die Antwort. »Na, das wäre ja beim ›Zauberberg‹ nicht gerade wenig!«, war meine etwas ironische Antwort.

Und plötzlich war da die Idee: Warum nicht wirklich 10 Prozent des Zauberbergs lesen? Einfach den Anfang. Der Roman hat in der wunderschönen Jubiläumsausgabe in Schneeweiß 1076 Seiten, 10 Prozent wären gut 100 Seiten. Ein Testlesen ergab eine Lesezeit von 2 Minuten pro Seite. Vor Publikum liest man immer etwas langsamer als im Studio, sodass mit vier Stunden Lesezeit für 10 Prozent des Textes zu rechnen ist. Das ist machbar, denn immerhin hatte ich schon bei ähnlichen Aktionen acht Stunden Hölderlin gelesen.

Dann kam die Mail der Stadt Freudenstadt, dass auf dem Marktplatz während der Landesgartenschau Tal X ein mobiler Coworking-Space errichtet wird. Ein hölzerner Container mit Internetanschluss, der stundenweise als Arbeitsplatz gemietet werden kann, mit Blick auf den anfangs erwähnten größten umbauten Marktplatz Deutschlands (rund 4,7 Hektar groß). Im doch sehr kleinen Container zu lesen, war keine Option. Aber davor! Statt im Studio daheim und für den Live-Stream, lese ich gleichzeitig öffentlich auf einem Marktplatz. Eine Idee, von der die Wirtschaftsförderung Freudenstadt begeistert war. Gleichzeitig hatte ich auch bei der Stadtbücherei gefragt, ob ich dort lesen könne. Auch dort war die Leiterin sofort von der Idee angetan. Daher war der Plan: bei gutem Wetter draußen, bei schlechtem Wetter drinnen. Und das Wetter war am 12. Juni 2025 phänomenal gut.

Technisch wurde mit kleinstem größten Aufwand gestreamt: direkt mit der Webcam des MacBook Air, der Ton vom drahtlosen Headset wurde vom Rodecaster veredelt und beides via OBS zu YouTube geschickt. Als kleines Gimmick gab es im Bild eingeblendet einen Fortschrittsbalken bis 100 bzw. 10 Prozent. Geplant war eigentlich auch ein paralleler Stream auf Instagram, doch die Verbindung zum Server von Instagram klappt dann leider nicht. Doch in Sachen Archivierung ist YouTube ohnehin die bessere Plattform. Vor Ort stand natürlich zur Beschallung noch ein mobiler Lautsprecher. Ein Roll-up neben mir erklärte den Zuhörern, was ich da mache und lese.

Ich las im Stehen auf dem Eingangspodest des Ko-Kubus, einer natürlichen kleinen Bühne. Im Sitzen wäre zwar entspannter, aber irgendwie gehört es dazu, dass man auf einem Marktplatz stehend Texte deklamiert. Was würde wohl anstrengender sein: vier Stunden lesen oder vier Stunden stehen?

Ursprünglich wollte ich aus der wunderschönen Jubiläumsausgabe des S. Fischer Verlags lesen. Der Zauberberg erschien erstmals vor 100 Jahren im Jahre 1924. Doch die schneeglitzernde Leinenausgabe wiegt rund 1,5 Kilogramm. Die kann man beim Lesen keine 4 Stunden in der Hand halten. Schon bei den Proben tat mir der Arm weh. Daher war klar, dass ich die E-Book-Ausgabe vom E-Reader lesen werde.

Und tatsächlich hörten mir Menschen vier Stunden zu. Zumindest vor Ort. Okay, eine Handvoll Menschen. Aber immerhin!

Und die Lesung selbst? Und der Text?

Bei den Proben hatte ich große Teile der 100 Seiten gelesen, aber nicht alles. Ich wollte mich auch selbst noch etwas überraschen lassen. »Der Zauberberg« gilt ja als »Jahrhundertroman«. Er soll – neben den »Buddenbrooks« – maßgeblich dazu beigetragen haben, dass Thomas Mann 1929 den Literaturnobelpreis erhielt. Es gibt unzählige Interpretationen und Deutungen des Werkes. Es gibt Überhöhungen und Schmähungen. Zum Jubiläumsjahr des Buches und im Geburtstagsjahr des Autors gibt es Diskussionen über den Text, seine Figuren und seine Handlung. Wobei einige sagen, letztere gäbe es auf den über 1.000 Seiten eigentlich nicht. Buchstäblich alles ist an diesem Werk mehrfach gedeutet und interpretiert worden.

Für mich hat sich all das bei vier Stunden lesen entzaubert. Positiv entzaubert. Denn ich habe 10 Prozent eines unglaublich witzigen Buches gelesen. Wunderbare Dialoge zwischen Hans Castorp und seinem Vetter Joachim, dunkelschwarzer Humor. Das Lesen war eine Freude! Und die langen Sätze? Das Erstaunliche: Beim Lesen hat man sie wunderbar im Griff. Man(n) liest mit solcher Aufmerksamkeit, dass man weiß, dass da ganz hinten am Ende noch ein Verb kommen muss. Mark Twain hat sich ja schon über diese Eigenart der deutschen Sprache lustig gemacht, doch beim Lesen von Thomas Mann spüre ich förmlich die Freude des Autors und sein Vergnügen, solche Sätze zu konstruieren. Und ich hatte die gleiche Freude und das Vergnügen beim Lesen! Der große teilweise aufgepumpte intellektuelle Überbau war plötzlich weg und vor mir lag eine kurzweilige Lesepartitur, deren Interpretation an diesem 12. Juni 2025 ein Vergnügen war. Für mich und für das Publikum in Freudenstadt und in der Welt.

»Wann«, so frage mich eine Zuhörerin nach der Lesung, »werden Sie denn die übrigen 90 Prozent lesen?«

Wolfgang Tischer

Zum Nachschauen: Die Lesung bei YouTube

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5 Kommentare

  1. > Denn ich habe 10 Prozent eines unglaublich witzigen Buches gelesen.
    Genau so kommt es bei mir im Video auch rüber! Kein Geraune, sondern eine unbändige Erzähllust. Wer zum Vergleich in die Version von Thomas Sarbacher reinhört, wird das sofort bemerken.

    > »Wann«, so frage mich eine Zuhörerin nach der Lesung, »werden Sie denn die übrigen 90 Prozent lesen?«
    Das wäre auch meine Frage. Eine ungekürzte Tischer-Ausgabe würde ich mir auf Audible jederzeit zulegen.

  2. Moin Wolfgang.
    Wir haben zugehört! Und zwar volle vier Stunden! Sooooo schön!
    Meine Freundin in Leipzig, ich in Hambourch … voller Genuß.
    Man kann dabei Tee trinken, auf der Ruderbank sitzen und fantastisch bügeln. Weil das nämlich nur bei uns hier oben so richtig akurat ist, also das Bügeln.
    Was ich festgestellt habe:
    Ich musste erst 50 werden, um so richtig auf dem Berg zu stehen und ihn zu genießen.

    Abschließend:
    Bitte mehr davon Denn noch nie war der Zauberberg witziger und charmanter vorgetragen.
    Und: ales gute für die Stimme, die sich nun erholen darf. Auf Davos 🙂

    • Ja, genau so! Ich habe auch die vollen 4 Stunden gelauscht und war fast traurig, als sie schon vorbei waren. Seit fast 10 Jahren liegt eine wunderschöne Ausgabe bei mir auf dem Stapel der unbedingt bald zu lesenden Bücher. Und jetzt warte ich auf die restlichen 90%, vorgetragen von Wolfgang Tischer. Eine Offenbarung für mich! Eine grandiose Leistung! Applaus!

  3. Was für eine tolle Aktion! Und auch eine super Idee, um auf unsere klassischen Werke aufmerksam zu machen. Wolfgang, das ruft nach einer Fortsetzung! Ob du die nächsten 100 Seiten Thomas Mann oder doch etwas anderes von Anfang an vorliest, magst du entscheiden. 😉

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