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Textkritik: Feuerzauber – Prosa

Eine Textkritik von Malte Bremer

Feuerzauber

von Horst Brendel
Textart: Prosa
Bewertung: 4 von 5 Brillen

Ich wollte eigentlich keine Weihnachtsgeschichte erzählen. Aber es ergab sich so. Hier unten, direkt vor unseren Augen, geschahen Dinge, die allerhöchste Verwunderung nach sich zogen.
Als Werbemann war ich erfolgreich. Unsere Agentur hatte in ihren besten Zeiten mehr als 50 Mitarbeiter. Wir verdienten klotziges Geld, aber die Kunden waren zufriedener als ich. Vor zwei Jahren bin ich ausgestiegen. Jetzt lebe ich in der Opernpassage.
Heute ist Premiere der Walküre; das bedeutet jede Menge Störung am späten Nachmittag und nochmals eine ärgerliche, hundertfache Unruhe so kurz vor Mitternacht, wenn das erschlagene Publikum zur Tiefgarage zurückströmt.
Ich kenne das: sobald der Walkürenritt vorbei ist, versteifen die meisten Männer den Hals, damit ihnen beim Einschlafen der Kopf nicht zur Seite sinkt. Mit gläubig geschlossenen Augen lässt sich vollkommene Hingabe an die Musik darstellen; wichtig ist nur das geräuschlose Atmen.
Vor einer Woche habe ich Oldies Lager in der trockenen Ecke der Opernpassage geerbt. Er ist im Marienkrankenhaus an seiner Lungenentzündung gestorben, die nahmen ihn nur ungern, fanden ihn unappetitlich, alt und überreif, aber mir hat er seinen Luxusplatz vermacht: klimatisch günstig gelegen, weil die Abgase des Parkhauses sich in dem langen Gang verlieren, der zu mir heraufführt. Nachteilig ist das ständige Klappen der feuerfesten Stahltür, die etwa zehn Meter weiter Zutritt zum Untergeschoss der Oper gewährt. Beflissene Herren stemmten sich jeweils gegen einen der schweren Türflügel, um ihren Damen – viel tiefe Provinz dabei – den Durchgang zu erleichtern.
Mit dem Heranrücken der Ouvertüre beschleunigen sich auch die Schritte der Besucher; die letzten, kurz vor fünf, rennen geradezu an uns vorbei, die Herren vorneweg, vorwurfsvoll nach hinten winkend, schon den Mantel offen, wobei reichlich Würde verloren geht und manche frisch gemeißelte Damenfrisur ins Schwanken kommt.
Egon, links neben mir in seinem Schlafsack vergraben, hob etwas den Kopf und fragte nach dem Titel der heutigen Oper. Walküre? Mit so einer war ich mal verheiratet, meinte er ernsthaft, bevor er einen Zug aus der Pulle nahm: Eine Literflasche Grüner Veltliner von Aldi, ganz gut zu trinken, aber wenn danach gekotzt wird, riecht es sehr sauer.
Die Qualität der Blicke, die uns streiften, reichte für mehrere Sargdeckel. Verständlich. Mit einer Premierenkarte für 135 Mark in der Tasche steigt man nur ungern über einen schnarchenden Sans abri hinweg! Danach schmecken die in den Pausen gereichten Lachshäppchen wie Sozialamt. Ganz zu schweigen vom Champagner für 18 Runde das Winzigglas.
Heute, am Walküren-Samstag, einem 22.Dezember, nächtigten wir zu sechst in der Passage. Leider war auch Niagara dabei, so getauft, weil er das Wasser nicht mehr halten konnte oder wollte. Deshalb fließt den verehrten Opernbesuchern ein kleines Flüsschen mit scharfem Odeur entgegen, dem sie nur auf Zehenspitzen entkommen können. Mit schlechtem Gewissen fluchen sie stumm vor sich hin.
Nicht ohne Grund erhalten wir hier unten immer wieder Besuch von Grünspechten (4.Revier), die ein bisschen Psychoterror praktizieren wollen, weil jedermann unser Matratzenlager in der Opernpassage für eine unhygienische Schweinerei hält, es sich aber nicht offiziell zu sagen wagt.
Wir wurden auch Gegenstand publizistischer Neugier. Der Rheinische Bote schickte eine zwanzigjährige Praktikantin, eine mollerte Dunkelhaarige mit Rehaugen, die, wie man hört, einen Bericht voll moderner Bestürzung verfasste, den aber der Chefredakteur auf Normalmaß zurückstutzen ließ. Das wäre ja noch schöner: Eine Mitleidshymne auf die Penner im Untergrund!
Aber Vorsicht Vorsicht – überall liegen Grüne und andere Menschenfreunde in selbst gestrickten Pullovern auf der Lauer, die uns gern als Mitglieder der menschlichen Gesellschaft bezeichnen und Empörung von sich geben, wenn man uns zu nahe tritt. Ist ja auch leicht für die, denn wir lagern ja nicht in ihrem Hausflur.
Also wie gesagt: heute waren wir sechs. Außer Egon, Niagara und mir noch Dr. Mabuse (richtiger Name unbekannt), Tirol-Rudi und Karl Museum. Dr. Mabuse war früher Bäckermeister, bis seine Frau mit seinem kroatischen Hiwi durchbrannte. Tirol-Rudi behauptet, Österreicher zu sein, spricht aber sächsisch. Der könnte aus Pirna kommen. Karl Museum heißt so, weil er immer links vom Eingang zur Kunsthalle schnorrte, bis ihn einer in der Dunkelheit mit grüner Autosprayfarbe kolorierte.
Frauen, genannt Zwiebeln (weil Egon sie zum Heulen findet), dulden wir hier unten in der Passage nicht. Aber hin und wieder sorgt sich Frau Dr. Binsenwerth um uns, eine pensionierte Dermatologin, die als Bühnenärztin der Oper agiert und auch ein Auge auf die niederen Weihen der Gesellschaft wirft.
Sie spricht einen bedächtigen süddeutschen Dialekt, jedes Wort braucht seine Zeit, was einen aber nicht täuschen sollte, denn im Grunde ist sie eine Energiepflanze, die in ihrer ständig überfüllten Altstadtpraxis jede Menge Schwalben und Schwule verarztet hat.
Die Aids-Tante kommt wieder! brummte Egon, wenn er sie in ihrem üppigen Fuchspelz erspähte (sie wagte es kühn, noch Pelz zu tragen und verkündete, darauf angesprochen, gemütlich badisch: Die Biester sind doch eh schon tot…). Gleichwohl nahm Egon in seinem speckigen Schlafsack so etwas wie Haltung an, denn eine Frau, die mit Syphilis und Tripper umzugehen wusste, nötigte ihm Respekt ab.
Die Walküren sattelten ihre Pferde und bei uns kehrte endlich wieder Ruhe ein. Die Neonröhren der Tunnelbeleuchtung lagen diebstahlsicher hinter Glasbausteinen eingesargt; einer dieser Steine war zu einem gezackten Muster zersprungen, das die ruhige Kälte des Lichtes zu geometrischen Objekten zerfaserte, die über uns wie Spinnenfinger die Decke entlang liefen.
Ich nahm einen Schluck Underberg (Schluck ist übertrieben für die wenigen Tropfen in der winzigen Pulle) als Egon sagte: auch das noch! Auch das noch: die Parkhaustür wurde erneut aufgewuchtet und ein großes Gemälde erschien. Man sah tatsächlich nur die bemalte Leinwand, hinter der ihr Träger komplett verborgen blieb. Er trug das Bild an den kreuzförmigen Holzlatten, die den bemalten Stoff von hinten straffte, und er bestand für uns nur aus zwei bejeansten Beinen, die unten herausguckten. Seine Schuhe, Adidas Jahrgang anno Herberger, ließen als Protest gegen den eigenartig schlurfenden Gang ihres Besitzers ein ärmliches Quietschen verlauten.
Wir sahen ihn von hinten, als er sich durch die eiserne Tür zur Oper zwängte, ein stämmiger Mensch mit kurzgeschorenem Haar, kariertes Hemd, keine besonderen künstlerischen Auffälligkeiten.
Dieser Mensch lief nun an die zehnmal an uns vorbei und lieferte jeweils ein Großformat, dick bemalt mit Ölfarbe, vom Parkhaus in die Oper. Wir erlebten also im Vorbeitragen das Oeuvre eines Kunstmalers, der offensichtlich auf der Wanderschaft war. Viele kraftvolle, abstrakte Motive, aber auch einige figürliche Arbeiten, darunter die gebückte Gestalt eines alten Mannes mit bleichem Schädel und weidwunder Ausstrahlung.
Biste nu langsam maa fertsch ? fragte Tirol-Rudi, als der Leinwandträger zum xten-mal an uns vorbeizelebrierte. Immerhin bewirkte diese bescheidene Anfrage, dass er beim nächsten Transport vor uns anhielt, sein riesiges Ölgemälde an die Wand lehnte und beiläufig bemerkte: Ich kann vierzig Bilder ausstellen – im Foyer, tolle Chance. Er sprach zu uns, als seien wir alte Bekannte und nicht irgendwelcher Müll, über den man in hohem Bogen hinwegspucken musste. Dann lehnte er sich neben dem Bild an die Wand und zog aus seiner Hosentasche eine Sorte Zeitungspapier, das er zu einer Rolle formte, in die er aus einem blau-weißem Paket krümeliges Zeug, vielleicht Tabak oder Kiff, schüttete. Das Endprodukt ähnelte mehr einer Tüte als einer Zigarette. Mit seinem Sturmfeuerzeug entzündet, roch diese Ladung wie eine Mischung aus Honig und Schwarzpulver.
Während er den ersten Zug nahm, dreht er mit der freien linken Hand sein Bild herum, sodass wir das Motiv betrachten konnten. Dr. Mabuse hob den Kopf etwas aus seinem Schlafsack und murmelte: Sieht aus wie ein Bauernbrot. Das ist der Mond über Gevelsberg, erklärte der Künstler. Sieht aber aus wie ein Bauernbrot, beharrte Dr. Mabuse.
Niagara hatte sich nun auch halb hochgewürgt und schaute mit glasigen Augen auf das Bild, vor dem einige Schwaden aus des Künstlers Rauchtüte vorbeistrichen. Gefällt mir, sagte Niagara, und der Künstler lachte kurz und trocken. Dann warf er seine Puste weg, nahm sein Bild und verschwand damit wie gehabt hinter der eisernen Opernpforte.
So ein Maler ist doch ein armer Hund, murmelte Egon. Schmeißt seine ganze Seele auf die Leinwand und bei der Vernissage stehen die nur davor und fressen Brötchen. Egon überfielen hin und wieder Ausbrüche von Intelligenz. Da ich in meiner Werbezeit viele Vernissagen mitgelitten hatte, musste ich ihm zustimmen.
Wir sanken wieder in Schlafstellung und hörten gar nicht, wie der Künstler auf nunmehr quietschfreien Sohlen zurück ins Parkhaus schlich. Erst als die Tür klappte, sahen wir ihn zu unserem Erstaunen quasi aus der falschen Richtung wieder auftauchen. Und nun war auch klar, warum er so lautlos vorbeikommen konnte: er ging barfuß, trotz der Kälte. Diesmal trug er ein wildes Motiv mit vielen Bäumen in der einen Hand, in der anderen einen braunen, länglichen Kasten. Er setzte die Leinwand wieder vor uns ab, öffnete seinen Kasten, entnahm ihm mehrere Tuben und begann, vor unseren Augen sein Werk mit dicken Tupfern aus Ölfarbe zu ergänzen.
Er griff sich Tuben mit Zinnoberrot, Ocker und Zitronengelb und ging ernsthaft daran, brennende Kerzen auf die verschiedenen Bäume zu tupfen, …im Schwarzwald …mit meiner russischen Freundin, sagte er dazu unbestimmt, womit er wohl das Motiv erklären wollte.
Wie ein groschengieriger Straßenkünstler malte er im Eiltempo mehr als hundert Kerzen in Rot mit gelb züngelnder Flamme und einer hellen Strahlenaura um jedes Licht. Dann hockte er sich auf den kalten Betonboden und drehte sich wieder eine seiner Wundertüten aus Kiff und Zeitungspapier, die bald zu dampfen begann. Er nahm einen Zug und verschwand. Er verschwand vor unseren Augen. Löste sich in Luft auf. Was nicht viel bedeuten wollte, denn Hirngespinste hatten wir häufiger.
Sein Gewusel vor der Leinwand hatte uns alle sechs aber ziemlich genervt und, soweit das der Alkoholspiegel erlaubte, auch geweckt. Während wir nun unbehaglich neue Positionen unter unseren lumpigen Decken und Schlafsäcken einnahmen, eine schmerzliche Sache bei so viel Rheuma und Geschwüren, entwickelte sich das zurück-gelassene Gemälde zu einem Wunderding. Ich bemerkte es nur indirekt, weil ich gar nicht hinguckte, sondern auf Egons Gesicht plötzlich den Widerschein eines warmen Leuchtens blühen sah. Seine Augen nahmen einen so verblüfften Ausdruck an, als sei ihm das Christkind persönlich erschienen. Und so ähnlich war es auch.
Die eben erst gemalten Kerzen begannen zu flackern und zu brennen: ein ganzer Wald von Weihnachtskerzen entzündete sich hier unten in unserem Tunnel. Die Flammen wiegten sich im Rhythmus des Luftstromes, der immer mal wieder vom Parkhaus her vorbeistrich. Und es waren echte Flammen. Wärme strömte von ihnen aus. Wir konsumierten alle ziemlich aufgescheucht diese weihnachtliche Festbeleuchtung, die uns der barfüßige Malerfreund hervorgezaubert hatte.
Nu gibtsn das! staunte Tirol-Rudi. Selbst der alte Niagara hob wieder den Kopf und starrte auf den Feuerzauber. Mühsam hielt er sich fast eine Minute lang aufrecht, dann sank er wieder zurück und murmelte so etwas wie Schön! Karl Museum fühlte sich an seine Kindheit erinnert und quarkte lang und breit, dass er einmal zu Weihnachten ein Filmvorführgerät bekommen hatte, das aber nie funktionierte. Wir nahmen reihum einen Schluck aus der Aldiflasche und hatten das Gefühl, allerbesten Grog zu trinken, so warmherzig war unser unterirdischer Dom mit den leuchtenden Kerzen. Ich glaube, wir waren alle glücklich.
Die Kerzen schmolzen ganz langsam herunter. Uns blieb viel Zeit zum Dösen. Erst nach Stunden verlöschte die Pracht. Als die ersten Besucher aus der Oper ins Parkhaus zurückströmten, waren alle Kerzen abgebrannt und das Bild wie ein Schnapprollo zusammengeschnurrt. Keiner von uns hatte bemerkt, dass Niagara gestorben war.

© 2000 by Horst Brendel. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Bei meiner folgenden Beurteilung gehe ich davon aus, dass die beiden ersten Absätze gestrichen sind, wie ich empfehle – sonst stimmt einiges nicht!
Ich liebe es, wenn ich mir meine eigenen Vorstellungen machen darf, und ich schätze es, wenn ein Erzähler tatsächlich etwas zu erzählen hat. Dieser lässt sich Zeit, bis er zum »Eigentlichen« kommt, das das Eigentliche nicht wäre, würde der Icherzähler nicht immer wieder unterbrechen, indem er sich erinnert, z.B. an den Walkürenritt (wie kann ein Penner Opernerfahrung haben?!), oder Situationen und Personen lebendig und reduziert vorstellt. Die Sprache ist distanziert-ironisch, humorvoll, präzis (Kann der Icherzähler wirklich ein Penner sein?) – und der Icherzähler verteilt immer wieder beiläufig-genussvoll sein Fett (Aha: der Icherzähler ist ehemaliger Werbefachmann! Das erklärt die Sprachfähigkeit – aber warum hat der Icherzähler seinen Job verlassen?)
Großartig ist auch der Schluss: Ist es eines dieser Hirngespinste, was der Icherzähler am Ende erlebt, aufgewacht aus der Schlafstellung? Ein Wunder geschieht, so selbstverständlich wie das Klappen der Stahltür. Da wird nicht darauf rumgeritten, nichts hineingeheimnist, es wird hingenommen: »Ich glaube, wir waren alle glücklich«. Selbst diese schmucklose Feststellung bleibt auf der Ebene der Vermutung. Sicher ist, dass Niagara tot ist. Mehr wird nicht dazu gesagt: dem Autor sei Dank!

»Feuerzauber« ist eine großartige Kurzgeschichte, die im Verein mit ihresgleichen ein tolles Buch abgeben würde. Ich gestehe gerne ein, dass sie mich richtiggehend fortgerissen hat und ich immer wieder laut lachen musste (Ehefrau und Söhne: He, was liest du denn da?!), am Ende aber völlig verblüfft war. Hoch geschätzter Horst Brendel: Mehr davon!

Die Kritik im Einzelnen

Ich halte die ersten beiden Absätze für verzichtbar: Dass der Icherzähler in der Werbebranche tätig war, erfährt der Leser ziemlich am Ende direkt (sofern er nicht schon an der sprachlichen Gestaltung gemerkt hat, dass der Icherzähler sein Handwerk beherrscht); dass es sich (beinahe?) um eine Weihnachtsgeschichte handelt, ist dem Datum zu entnehmen und den letzten Absätzen. Der Leser muss nicht vorbereitet werden, er wird in der ersten Hälfte dieser Erzählung auch sonst immer wieder aus dem chronologischen Ablauf geholt. Nochmals: Ich würde die ersten beiden Absätze streichen zurück
Da die feuerfeste Stahltür zuvor im Präsens klappt, sollten die Herren sich an dieser Stelle stemmen – also im Präsens -, denn sie verursachen das Klappen. zurück
Ein Verständnis wird in den folgenden Sätzen viel anschaulicher und treffsicherer ausgedrückt – da kann der Hinweis verständlich entfallen. zurück
In diesem Teilsätzchen verbergen sich drei Tücken. Zunächst bereitet mir dieses sich Probleme: ist gemeint, dass niemand sich traut, den Pennern zu sagen, dass er sie für Schweine hält? Oder das niemand wagt (ohne sich), den Pennern zu sagen (.)? Oder gar, dass niemand sich offiziell einzugestehen wagt, dass er die Penner für Schweine hält?
Zum Zweiten: Was will offiziell sagen? Bedeutet es so viel wie öffentlich und bezieht sich auf die Penner selbst, wie ich oben der Einfachheit halber einmal angenommen habe? Oder bedeutet es: alle stören sich an den Pennern, aber niemand zeigt die Penner offiziell bei der Polizei an, sondern beschwert sich nur informell, sodass die »Grünspechte« ohne konkrete Handhabe ein bisschen Psychoterror praktizieren müssen im Sinne der öffentlichen Unordnung?
Zur letzten Tücke ein Beispiel: »Jedermann möchte gerne, aber traut sich nicht«. Das ist ein unsinniger und hässlicher Satz, denn ein verneintes jedermann wird zu einem niemand bzw. keiner: »Jedermann möchte gerne, aber keiner traut sich« ist klar und verständlich; in diesem logischen Dilemma steht auch dieses Teilsätzchen: »Jedermann hält es für eine Schweinerei, wagt es sich aber nicht offiziell zu sagen« – da gehörte ein niemand oder keiner rein. Ergo: Der ganze Satz muss überarbeitet werden! zurück
Die Penner im Untergrund riecht nach Bedrohung, nach Untergraben, nach Die-Gesellschaft-in-ihren-Grundlagen-erschüttern, nach RAF: das ist mir zu viel! Mir reichte aus: Das wäre ja noch schöner: eine Mitleidshymne auf diese Penner! zurück
Schwalben und Schwule: feine Alliteration! Doch muss ich gestehen: ich weiß nicht, was Schwalben sind! Will sagen: Selbstverständlich weiß ich, was Schwalben sind, aber diese Vögel sind an dieser Stelle bestimmt nicht gemeint! Sind das Prostituierte (wegen der im nächsten Absatz erwähnten Geschlechtskrankheiten)?
Das ist keine Kritik an Sprache oder Satzbau oder am Erzähler! Es gehört eigentlich auch überhaupt nicht in die Rubrik Detailkritik – aber wo soll ich eigene Defizite sonst eingestehen? zurück
Die Neonröhren verbreiten ihr Licht, sind also funktionsfähig, Eingesargte sind – bis auf vernachlässigbare Ausnahmen – absolut funktionsuntüchtig; sicher vor Diebstahl sind Eingesargte ebenfalls. Hier wird also einerseits gedoppelt und andererseits Widerspruch erzeugt, wenn leuchtende Neonröhren eingesargt sind. Hinweg mit eingesargt! zurück
Diese lyrische Darstellung von Lichtphänomenen an der Decke bereitet mir Kopfschmerzen! Da sind zunächst die geometrischen Objekte: in meinem Kopf tauchten sofort Bilder von Pyramiden, Zylindern, Kugeln und dergleichen auf, also lauter Körper (das kann einzig und allein mein persönliches Assoziations-Problem sein: davor ist niemand gefeit); das verhindert ein Verständnis des Folgenden, denn Schatten sind nicht dreidimensional.
Dann versuche ich nachzuvollziehen, wie ein Muster zu geometrischen Objekten zerfasert: zerfasern impliziert eine Unordnung, die in absolutem Kontrast steht zu geometrisch, was – wegen Zirkel und Lineal – an Regelmäßigkeit und Ordnung denken lässt. Ich kann mir allenfalls vorstellen, dass Licht dieses gezackte Muster so verzerrt auf die Decke projiziert, dass ein Zusammenhang nicht mehr wahrgenommen wird.
Schließlich: laufen die geometrischen Objekte wie Spinnenfinger über die Decke, oder sind es nicht eher die Fasern, die in dem Verb zerfasern stecken? Ich komme mit den Bildern, die dieser Satz in mir hervorruft, nicht klar: deswegen erscheint mir die Sprache in diesem Satz zu gewollt.
(Nachtrag: Ich habe meinen Sohn gefragt, was ihm zu geometrischem Objekt einfällt: er nannte spontan Kreis und auf Nachfragen weitere zweidimensionale Objekte! Was bleibt, ist der Widerspruch zum Zerfasern, denn es waren ausschließlich Vorstellungen von regelmäßigen Objekten).
(Noch ein Nachtrag, 80 Minuten später: Habe meinen zweiten Sohn gefragt: der nannte spontan Kugel und Quader – ganz wie sein Vater! Brav! Beweist aber nix, sondern zeigt nur, wie unterschiedlich Begriffe verwendet und verstanden werden können: soviel zu denen, die immer noch und immer wieder verlangen, eine Kritik müsse objektiv sein…) zurück
Was zog er aus seiner Tasche? War das etwas, das einem Zeitungspapier ähnelte? War es ein Stück Zeitungspapier? War es eine ganz bestimmte Sorte von Zeitungspapier, und wenn ja: die von der Hamburger Morgenpost oder Bild oder der Zeit? Ich kenne mich nicht aus mit Sorten von Zeitungspapier, weiß nicht einmal, ob die genannten Zeitungen sich unterscheiden hinsichtlich ihrer Papiersorte: aber viele Leser kennen wohl mehrere Zeitungen und könnten sich bei der Nennung einer Zeitung an das Papier haptisch genauer erinnern als mit dem technischen Begriff Sorte. zurück
Die Partizipialkonstruktion zu Beginn des Satzes behauptet, dass diese Ladung nur deswegen so riecht, wie sie riecht, weil sie mit dem Sturmfeuerzeug entzündet wurde. Ich glaube nicht, dass das wenige verbrannte Benzin einen so entscheidenden Einfluss auf den Geruch hat, dass das Sturmfeuerzeug diese herausragende Position – in einer Partizipialkonstruktion am Satzanfang – verdient: ist mein Unglaube der richtige (und welcher wäre das nicht), genügte ein einfaches entzündet; andernfalls lasse ich mich gerne bekehren und schwöre meinem Unglauben ab. zurück

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