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Textkritik: Ecce homo – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

Ecce homo

von Michael Lobisch-Delija
Textart: Lyrik
Bewertung: von 5 Brillen

***

Unsere Tage werden schamloser
Nacht zu Nacht
sie tarnen unseren Blutrausch
als Abendröte
waschen sich im unendlichen Blau
der Meere rein
aus denen sie aufsteigen
in der Frühe
ohne die Schamröte
ihres Morgens zu verbergen

Das Kainsmal des Menschen
ist hoffähig geworden
unter den Augen dessen
der vorgibt bei ihm zu sein
bis an der Welt Ende

Das werden wir müheloser erreichen
wenn die Aufgabe des Menschen
vollbracht ist. Das babylonische Werk
für das jede Generation
ihren eigenen Anlauf nimmt:

Seit der Steinzeit
bis hin zur WEBzeit
die uns fortan
global auf dem Laufenden hält —
damit wir Anstoß nehmen können
an allem, was wir so
nie gewollt haben

während unsere Kinder
in ihren Chatrooms verblöden
und der Mob sich verabredet
am Ballermann 6
oder anderswo, wie im Osten
wo neuerdings
die braune Sonne aufgeht

Aber noch ist der Mond nicht besudelt:
In den Fluten des Meeres
in reinerem Licht
badet der Tag Nacht für Nacht
sein Antlitz in Unschuld
weit weg von den Todesstreifen
die sich alles Lebendigen entledigt haben

© 2000 by Michael Lobisch-Delija. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Was bleibt von dem Gedicht außer dem unerklärlichen Titel? Was schrecklich Schreckliches geht vor in unserer Welt, sodass der Morgen sich schon schämt, bevor der Tag begonnen hat, der seinerseits das Elend und Blutvergießen in der Welt gnädig verdeckt und sich nächtens von den üblen Erinnerungen reinwäscht. Gott schaut ungerührt zu, wie er es versprochen hat. Mit anderen Worten: es wird auf unserer Welt immer unerträglicher, es wird nachgerade untragbar – das Ende der Welt ist da: da ham wir den Salat!
Kennen wir, wissen wir: warum so viel Aufhebens? WWW, chatrooms, Ballermann 6, Nazis … dieser hochbrisanten Weltuntergangs-Mischung aus dem Gedicht hätte ich noch einiges hinzufügen, z.B. Tamagotchis (Gibt’s die eigentlich noch? Da sieht man mal, wie schnell diese prophezeiten Endzeit-Katastrophen im Sande verlaufen – nix is mit den herzlosen Kindern!), Ego-Shooter, Gummibärchen, Techno, Elektrosmog, XTC, Windows 95 ff, Kinderporno, krumme Erdstrahlen, gerade Erdstrahlen, Ozonlöcher, indizierte Computerspiele, Schulen, Bravo-Hits Folge 34, Kohl, Kampfhunde, Stefan Raab, Moorhuhnschlachten, Russenmafia, Teletubbis, Computerviren, Blümchen, Bild-Zeitung, maltes meinung, Auffahrunfälle, Händis, Frühstück, Staus auf der Autobahn, ………………………………….. (gemäß eigener Katastrophenvorlieben auszufüllen) – und natürlich das Oberallerletzte, der ultimative Verdummbrunnen: Big Brother. BIG BROTHER!!! Jetzt muss die Welt doch endlich untergehen! Die Zeugen Jehovas werden wie gewohnt den genauen Tag berechnen. Allerspätestens wenn Sladdi The Brain Bundeskanzler wird, begeht Deutschland kollektiven Selbstmord zum Zwecke der Endlösung. Dafür bleibt der Mond. Ätschebätsche, das haben wir davon. Hätten wir bloß rechtzeitig aufgepasst!
Man kann eine Meinung vertreten. Man kann eine andere haben. Man kann sogar jemanden überzeugen. Keiner Meinung tut es gut, wenn sie möglichst dramatisch in irgendwelche halbdurchdachten Bilder gepfercht wird, wo sie sich nicht mehr entfalten kann, sondern jämmerlich erstickt. Trotz brauner Sonne im Osten ist Ecce homo kein politisches Gedicht, denn es fehlen Einsichten und Denkanstöße; es ist eine Moralpredigt in untauglichem Gewand, diesem inhaltlich und sprachlich überstrapazierten Gedicht, zweifellos sehr gut gemeint und sehr sehr überflüssig.

Postscriptum: Was ist eigentlich so schlimm daran, wenn die Menschheit verschwindet? Die Welt geht deswegen nicht unter, die denkt nicht daran! Da es uns dann nicht mehr gibt, würde niemandem etwas fehlen, wenn es uns nicht mehr gibt.
Zum Abschied gibt es gratis, da frei von copyright, mein Lieblings-Weltuntergangs-Gedicht, bereits über 80 Jahre alt; es hatte inhaltlich so wenig Recht wie das besprochene, ist dafür aber unglaublich exorbitant fabelhaft genial meisterlich (schwelg, schwelg & abermals schwelg)! Ich wünsche allen Lesern, ob sie es nun kennen oder nicht, viel Vergnügen!

Weltende
Jakob van Hoddis

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Die Kritik im Einzelnen

Ecce homo bedeutet gemäß der Bibel-Einheitsübersetzung »Seht, da ist der Mensch«; Pilatus sagte das (laut Johannes 15,5 – aber der war nicht dabei gewesen) über Jesus, der zuvor von Soldaten mit Purpurmantel und Dornenkrone angetan und als »König der Juden« verspottet worden war, zu den anwesenden Juden, die Jesus kreuzigen wollten, weil er sich als Gottes Sohn ausgegeben habe.
Soweit die biblische Tradition dieses »ecce homo«; welcher Gott nun in dem Gedicht vom Sockel geholt und verspottet wird, werden wir sehen. zurück
Die ersten beiden Zeilen bieten gleich einen Kontrast: Tag und Nacht. Unsere Tage beziehen alle Menschen und damit den Leser ein. Zusätzlich wird festgestellt, dass unsere Tage schamloser werden, und zwar ist diese Steigerung nachts festzustellen. In welcher Beziehung unsere Tage schamloser werden, ist noch nicht gesagt. Soweit, so gut. zurück
Was tun unsere Tage? Sie tarnen unseren Blutrausch. Ist das schamlos, wenn – wer auch immer – einen Blutrausch tarnt? Schäm dich, du hast einen Blutrausch getarnt? Das leuchtet mir nicht ein. Und dass ich in einem Blutrausch leben soll, bestreite ich energisch. Ab sofort komme ich in diesem Gedicht nicht mehr vor! Ich bezweifle auch entschieden, dass die Menschheit in einem Blutrausch lebt. Sollte hier Bezug sein zu vereinzelten Amokläufern und diese wiederum hochgerechnet auf die Menschheit? Und inwiefern werden unsere Tage schamloser? Werden die Tarnungen Nacht für Nacht vervollkommnet?
Getarnt wird der Blutrausch als Abendröte; Blut ist rot und Abendröte ist rot; ginge es um die beiden, fiele eine Tarnung nicht schwer (wobei zu fragen wäre, wieso und vor wem unsere Tage unseren Blutrausch tarnen sollten, wir sind schließlich unter uns – abgesehen von mir, der ich da nicht mitrausche; allerdings habe ich mich gerade erst geoutet); es geht aber nicht um Blut, sondern um Blutrausch. Angenommen, unsere Tage seien nicht schamlos, sondern schamhaft und gnadenlos ehrlich, dann müssten sie allabendlich unseren Blutrausch zeigen. Da wäre aber nicht viel zu sehen, denn ein Blutrausch sieht nicht aus; deshalb müsste auch nichts getarnt werden. Allenfalls die Folgen eines Blutrausches müssten vielleicht getarnt werden, Blutrausch selber ist ziemlich unsichtbar. zurück
Ist das eine zweite Begründung für das Schamloserwerden: dass die Tage sich reinwaschen? Heißt das, sie waschen sich nachts wieder rein, damit sie tagsüber umso schamloser die Folgen des anhaltenden Blutrausches tarnen können? Nochmal: wird der Blutrausch immer stärker oder die Tarnung immer besser? Spielen die Tage »Pilatus«, waschen gewissermaßen des Nachts ihre Hände in Unschuld, während sie den Juden tagsüber freie Hand lassen zur Befriedigung ihres Blutrausches, was die Pilatustage dann abends überflüssigerweise mit einem Purpurmantel (der ist auch beinahe rot, jedenfalls erheblich röter als ein unsichtbarer Blutrausch!) tarnen, immer besser und immer mehr und immer schamloser? Fragen über Fragen auf der Suche nach irgendeinem Sinn.
Sollte tatsächlich diese Analogie gemeint, sollte tatsächlich diese Bibelstelle allegorisch verklausuliert worden sein, dann ist das heftig daneben gegangen. Schließlich findet die entsprechende Episode in der Bibel genau einmal statt, zudem fehlten Jesus samt Dornenkrone und Soldaten und Pilatus’ Zweifel und und und: lässt sich alles im Johannesevangelium nachlesen. Sollte diese Analogie jedoch nicht gemeint sein, dann weiß ich weder aus noch ein (ich schwöre Stein und Bein: das sollte jetzt kein Reim sein!). Aber vielleicht kommt’s noch, noch sind wir ganz am Anfang!
Wie sich die Tage nachts im »unendlichen Blau des Meeres« reinwaschen sollen, kann ich nicht nachvollziehen. Da die Tage personifiziert wurden, können sie sich im Meer waschen; das bliebe alles in der korrekten Bildebene. Doch blau sind Meere ausschließlich tagsüber bei entsprechendem Himmel; es geht nicht darum, ein lyrisches Bild auf optische Phänomene zu reduzieren: doch nachts sind die Meere nie blau, aber nachts waschen sich die Tage in ihnen rein, bevor sie erneut aufsteigen – so habe ich es jedenfalls verstanden. Der Grund für dies schiefe Bild liegt wohl ganz woanders: Blau und Meer und als Sahnehäubchen ein Löffelchen Unendlichkeit – kitscht das nicht ganz arg doll schön, dieses unendliche Blau des Meeres? Geht da nicht das Innerste des Herzens der Seele auf, der Inbegriff allerunschuldigsten Da-Seins, Blutrausch hin, Blutrausch her? Ja, jaa! Jaaaaaah!! zurück
Die Tage werden immer schamloser, tarnen Blutrausch als Abendröte, waschen sich im Meer rein und besitzen alle zusammen einen Morgen, der an Schamröte leidet: er schämt sich stellvertretend für die immer schamloser werdenden Tage. Da das unsere Tage sind, müsste es ja auch unser Morgen sein: schämt sich also unser Morgen für uns? Dazu hat er keinen Grund – wir tun doch gar nichts! Wir (außer mir) genießen unseren Blutrausch offen und ehrlich, verheimlichen nichts, können schließlich nichts dafür, wenn unsere Tage diesen mir nichts dir nichts einfach tarnen! Deren Problem! Wir sind schließlich keine Unmenschen und haben die Tage schon immer machen lassen, was sie wollen.
Aber da unser Blutrausch getarnt ist, kann der Morgen gar nichts davon wissen. Hallo, was geht hier eigentlich ab? Wieso also leidet unser Morgen an Schamröte? Keine Antwort? Sei’s drum! Das ganze Wortgeklingel hatte wohl nur den Zweck, der Morgenröte ein Gefühl zu verpassen, das die Menschen (außer mir) wegen ihres Blutrausches nicht mehr kennen. Immerhin: Das Morgenrot hat jetzt auch eine Ursache, nämlich Schamröte (die ihrerseits keine hat), während das Abendrot die Tarnung für das tägliche Blutbad ist. Verantwortlich für beides sind unsere Tage, die sich im Schutz der Nächte heimlich reinwaschen. Bedauerlicherweise hat das wer beobachtet und aufgeschrieben.
Die erste Strophe will zu viel auf einmal und verheddert sich in rettungslos in ihren allzu überladenen und schrägen Bildern: der Rufer in der Wüste trägt zu dick auf; seine Warnung (?) geht im dramatischen Wortgewitter unter. Was bleibt, ist ein dumpfes Gefühl von irgendwas wie Weltuntergangsstimmung.
Zumindest der Form der ersten Strophe kann ich etwas abgewinnen: in den ersten 7 Zeilen liegen zwischen den längeren drei kürzere eingebettet: das unterstützt einen Kreislauf, der inhaltlich irgendwie angestrebt wurde; die folgenden Zeilen nehmen in ihrer Länge zu, was auch optisch die zunehmende Helligkeit des Morgens veranschaulicht. Hier macht die freie Form Sinn! zurück
Es gibt kein Kainsmal des Menschen; das trugen nur die Abkommen von Kain, nicht aber die von Set, dem nachgeborenen Abelersatz, von dem wiederum Noah abstammt, dessen Familie als einzige die Sintflut überlebt hat: Alle Kainsmalträger sind schon vor Urzeiten ertränkt worden, da sie anno dunnemals hoffähig zu werden drohten.
Auch dieses Bild wird überstrapaziert. Vielleicht ist Kainsmal jedoch rein symbolisch gemeint (das war es schon in der Bibel), und als symbolisch Blutberauschte tragen wir es symbolisch alle (außer mir) ganz frech und schamlos, was der liebe Gott akzeptiert (hoffähig geworden) und ihm vorgeworfen wird: nämlich dass er zuschaut; weiterhin wird diesem Gott vorgeworfen, dass er den Menschen quasi angelogen hat (vorgibt), als er versprochen hatte, bei ihm zu sein bis ans Ende der Welt. Diesen Vorwurf verstehe ich nicht: Gott schaut zu, alles passiert expressis verbis laut Gedicht vor seinen Augen, also ist er doch da! Er hat nie versprochen, erneut einzugreifen, es sei denn am Tage des Jüngsten Gerichts!  Er hat allerdings auch nie versprochen, beim Kainsmal zu sein (worauf sich ihm grammatisch bezieht) bis ans Ende der Welt: er hatte wie gesagt alle Träger desselben standrechtlich ersäuft.
Ist das jetzt die Schlüsselstrophe? Bezieht sich das »ecce homo« auf diesen Gott? Ist er es, der vom Sockel geholt und zum Menschen erklärt wird, weil er bloß zuschaut wie Gaffer bei einem Autounfall? Kann nicht sein, geht nicht, passt nicht: wir Menschen (außer mir) befinden uns laut erster Strophe in einem gediegenen Blutrausch, da ist nichts mit gaffen, da müsste dieser Gott schon mitmischen, wollte man ihn zu einem von uns machen. Würde sich die Überschrift auf diesen Gott beziehen, müsste sie »ecce deus« heißen: »Seht, da ist der Gott« – der mordet nicht, der schaut friedliebend zu. zurück
Irgendwie, ich weiß nicht, da stimmt doch. also noch einmal von vorne: wir Menschen werden das Ende der Welt müheloser erreichen, wenn wir eine bestimmte Aufgabe vollbracht haben werden. Richtig? Richtig!  Was aber ist die Aufgabe? Und warum sollten wir diese Aufgabe erledigen, deren einziger Sinn darin besteht, anschließend leichter den Weltuntergang zu erreichen, denn das Vollbringen der Aufgabe bedeutet ja nicht das Ende der Welt – oder etwa doch? Sind hier wieder einmal die Metaphern in gefährliche Schieflage geraten und drohen jetzt abzustürzen? Vielleicht sehen wir klarer, wenn wir wissen, was die zu vollbringende Aufgabe ist, die zu bewältigen wir uns auferlegt haben (oder uns auferlegt wurde – wer weiß das schon so genau; das Gedicht gibt keinerlei Hinweis (muss es auch nicht!))
Unsere Aufgabe ist das »babylonische Werk, für das jede Generation ihren eigenen Anlauf nimmt«. Das ist aber fein, das lässt hoffen: auf diese Weise kommen wir Menschen nämlich keinen Schritt voran, wenn jede Generation einen eigenen Anlauf nimmt. So kann dieses Werk nie vollendet werden, dadurch rückt das Ende der Welt in weite Ferne, denn unter diesen Umständen müssten wir uns mühevoll um selbiges bemühen – und mal ganz im Vertrauen und unter uns: wer bemüht sich schon gerne? Eben! Und dann noch wegen so was: nee, der Kittel ist geflickt, Weltende is nich! Gedicht umsonst geschrieben. Tja, so kann’s gehen.
Allerdings sind wir ja alle (außer mir) im Blutrausch gefangen: könnte es nicht sein, dass man in einer solchen Verfassung keinen eigenen Anlauf mehr nimmt, sondern genau da weiter macht, wo die vorherige Generation das Vollenden des babylonischen Werks eingestellt hat? Kann ich nichts zu sagen, kenne mich mit Bluträuschen nicht aus!
Zum Verständnis dieser Strophe muss aber noch geklärt werden, was es mit dem babylonischen Werk auf sich hat, auf das hier wortwörtlich verwiesen wird: woran haben die Babylonier gebaut, was wollten sie? Es war ein Turm, der bis in den Himmel reichen sollte: sie wollten zu Gott. Das hat diesen genervt, deswegen hat er schnell verschiedene Sprachen erfunden und in die Bauarbeiter getan, sodass diese sich nicht mehr verständigen und folglich nicht mehr weiter bauen konnten. Seitdem steht die Ruine verlassen. Das Gedicht lässt diese Arbeit wieder aufleben; auch das ist sicherlich symbolisch gemeint: diese Arbeit wird jedoch so, wie das Gedicht sie beschreibt, nicht beendet werden können; schließlich nützen keine Dolmetscher was, wenn jede Generation neu beginnt. Außerdem stelle ich mir das lustig vor, wenn der liebe Gott, sollte der Turm (symbolisch) tatsächlich bis zu ihm wachsen dank der ungeheuren Anstrengung einer fiktiven, aber durchaus denkbaren besonders emsigen Generation, wenn also der liebe Gott besagten Turm lächelnd mit dem kleinen Finger (sofern er einen hat – weiß man’s?) symbolisch anstupst, sodass er (der Turm) schrill kreisch-knirschend zu Boden brettert: das wird gewaltig stauben (symbolisch)!  Aber diese schaffige Generation ist nicht in Sicht; also werden wir den Weltuntergang nie mühelos erreichen, und ich bestehe auf dem oben gesagten: Weltende is nich! Gedicht umsonst geschrieben, denn es liefert genügend Beweise gegen sich selbst.
Auch in dieser Strophe gerät die gewünschte Aussage durch unpassende Bilder, unglückliche biblische Anspielungen und unsaubere Formulierungen in eine ganz andere Richtung. zurück
»Seit der Steinzeit bis zur WEBzeit« involviert, dass WEBzeit das Ende der denkbaren Zeitenfolge darstellt, das erwartete Weltende. Wer das web so wichtig nimmt, ist selbst schuld! Das web ist nichts anderes als eine schrecklich unübersichtliche Bibliothek. An so etwas geht keine Welt zu Grunde, nicht mal die Menschen.
Die folgende Formulierung finde ich überaus gelungen (einzige Einschränkung: es ist nicht die WEBzeit, die uns auf dem Laufenden hält: es ist allenfalls das web!): das web, »das uns fortan global auf dem Laufenden hält – damit wir Anstoß nehmen können an allem, was wir so nie gewollt haben« – das ist bissig und flüssig und verständlich formuliert und schön widersprüchlich wegen Das-Netz-Wollen und manchen Folgen der herrlich anarchischen Freiheit in ihm, an denen man durchaus Anstoß nehmen kann und soll. In dieser Souveränität, in diesem Stil hätte ich mir das ganze Gedicht gewünscht, leider bleibt diese Formulierung eine isolierte Perle; das ist ein Jammer: es geht doch! zurück
Die Pauschalisierungen in dieser Strophe finde ich so oberpeinlich, dass ich lieber nichts dazu sage! Wenn das die entscheidenden äußeren Kennzeichen des nahen Weltendes sein sollen. (siehe auch die zusammenfassende Beurteilung) zurück
Einspruch: Der Mond ist sehr wohl besudelt! Da liegt bereits allerlei Müll, sogar eine amerikanische Fahne flattert(e) dort motorgetrieben angeberisch im nicht vorhandenen Wind! Ein gnädiger Meteor möge dem ein Ende setzen!
»In den Fluten des Meeres«: es freut, dass es nicht mehr das unendliche Blau sein muss. Warum nicht von Anfang an so unprätentiös? Es ginge sogar noch unprätentiöser: »im Meer badet der Tag Nacht für Nacht«. Fehlt was? Iwo.
Och nöö: nicht schon wieder: »In reinerem Licht badet der Tag Nacht für Nacht (.)«! Also nochmals: nachts ist es nicht blau, und es auch nicht hell. Nachts ist es verdammt noch mal dunkel!!!
Was ist eigentlich aus »unseren Tagen geworden« – heißt so in der ersten Strophe? Vergessen? Die sind vermutlich so lange immer schamloser geworden, bis sie geplatzt sind, schließlich hat (fast) jede Steigerung irgendwann einen Endpunkt. Übrig blieb dann der Tag, der sich auch nicht mehr rein waschen muss, sondern getrost baden kann im reinen Nachtlicht – was immer das auch sein soll…
Korrektur: der badet nicht sich, sondern sein Antlitz (ist also doch keine Anspielung auf Pilatus’ Hand-Wäscherei, wie bei der ersten Strophe vermutet). Und dieses Antlitz badet er auch nicht »in reinerem Licht«, wie versehentlich behauptet wurde, sondern in Unschuld, also ebenda, wo auch Pilatus seine Hände drin hatte (ist also doch eine Anspielung auf Pilatus’ Hand-Wäscherei, wie bei der ersten Strophe vermutet). Ist reineres Licht vielleicht gleich zu setzen mit Unschuld? Was wäre dann ganz reines Licht? Wieder kollabieren sprachliche Bilder; man ist es allmählich gewohnt, und gewöhnt sich doch nie daran!
Selbst die Todesstreifen bekommen noch ihr Fett weg: ein ganz normaler Todesstreifen hat die Aufgabe, Leben zu vernichten. Kein Leben kann auf dem Todesstreifen existieren. Wie kann dann ein Todesstreifen sich alles Lebendigen entledigen??? Das setzt die Existenz von Lebendigem auf einem Todesstreifen voraus, den persönlichen Besitz an Leben sozusagen, den der Todesstreifen hat und dessen er sich jetzt entledigt! Ein besonderer Ausdruck (sich entledigen) wurde gewählt, und der haut prompt jeden Sinn in die Pfanne. »(.) weit weg von den Todesstreifen, die alles Leben vernichtet haben«: es wäre so einfach gewesen.
Vielleicht sind auch Todeszonen gemeint oder, noch umfassender, dass die ganze Erdoberfläche Todeszone geworden ist und in diesem Werden alles Leben vernichtet hat. Aber es wäre halt bloß gemeint. Es steht etwas völlig anderes da! Die Aufgabe eines Schreibers ist es, möglichst präzise zu schreiben, was er meint. Andernfalls passiert genau das, was in diesem Gedicht passiert ist.
Schön, dass die letzte Strophe den Rahmen schließt, der in der ersten Strophe gesetzt wurde: Das Meer kommt wieder, das Reinigen, Tag und Nacht; nur der Mensch fehlt, der in der ersten Strophe noch ungehemmt seinem Blutrausch frönte. zurück

© 2000 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.