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Textkritik: Vater und Söhne – Prosa

Eine Textkritik von Malte Bremer

Vater und Söhne

von Matthias Kastner
Textart: Prosa
Bewertung: 3 von 5 Brillen

Zweig stand mit seinem Vater und seinem elf Jahre altem Bruder in einem der Zimmer des Hauses auf der Waldlichtung, welches bis vor kurzem noch sein Großvater bewohnt hatte. Der Großvater war gestorben und die Räume nun sämtlich leer geräumt. Das Haus, alt und heruntergekommen, stand zum Abriss bereit. Zweig und sein Vater blickten zum Fenster hinaus. Viele Menschen gingen draußen am Waldesrand spazieren. In zwei besonders hohen Tannen hingen dort zwei Kinder mit ihrem Kopf in Schlingen aufgeknüpft. Ihre toten Körper, durch den Wind bewegt, schwangen schlaff und von den lustwandelnden Spaziergängern kaum beachtet, im hohen Geäst der Bäume.
»Recht ist geschehen, dieses Lumpenpack. Mögen sie als Warnung für alle anderen dienen, die sich an fremden Eigentume vergreifen wollen«, sagte der Vater.
»Aber es waren noch Kinder! Welches Verbrechen könnten sie schon schuldig sein als dass sie den Tod verdienten!« entgegnete Zweig ungehalten.
»Schweig still, Sohn. Was verstehst denn du schon von der Welt dort draußen, in der weder Zucht noch Ordnung herrschen können, da weichherzige Menschen wie du einer bist durch ihr ständiges Gerede von Vergebung und Milde schuldig an Verbrechen werden, die von genau diesem Gesindel, welches dort in den Bäumen hängt, zukünftig noch begangen werden, wenn einmal wieder die Barmherzigkeit über erforderlicher Härte obsiegt hat! Jawohl, ich sage schuldig! Schuldig für Verbrechen an unschuldigen Seelen, die durch Strenge hätten verhindert werden können.«
»So hängt mich doch neben sie! Wie sollen solche Kinder mit ihrem unausgebildeten Verstande unterscheiden können zwischen Recht und Unrecht von Taten, die sie aus ihrer Not, aus der bloßen Notwendigkeit zu überleben begangen haben. Ihr habt gut Reden, Euch mangelt es nicht an Essen und Kleidung und einem Dache über Eurem Kopfe. Oder würdet Ihr am Ende gar an Eurem jüngsten Sohne, der im gleichen Alter wie die Armen dort, solches Recht verüben?«
»Ja, das würde ich, mit aller Härte, die nicht vor Stand und Ansehen halt machen darf.«
Fassungslos starrte Zweig seinen Vater an.
»Ihr wollt Recht und Strenge? So sollt Ihr es erhalten und erfahren am eigenen Leibe!«, sprachs und sprang auf den überraschten Vater los, legte von hinten seine Arme um ihn und zerrte ihn zu Boden. Mit dem ganzen Einsatz seines Körpergewichtes drückte er mit beiden Händen die Kehle seines Vaters zu, der wahnsinnig vor Wut begann, um sich zu schlagen. Der kleine Bruder schaute ängstlich zu der schrecklichen Szene, als Zweig ihn anrief:
»Komm her, kleiner Bruder und tue Recht an deinem Vater, für all die Verbrechen, die er an dir zukünftig noch verüben wird, komm her zu mir und nimm diesen Schuh
Der kleine Bruder schien wie betäubt, und doch lenkten seine Schritte ihn zum Kampfgemenge, wo er zögernd den von seinem älteren Bruder ausgezogenen und ihm nun hingereichten linken Schuh ergriff.
»Und nun schlag zu, mit dem Absatz genau hier an diese Stelle auf den Hals, wo unserem Vater eigentlich eine Schlinge besser stände
Während Zweig seinen in Panik schnaufenden und ringenden Vater weiter fest an den Boden drückte, schlug der kleine Bruder wie befohlen auf den bloßgelegten Kehlkopf ein, und waren die ersten Hiebe noch zögerlich und schwach, so waren die folgenden, angefeuert durch laute Zurufe seines ältern Bruders, immer härter und unbarmherziger, bis schließlich nur noch das erschöpfte Keuchen der beiden Brüder zu hören war.

© 2007 by Matthias Kastner. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Der altertümelnde Stil macht den grausamen Inhalt noch drastischer: Zweig ist ein würdiger Zweig im Stammbaum seines Vaters – der müsste eigentlich stolz auf seinen Sohn sein, wenn er noch könnte …
Das Bemühen um den veralteten Stil ist nicht immer erfolgreich, und der inhaltliche Unfug bei der Beschreibung dieses Kampfes muss dringend beseitigt werden!

Die Kritik im Einzelnen

Die Grammatik verlangt hier »alten« Bruder – aber besser wäre noch … und seinem elfjährigen Bruder zurück
Großvater ist Einzahl, Räume sind Mehrzahl – folglich kann sich das war nicht auf Räume beziehen, sondern es müsste wiederholt werden: … war gestorben und die Räume waren nun … Das ist aber höchst unschön; besser wäre, Räume durch Haus zu ersetzen, dann bliebe es bei 1 war. zurück
Dieser Satz ist von seinem Informationswert überflüssig, denn des Hauses Abrissnähe hat nichts mit der folgenden Handlung zu tun! Sollte er aber symbolisch gemeint sein, das heißt, dass es in dem Text um – angeblich – veraltete Ansichten geht, wäre das ebenfalls gedoppelt, da die bewusst altertümelnde Sprache das Gleiche zur Genüge leistet.
Übrigens habe ich nur deshalb zuvor den Ersatz von Räume durch Haus angeraten, alldieweil die Entfernung dieses Satzes, welcher bekanntlich mit Das Haus beginnt, die Wiederholung eben dieses Wortes vortrefflichst verhindert. Aber genug der altertümelnden Schreibweise, ich werde jetzt wieder normal – es hat mich halt gereizt … zurück
Das Wort ist überflüssig, schließlich ist der Ort eindeutig festgelegt durch die beiden Tannen. zurück
Diese Formulierung ist unglücklich, denn aufgeknüpft bedeutet ja, dass sie ihre Köpfe in Schlingen haben und hängen! Die einfachste Lösung wäre, das aufgeknüpft durch ein Komma abzutrennen: Dann würde damit betont, dass die Kinder sich nicht selbst erhängt haben, sondern eben aufgeknüpft wurden. zurück
Hier tummelt sich ein zuvieles Komma: hinweg! zurück
Hier schreien Grammatik und das gesunde Sprachempfinden nach einem Genitiv: Verbrechens zurück
Dieser Satz läuft aus dem Ruder! Dieses als steht völlig sinnlos im Satz herum; löschte man es und fügte nach sein ein Komma ein, würde der Satz sinnfällig. zurück
Hier hat der Vater offenbar den Faden verloren: Aufgeknüpft wurden die Kinder, weil sie sich an fremdem Eigentum vergriffen haben – was aber hat das Eigentum mit unschuldigen Seelen zu tun? zurück
Das Komma möge entfernt und der Satz mit einem großem Sprachs weitergeführt werden, so waren anno dunnemals die Gepflogenheiten! zurück
Das müssen wir uns jetzt einmal ganz genau betrachten: Zweig packt also seinen Vater von hinten und zerrt ihn zu Boden. Da der Vater die Arme frei hat, um um sich zu schlagen, muss Zweig unter den Vater geraten sein: so wäre er auch relativ sicher vor dessen Schlägen. Gleichzeitig steht da aber, dass er mit dem ganzen Einsatz seines Körpergewichtes mit beiden Händen die Kehle seines Vaters zudrückte (zweimal mit =3: mit 2 Händen und mit 1 Körpereinsatz! Besser: unter Einsatz …). Folglich befindet er sich er über dem Vater und gibt so eine gute Zielscheibe ab. Warum der Vater hier wahnsinnig vor Wut sein soll und keine Panik schiebt, bleibt unerfindlich. Ganz und gar unglaubwürdig wird angesichts dieser (sehr unklaren) Situation die im nächsten Absatz folgende, höchst gediegen gedrechselte Ansprache an den kleinen Bruder. zurück
Es reicht doch, dass der kleine Bruder zuschaut. Es gibt in dem leeren Zimmer außer dieser Rauferei schließlich nichts zu sehen. Wenn es denn unbedingt sein müssen sollte, dass der kleine Bruder diese Szene betrachtet, dann sollte er nicht zu der Szene schauen, sondern auf sie; und dass diese Szene schrecklich ist, muss nicht mit dem Holzhammer in die Leserköpfe getrieben werden: hinweg mit diesem albernen Adjektiv! zurück
Das ist dieser völlig unglaubwürdige Satz angesichts der Situation! Zumindest hat er etwas unfreiwillig Hochkomisches! zurück
Die Hochkomik setzt sich fort: Man stelle sich Zweig vor, der unter Einsatz seines Körpergewichtes mit beiden Händen die Kehle seines Vater zudrückt, dabei formvollendet umständlich seinen kleinen Bruder zu sich bittet und währenddessen mit der an seinem dritten Arm befindlichen Hand den linken (prima, dadurch gewinnt man eine genauere Vorstellung von dem Ort, an dem ihm der dritte Arm entsprießt). Schuh ausgezogen hat und nun seinem kleinen Bruder darreicht. Dazu fällt mir nichts mehr ein! zurück
Der altertümelnden Sprache zulieb empfehle ich hier stünde. Empfehlen würde ich dem kleinen Bruder auch, auf diese Stelle am Hals zu schlagen, da man gemeinhin auf etwas schlägt (außer beim Anschlag). zurück
Die Situation klärt sich, der Erzähler hat wieder festen Boden unter seinem Stift, seine kurzzeitige Verwirrnis ist verflossen: Zweig drückt den ringenden Vater an den Boden, dieser darf endlich Panik schieben, um sich schlagen tut er auch nicht. zurück

© 2007 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.