Eine Textkritik von Malte Bremer
Schönenbergers
Montagmorgen, 8 Uhr früh. Hatte zufällig noch einen freien Parkplatz erwischt, vor dem Spital, rannte auf den Eingang zu, wo mich die automatische Schiebetür zu einem kurzen Halt zwang. Beim Empfangschalter wurde ich zum zweiten Mal gezwungen, anzuhalten, ich stammelte: »Joseph? Joseph McPhee? Mein Sohn. Er wurde gestern Abend eingeliefert.« »1. Stock, Zimmer 101.« Die Dame schien meine Verunsicherung zu bemerken, nickte mir kurz aufmunternd zu, dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Ich hatte fast kein Auge zugetan letzte Nacht. Sie hatte sich dahin gezogen. Und hatte mich durch alle Ebenen stürzen lassen. Schweißgebadet wälzte ich mich in meinem Bett hin und her. Schreckliche Gedanken quälten mich, klammerten sich fest. Es waren Fragen über Fragen. Ich machte mir schreckliche Vorwürfe. Ich machte Wilfred, meinem Mann schreckliche Vorwürfe. Was wäre gewesen, wenn … Hätte ich doch .. Hätten wir doch … Am Ende blieb mir nur noch eine Frage, was sage ich morgen zu Joe, wenn ich zu ihm gehe? Was sagt man überhaupt zu seinem Kind in solch einer Situation? Ich rang verzweifelt nach Worten, lebensbejahenden Worten, – drehte und wendete sie. Bis ich sie fand. Die richtigen Worte. Ich wurde ruhiger und schlief wenigstens ein bisschen. Mein Sohn musste wegen einer Überdosis an Tabletten ins Spital eingeliefert werden. Ich dachte immer, so was komme in Filmen, im Fernseher, in Büchern vor, aber nicht in Wirklichkeit, nicht in meiner Wirklichkeit, bis jetzt, bis gestern Abend, bis es passierte. Auch jetzt konnte ich es noch nicht fassen. Es fühlte sich so unwirklich an, wie ich auf das Zimmer 101 zulief, kurz anklopfte, dann eintrat – die Tür hatte offen gestanden -. Da fand ich Joey wieder, in dem einzigen Bett in diesem Zimmer, eingebettet in weißem weichen Bettzeug. Sein Gesicht mit dem hellen Haarwuschel erschien mir bleich, seine Nase breiter, seine Gesichtszüge markanter, ein anderes Mal waren sie weicher. Von seinen Lippen kam ein schwaches, aber deutliches »Hallo Mam«. »Wie geht es Dir?« Ich fasste nach seiner Hand. Das tat gut, seine Hand in meiner. Eine robuste Pflegefachfrau trat hinzu mit frischem Tee, freundlich lächelnd sagte sie, »Guten Morgen, Frau McPhee? Josephs Mutter? Hab ich Recht?« Mit einem Anflug von Trotz bejahte ich, »das bin ich, Joes Mutter.« Wilfred, mein Mann, hätte das gar nicht gerne gehört, diesen Namen, meinen früheren Namen. Aber er war nicht da und er würde auch nicht kommen. Ich fühlte mich sicher. Sie fuhr fort: »Joseph hat alle paar Stunden Kohletabletten mit Flüssigkeit verabreicht bekommen, zur Beruhigung seines Magens. Die Nacht war wohl etwas kurz, aber sonst, denke ich, geht es meinem Patienten heute Morgen schon wieder viel besser, nicht wahr, Joseph?« und hakte mit einem fröhlichen Zwinkern nach, »Ruh dich erstmal aus.« »Und, Frau McPhee, Doktor Brunschweiler wird bald eintreffen, falls Sie auf ihn warten möchten.« »Ja, ich bleibe noch ein bisschen.« Dann verabschiedete sie sich: »Ich gehe jetzt nach Hause. Wie ich mich auf mein Bett freue! Alles Gute. Mach’s gut, Joseph.« Beneidenswert, die sprudelnde Fröhlichkeit dieser Frau trotz eines langen harten Dienstes! Ob sie wohl auch Kinder hat? Sie wäre eine gute Mutter. Da war ich mir sicher. Geduldig, bestimmt, fröhlich. Nicht so wie ich. Ich hatte plötzlich das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben. Als Mutter versagt zu haben. Ich konnte nun endlich sagen, was worüber ich mir letzte Nacht den Kopf zerbrochen hatte, »Bitte, mach das nie wieder! Versprich es mir, ja?«»Ja.« Es war ein leises, aber deutlich hörbares Ja. Das wollte ich hören. In diesem einen Moment. Mehr nicht. Es war, wie wenn wir an einer Weggabelung angekommen waren, müde und erschöpft. Wir wussten beide nicht mehr weiter. Hatten hart gekämpft, jeder auf seine Art (und Weise). Nun gönnten wir uns eine Verschnaufpause. Im Spital. In diesem einen Zimmer, mit Blick auf das Dächermeer der Stadt, der riesigen Apparatur in der einen Ecke, vom Gang her das unverkennbare dumpfe Aufeinanderklatschen von sich nähernden und wieder entfernenden in Pantoffeln steckenden Füßen, dem fernen Klingeln eines Telefons, dem gedämpften Stimmengewirr, hie und da verhaltenes Gekicher. Da fühlten wir uns geborgen, ungestört, ganz einfach legitimiert zusammen zu sein. Zuhause war das schwierig geworden, zeitweilig fast unmöglich. Es klopfte. Dr. Brunschweiler, Joes behandelnder Arzt stand neben uns, begrüßte uns mit einem festen Händedruck. Wir kannten uns, hatten gestern Abend miteinander telefoniert. Er kam gleich zum Kern der Sache, Joseph werde vorübergehend in die Psychiatrie verlegt. Zur Überwachung und weiteren Abklärungen. Joes Lächeln verschwand. Er fuhr unbeirrt fort, versuchter Suizid, das erfordere, er wiederholte, eine Einweisung in die Psychiatrie. Die übliche Handhabung. Zum Wohle des Patienten. Das saß. Das Schreckgespenst hatte einen Namen bekommen. Suizidversuch!
Zusammenfassende Bewertung
Standardanfang und Leserbevormundung: So wird das nichts!
Gefühle der Protagonisten des langen und breiten schildern, statt Gefühle im Leser zu erzeugen; einen Text anfangen und sofort unterbrechen, um zu erläutern, was »vorher« gewesen ist, statt das im Laufe des Textes anhand der Entwicklung der Charaktere zu zeigen; einen Text assoziativ verfassen, ohne klaren Plan, sodass sich Widersprüche und Ungereimtheiten ergeben …
Die Kritik im Einzelnen
Da haben wir gleich drei Anfänge auf einmal: den des Romans, den der Woche und den des Tages – das ist ein bisschen viel! Ich würde das streichen – komplett! zurück
Woher will die Protagonistin das wissen? Sie arbeitet nicht im Spital – es könnte ja sein, dass da immer Parkplätze frei sind! Und da es um Eile geht (wie das fehlende Subjekt zu Recht suggeriert), wäre glücklicherweise besser geeignet: Dann hätte die Protagonistin zuvor Angst gehabt, sie müsste nach einem Parkplatz suchen! zurück
Was nun folgt, ist kein stammeln – es sind vollständige Wörter. Das klingt von selbst aufgeregt, ohne dass es betont werden müsste; Also: kein »ich stammelte«, sondern direkter Anschluss der direkten Rede. zurück
Wieso freut sich die Protagonistin nicht einfach über das aufmunternde Nicken, statt sich in überflüssigen Mutmaßungen zu ergehen? Die Dame nickte mir aufmunternd zu – und fertig! zurück
Von hier bis da empfehle ich dringend eine vollständige Streichung! Bislang haben wir den Eindruck von einer aufgeregten Person, die im Spital zu ihrem Sohn will. Warum die Person aufgeregt ist, wissen wir auch: Der Sohn wurde am Abend zuvor eingeliefert. Jeder, der seine 7 Zwetschgen beieinand hat, kann sich denken, wie es diesem Menschen in der Nacht ergangen ist, denn problembeladene Nächte kennt jeder!
Offenbar ist der Ich-Erzähler jedoch ganz anderer Meinung und breitet die ganze Palette ausgelutschtester Klischees aus, was ein Mitfühlen schon im Ansatz verhindert: fast kein Auge zugetan, schweißgebadetes Herumwälzen, schreckliche Gedanken, Fragen über Fragen, man hätte, was soll ich dem anderen sagen, so was komme immer nur in Filmen, im Fernsehen in Büchern vor …
Aufgabe eines Textes ist es, dem Leser Gefühle zu ermöglichen oder Gefühle in ihm zu erzeugen, und nicht, die der Protagonisten auszuwalzen. zurück
Wenn das Vorige gestrichen ist, sollte hier zum besseren Verständnis Joeys Gesicht stehen. zurück
Dieses »ein anderes Mal« gibt Rätsel auf: Wechselt die Wahrnehmung seiner Gesichtszüge? Erscheinen sie der Mutter einmal markanter, dann wieder weicher? Waren sie sonst weicher als jetzt, wo sie markanter sind? Im ersten Fall müsste es im Satz logisch heißen: »erschien[en] […] seine Gesichtszüge mal markanter, mal weicher«, im zweiten Fall wäre weicher zu streichen, da es automatisch in markanter enthalten ist und somit nur noch redundant wäre. Aber »ein anderes Mal« hat hier keinen erkennbaren Sinn. zurück
Wieso Frau McPhee die Frage nach der Mutterschaft mit einem Anflug von Trotz bejaht, kann ich nicht nachvollziehen, denn eine Mutterschaft ist schließlich immer fraglos! Allerdings sollte sie als Mutter sich entscheiden, wie sie ihren Sohn nennt: Taufnahme ist wohl Johannes – aber nennt sie ihn nun Joe oder Joey? Bekommt er zwei Namen wie die Hunde, nämlich einen, wenn er brav ist, und einen anderen, wenn er ermahnt werden muss? zurück
Das wissen wir bereits: Der Mann hätte das nicht gerne gehört, aber er würde auch nicht kommen! Folge? Eben – also streichen! zurück
Warum redet sie nicht einfach weiter? – Es hört sich an, als habe sie den Gedanken der Protagonistin zugehört, bevor die weiterredet … Streichen! zurück
Wenn Medikamente verabreicht werden, geschieht das nach den Anwendungsvorschriften – die müssen aber in einem Text nicht mitgeliefert werden. zurück
Das ist kein Nachhaken – denn sie will ja nicht etwas genauer wissen -, sondern ein Aufforderung oder ein Rat! Ich würde den ganzen Satz streichen und die Pflegekraft sich gleich an die Mutter wenden lassen. zurück
Wieso wird das bisschen hier so betont? Ist ihr Joe oder Joey so unwichtig, dass sie nur noch ein bisschen bleiben will? zurück
Und wieder ein völlig überflüssiger Hinweis: Die Pflegekraft sagt es doch direkt anschließend! zurück
Auch hier: zu viel! Nach der Charakterisierung der Pflegekraft bezüglich derer vermuteten Mütterqualitäten folgt ein völlig ausreichendes, lapidares »Nicht so wie ich« – das muss nicht mehr erläutert werden! Folge? Streichung bis hier! zurück
Da der Text im Präteritum verfasst wurde, ist hier Vorzeitigkeit angesagt, da sie es ja gehört hat: »Das hatte ich hören wollen«. zurück
Diese beiden Sätzlein bringen nicht Erhellendes – warum also nicht einfach streichen? zurück
Auch die Weggabelung (oder Kreuzung) ist ein ziemlich abgegriffenes Bild – aber lassen wir das einmal beiseite; sinnvoller wäre in jedem Falle, dass beide nicht wussten, wohin, und sich deswegen eine Verschnaufpause gönnten – auf das Kämpfen kann dabei getrost verzichtet werden. zurück
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