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Textkritik: Mühlenmäuse – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

Mühlenmäuse

von Zero
Textart: Lyrik
Bewertung: 3 von 5 Brillen

Unten in der alten Mühle
traf sich in des Kellers Kühle
die gesamte Mäusemeute
zu verteiln die fette Beute

Wüst wars da in dieser Runde,
stritten sie die dritte Stunde,
wem wie viel von diesem Specke
ohne Unverschämtheit schmecke.

»Räuberratte! – Mehlbenässer!
Mietzenkrauler! – Köttelfresser!«,
solche und noch andre Namen
gaben hier den Umgangsrahmen.

»Nichts kriegst du, du Spitzmausfratze!
Hol dich Raul, die fette Katze!«
Pautz. Bei dieser frommen Bitte
landet Raul in ihrer Mitte

»Wenn schon: Kater! -« murrt er strenge
in die angsterstarrte Menge,
»Hab euch Kleinen zugehört,
denk doch, dass das niemand stört?«

Schleunig schütteln alle Mäuse
zugleich ihre Hirngehäuse.
»Sicher wollt ihr nicht mehr streiten«,
raunt er rings nach allen Seiten,

»drum, wenn alle einig wären,
würd ich mich bereit erklären,
dieses Speckstück für einstweilen
mitzunehmen und verteilen,

später, an der Mühlbachquelle.
Außer, jemand ist zur Stelle
sich dagegen zu erfrechen
möcht ihn dann alleine sprechen.«

Heftig schütteln da die Mäuse
aus dem Kopfhaar ihre Läuse.
»Gut«, sagt Raul , »ich muss dann weiter«,
packt den Speck und rauf die Leiter.

Nach der ersten kurzen Pause
Jubel, Trubel, Mäusesause.
Wie die Kleinen da frohlocken,
tanzen, aufeinander hocken,

und die Mäuse, einer Meinung,
gratulieren zur Entscheidung
ihren Streit so schlau zu enden,
sich an Raul, die Katz, zu wenden.

© 2001 by Zero. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Eine gelungene politische Fabel, die stellenweise eine erfreuliche sprachliche Leichtigkeit erreicht.
Deutlich wird aber auch, welch Arbeit und Leistung hinter und in den Versen eines Busch oder Heine oder Gernhardt stecken muss, denn die lesen sich immer so selbstverständlich federleicht, als könne das jeder. Werch ein Illtum!
Ein Wort noch zu Fabeln überhaupt: Eigentlich waren Fabeln immer politisch; Lehren zu moralischem Nutz und Frommen der Jugend wurden erst seit dem 18. Jahrhundert aufgepfropft, und zwar wortwörtlich: sie wurden ausformuliert hinter die Fabel gestellt, etwa zu der Fabel vom Storch und dem Schwan, wo der Schwan seinen Gesang angesichts des Todes dem Storch so begründet: er werde in einen Stand treten, wo er weder dem Hunger noch der Verfolgung länger ausgesetzt sei.
Das war schon bei Äsop politisch gemeint: Die Zensur und Verfolgung von Künstlern und politisch Andersdenkenden oder Aufmüpfigen war normal, auch noch im letzten Jahrhundert (dem 20.). Was muss das in Äsops Fabel für ein Staat sein, in dem Menschen sich über den Tod freuen?
Die aufgepfropfte Nutzanwendung zur obigen Fabel: Lehre. Der Tod ist die gewisse Befreyung von allen Beschwerlichkeiten, Leiden und Gefahren des Lebens. Prima: haltet die Klappe, denn das Leben ist ein Jammertal! Bezeichnenderweise leitet Richardson seine Fabelsammlung mit folgenden Worten ein (in der Übersetzung vom alten Lessing): Sittenlehre für die Jugend in den auserlesensten äsopischen Fabeln, mit dienlichen Betrachtungen zur Beförderung der Religion und der allgemeinen Menschenliebe. (Kinder- und Jugendliteratur der Aufklärung, Reclam 9992, S. 242/243)
Belehrende und moralische Gedichte werden auch heute noch in Massen hergestellt. Ich freue mich, dass Zeros Fabel nicht dazu gehört!

Die Kritik im Einzelnen

Das ist zu flach: es war da nicht wüst, sondern wüst ging es zu: hier ist action angesagt! Vorschlag: Wüst gings zu in dieser Runde. zurück
Da es schon längere Zeit wüst hergeht, würde ich das sie durch ein schon ersetzen. zurück
Die Frage ist nicht, wie viel jede Maus vertilgen kann, sondern vertilgen soll: jeder schmeckt sicher alles. Kleine Verbesserung (Wozu gibt es schließlich Reimlexika? Z.B das Standardwerk von Steputat bei Reclam – inzwischen sogar als CD-Rom erhältlich, oder »Das große Reimlexikon« von Günter Pössinger, Heyne-Ratgeber 5102.) für die ganze Strophe: Wüst gings zu in dieser Runde,/stritten schon die dritte Stunde,/wer wie viel von diesem Specke/ohne Unverschämtheit schlecke. zurück
Gut an dieser Stelle: der Zeitenwechsel vom Präteritum zum Präsens! Denn jetzt wird es wohl richtig Katz-Maus-dramatisch! zurück
Auch hier habe ich nur kleine Verbesserungsvorschläge anzutragen die Ehre: schleunig beschreibt nur das Tempo, in dem die Mäuseschar willfahrt: eifrig würde auch den Opportunismus ins rechte Bild rücken; zugleich hat den hochsprachlichen Ton auf der zweiten Silbe, müsste hier also gegen den natürlichen Sprachrhythmus betont werden; das wäre durchaus möglich, wenn hier etwas Unerwartetes geschieht, der (wissend-aufmerksame) Leser also auch durch die Form darauf aufmerksam gemacht würde. Das aber ist inhaltlich nicht der Fall: der Mäuse Gehorsam ist fraglos. Verbesserungsvorschlag: Schleunig schütteln alle Mäuse/eifrigst ihre Hirngehäuse. zurück
Die herrschaftliche Großzügigkeit des Katers würde deutlicher, wenn er sich bereit erklären könnte, statt es gleich zu tun; für einstweilen hat etwas Unherrschaftlich-Umgangssprachliches, und die angehängten Infinitivkonstruktionen sind grammatikalisch brüchig. Vorschlag: drum, wenn alle einig wären,/könnt ich mich bereit erklären, dieses Speckstück hier einstweilen/mitzunehmen und zu teilen.
Kleines inhaltliches Problem dabei: teilen und verteilen meinen nicht das Gleiche; doch schließlich ist es nur ein Vorschlag, der möglichst viel der Vorlage bewahren soll. Und es ist auch nicht mein Gedicht! zurück
Muss der Großherzog Kater so deutlich werden? Ist es für ihn tatsächlich im Bereich des Möglichen, dass ein Maus auch nur Piep macht? Ich finde es angemessener, wenn Raul seine arrogante Selbstsicherheit genüsslicher zur Schau stellte. Auch hier ein Vorschlag, wobei die Zeile mit dem viel zu empörten erfrechen vollkommen ersetzt wird: Außer, jemand wär zur Stelle,/meinen Vorschlag abzuschwächen./Würd ihn gern alleine sprechen…
Die unausgeführten Punkte am Ende gehörten unbedingt dazu: so ein Angebot muss wirken können! zurück
Nach packt den Speck ist eine Unterbrechung notwendig, denn die Satzkonstruktion wird verlassen: Raul sagt und packt, dann aber fehlt das Verb nach dem folgenden und : Vorschlag: packt den Speck – und rauf die Leiter. zurück
Ich finde die doppelte Tatsachenverdrehung vergnüglich: die Mäuse bleiben trotz Rauls Ermahnung stur bei Katz, andererseits aber tun sie so, als sei alles nach ihrem Wunsch und Willen bestens geregelt worden. zurück

© 2001 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.