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Textkritik: Kritik zum Text zum Foto einer Konfirmandin

Die Autorin betrachtet eine Fotografie von August Sander. Das Bild entstand 1911 und zeigt eine Konfirmandin am Rande eines Kornfeldes. Ein Text entsteht mit scheinbar lapidaren Feststellungen. Und diese Lakonie mache den Text so stark, meint Textkritiker Malte Bremer.

Die Konfirmandin

von Lea Söhner
Textart: Prosa
Bewertung: 5 von 5 Brillen

Assoziationen zur gleichnamiger Fotografie von August Sander aus dem Jahre 1911

Jetzt ist sie erwachsen. Das schöne Kleid der Mutter steht ihr gut. Sie durfte es sogar kürzen, denn nach der heutigen Mode trägt man die Kleider nur noch bis zu den Knöcheln. Dazu die Uhr an der silbernen Uhrkette von Großmutter und die seidenen Handschuhe.

Sogar neue Stiefel aus feinem Leder hat man ihr machen lassen. Immerhin ist es ein stolzer Hof, dem sie entstammt. Da kann man zeigen, was man hat.

Die Schulzeit ist zu Ende. Sie wird auf dem Hof arbeiten bis zu ihrer Hochzeit. Dann wird sie auf dem Hof ihres Mannes arbeiten. Ihr zukünftiger Bräutigam sollte auch ein stattlicher Bauer sein mit ordentlichem Besitz.

Diesen Winter wird sie ihre Aussteuer fertig sticken, das meiste liegt schon genäht und gebügelt in der Eichenholztruhe.

Heute, wenn alle von der Kirche zuhause sind, wird es ein Festessen geben. Lammvoressen, Schweinebraten mit Kartoffeln, gebrannte Creme, dann Kuchen und viel Wein.

Weil sie Konfirmandin ist, wird sie erst am Abend wieder arbeiten müssen, wenn alle gegangen sind. Sie wird die große Schürze umbinden und mit der Mutter und der alten Magd zusammen das Geschirr abwaschen, die Töpfe mit Sand scheuern, die Küche putzen und die Stube sauber machen.

Zur Nacht wird sie das schöne Kleid ausziehen und unter dem Trockendach aufhängen, damit es auslüften kann.

Sie wird im Nachtleibchen unter ihre kalte Bettdecke schlüpfen und das Pieken des Strohs unter dem Laken spüren.

Später wird sie das leise Knarren der Holzstiege hören, die zu ihrer Dachkammer hinaufgeht, und das Schnaufen des Vaters.

© 2020 by Lea Söhner. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Diese lapidaren Feststellungen angesichts dieses Bildes sind einerseits trivial, werfen aber andererseits einen kritischen – ja: auch erschreckenden Blick auf (bei uns zumindest?) längst vergangene Zeiten! Dass das so lakonisch geschieht, macht diesen Text so stark!

Die Kritik im Einzelnen

Was ist heutig? Ist das aus der Sicht der Konfirmandin, also aus Sicht aus der Vergangenheit? Dann wäre die heutige Mode also die damalige? Diese Verwirrung hat offenbar einen Grund … Zurück

Die Konfirmation ereilte einen gemeinhin mit 14. Ab da galt und war man erwachsen. Mit allen Konsequenzen … Zurück

Das ist in unserem heutigen Verständnis eigentlich unvorstellbar: Heirat mit 14? Nun: Adlige Mädchen waren da bereits verheiratet, z. B. Katharina die Große! Zurück

Das heißt letztlich nichts anderes, als dass schon Mädchen frühzeitig auf eine Vermählung vorbereitet wurden. Zurück

Ich freue mich ungemein, dass hier der Text endet! Wohin der Vater schnaufend geht und warum er dorthin geht … das wird nicht ausgesprochen. Zurück

© 2020 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.