StartseiteBuchkritiken und TippsVerweigerung als persönliches Recht: »Bartleby, der Schreiber« von Herman Melville

Verweigerung als persönliches Recht: »Bartleby, der Schreiber« von Herman Melville

Schreibfeder mit Tintenklexen (Bild von Bruno /Germany auf Pixabay)

I would prefer rather not to lautet die passive Widerstandsformel des berühmtesten Kanzleischreibers der Welt. Herman Melville, sein Erfinder, lebte in den 1850er Jahren auf einem Bauernhof bei Pittsfield im äußeren Westen von Massachusetts. Weit entfernt von der New Yorker Wallstreet also, wo sich die kleine Geschichte des blassen und merkwürdigen Kanzleischreibers Bartleby abspielte. Der Text »Bartleby, der Schreiber« erschien erstmals 1853 in der Zeitschrift Putnam’s Monthly Magazine.

Der namenlose Ich-Erzähler ist Anwalt einer Kanzlei und er beschreibt sich selbst folgendermaßen: Mag ich also einem Beruf angehören, dem landläufig ein zupackendes, hastiges, ja zuzeiten aufgeregtes Wesen nachgesagt wird, so habe ich doch nie geduldet, dass dergleichen Regungen meinen Frieden störten. Er sei ein Anwalt ohne Ehrgeiz, sieht sich als vorsichtigen Menschen. Der Ich-Erzähler vereinigt damit einen Widerspruch ethischer Systeme. Hier Nietzsche, da Tolstoi. Der vornehme Mensch, so sagt es Nietzsche, »müsse seine Vorrechte und deren Ausübung unter seine Pflichten rechnen.« Tolstoi dagegen will dem Übel nicht widerstreben und Unrecht wehrlos dulden. Tolstoi verdammte die Juristen als »Leute die glauben, es gebe Umstände im Leben, unter denen ein unmittelbares Verhältnis des Menschen zum Mitmenschen nicht notwendig sei.«

Genau diese Geschichte eines Widerspruchs erzählt uns Herman Melville. Daher sind die letzten Worte »Ja, Bartleby! Ja, Menschheit!« Als ein Sieg des christlichen Gewissens zu betrachten. Ich möchte dazu den Rechtsphilosophen Gustav Radbruch zitieren:

Das Gewissen spricht: »So dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar, und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel.«
Aber das Rechtsgefühl erwidert: »Lasst euer Recht nicht ungeahndet von anderen mit Füßen treten. Wer sich zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, wenn er mit Füßen getreten wird.« (Kant)
»Ich aber sage euch«, so hebt das Gewissen von neuem an, »dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel!«
Das Rechtsgefühl aber beharrt: »Lieber ein Hund sein, wenn ich von Füßen getreten werden soll, als ein Mensch!« (Kleist)
Und wiederum das Gewissen: »Liebet eure Feinde, segnet die euch fluchen.«
Und dagegen das Rechtsgefühl: »Der Kampf ums Recht ist ein Gebot der moralischen Selbsterhaltung.«(Jhering)
»Selig sind die Friedfertigen,« sagt das Gewissen.
Aber das Rechtsgefühl: »Wer das Recht auf seiner Seite fühlt, muss derb auftreten; ein höfliches Recht will gar nichts heißen.« (Goethe)

Der Riss, den das Christentum durch die sittliche Welt und das sittliche Leben des Einzelnen verursachte ist seitdem das Problem, das auch Kants »robustes Gewissen« nicht mehr vollständig kitten konnte. In gewisser Weise leidet Bartleby unter dem, was man Rentenneurose oder auch Begehrungsneurose bezeichnet. Dabei handelt es sich um einen durch nicht verarbeitete Erlebnisse oder Konflikte verursachten Leidenszustand, der davon Geschädigte flüchtet sich in die Vorstellung er hätte einen Anspruch auf Sicherstellung seiner Existenz. »Ich möchte lieber nicht«, ist in diesem Sinn eine Verweigerung des Rechts.

Die meisten Rezensenten achten auf Bartleby. Aber der Autor selbst lässt seinen Ich-Erzähler ja schon am Anfang des Textes klarstellen: Bevor ich unseren Schreiber aber einführe, so wie er mir zuerst vor Augen trat, empfiehlt es sich wohl, dass ich erst kurz von mir selber spreche, meinen Angestellten, meinem Büro und allem Drum und Dran – denn eine gewisse Aufklärung darüber ist unentbehrlich für ein richtiges Verständnis der nachher vorzustellenden Hauptperson. Wir lesen den Text daher am sichersten, wenn wir ihn als Schilderung eines Konflikts zwischen zwei ethischen Systemen betrachten. Dem Bedürfnis sein Recht zu bekommen und dem Bedürfnis, sich menschlich zu zeigen.

Die komplette Lebensverweigerung die Bartleby am Ende im Gefängnis zeigt, wo er sogar das Essen einstellt (»Ich möchte lieber nicht essen.«), verweist doch eindeutig auf die Pathologie des Melancholikers. Das ehrenhafte Mitgefühl des Erzählers scheitert immer wieder. Er möchte seinem Schreiber mit allen Mitteln helfen.

Doch Bartleby möchte sich gar nicht helfen lassen. Er empfindet seine Verweigerungshaltung als sein Recht. Es kommt bei psychisch Erkrankten oft vor, dass sich die Betroffenen nicht helfen lassen wollen, obwohl sie offenkundig leiden.

Der Mangel an Krankheitseinsicht hat nichts mit dem Leidensdruck zu tun. So mancher Melancholiker empfindet es als sein Recht, melancholisch zu sein. Natürlich ist der Auslöser für Bartlebys Erkrankung seine Tätigkeit im Dead Letter Office, einer Sammelstelle für nicht zustellbare Briefe. Der Erzähler erfährt von diesem Gerücht und erklärt sich so das Verhalten seines merkwürdigen Schreibers. Dieses Wissen verstärkt nur sein Mitgefühl, denn Bartleby ist als empfindsame Seele verwandt mit dem Teil des Erzählers, der den Frieden mehr schätzt als die Durchsetzung seiner Macht. Statt machtvoll sein Recht durchzusetzen, lässt sich der Erzähler sogar aus seiner eigenen Kanzlei vertreiben.

Während Bartleby die zur Neurose erstarrte Verweigerung verkörpert, ringt der Erzähler um seine Haltung. Immer wieder gerät er in Versuchung, seinen unwilligen Schreiber anzubrüllen oder ihn vor die Tür zu setzen. Verzweifelt lockt er ihn, will ihn in Versuchung bringen, bietet ihm Schutz und Sicherheit und jegliche Hilfe an, nur um abgewiesen zu werden. Immer wieder wird dadurch der Erzähler herausgefordert und um seinen geliebten Frieden gebracht.

Der Berechtigungswahn des einen, ist der Versündigungswahn des anderen. Der Erzähler ringt um seine Menschlichkeit und kann sie bis zum Ende verteidigen. Auch oder gerade weil er in seinem Versuch menschlich zu sein scheitert, scheitert seine Menschlichkeit nicht. In dieser Dialektik muss man die Geschichte verstehen lernen. Es gibt Menschen, denen kann man nicht helfen. Gerade ihnen gegenüber muss man seine Menschlichkeit bewahren.

All die Obdachlosen, all die Menschen die mit dem Leben gar nicht zu Recht kommen und nicht einmal in der Lage sind Hilfe anzunehmen, diesen Menschen immer wieder beizustehen ist die große Herausforderung. Die Absurdität des Leidens, das nicht besiegt werden kann dennoch stets zu bekämpfen. Das ist die Menschlichkeit, die Herman Melville eigentlich meint.

Bernhard Horwatitsch

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