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Textkritik: ich sehe dinge – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

ich sehe dinge

von bernd beißel
Textart: Lyrik
Bewertung: 4 von 5 Brillen

hinter mir zurück bleiben,
rasierzeug, helden,
das meer bei köln,

sie werden blass,
wie ein hauch alte schrift
ich weiß kaum

noch das rot deines
schals über dem dünnbeschneiten
strand, fremd

die stimmen der freunde
unter den kastanien, der geruch
meines gartens so still

ich frage die augen, ist das jetzt
der blick des astronauten
beim verlassen der welt

sie schauen nach vorn
und sind ohne wort

© 2003 by bernd beißel. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Das ist ein auch formal weitgehend überzeugendes Gedicht, weil es dem Leser Raum gibt für seine eigenen Gedanken.
Und meine sind tröstlich-erschreckend: dass Augen zwar nach vorne blicken, aber angesprochen werden müssen, weil sie so fremd geworden sind, dass sie nicht einmal mehr Bilder nach innen vermitteln, obschon dort nur noch ein Hauch ist, an den das lyrische Ich sich klammert: Das sind die Dinge, die es sieht.

Die Kritik im Einzelnen

Das lyrische Ich beginnt mit einer starken Irritation: bleibt es hinter sich selbst (dann wäre die erste Zeile Aufforderung) oder bleiben die nach dem Komma aufgezählten Dinge zurück? Wegen des Kommas müsste es Ersteres sein, denn andernfalls wären Rasierzeug samt Begleiter Subjekt, dürften also nicht mit Komma abgetrennt werden.
Ich zöge es vor, wenn nach der ersten Zeile kein Komma stünde – dann wären zumindest mehrere Lesarten möglich!
Die Aufzählung selbst ist überraschend, schließlich geht es laut Überschrift um Dinge, wozu sicherlich Rasierzeug gehört! Aber Helden? Und das Meer bei Köln? Helden sind wesentlich historisch (hat nicht Siegfried in der Nähe herumgetobt? Obwohl: der ist ja eigentlich kein Held, sondern eher ein selbstgefällig-arroganter und vor allem dummer Übermensch), auch ein Meer bei Köln als Teil der Nordsee hat es vor Abermillionen Jahren einmal gegeben – allerdings ohne ein Köln! Immerhin gibt es noch ein Kölner Bucht und die Rheinverbindung zum Meer, auf die manche Kölner sehr stolz sind. Wie auch immer: das all dies mit Dinge bezeichnet wird, zeigt eine erhebliche Distanz! zurück
Ein hauch alte schrift kann nicht mehr verblassen, sondern nur noch verschwinden; um diesen inhaltlichen Widerspruch zu vermeiden, stünde dem blass ein so gut zu Gesicht, und fehlte anschließend das überflüssige Komma, wäre alles klar: sie werden so blass/wie ein hauch alte schrift. Es sind selbstverständlich andere Möglichkeiten offen: z.B. verblassen statt werden blass (was einen anderen Anschluss verlangte zum folgenden Satzglied…). Ein treffender Ausdruck stellt sich selten von ganz allein her… zurück
Die drei vergangenen Abschnitte bilden wegen der Enjambements eine starke Einheit, so, als ob das lyrische Ich die Erinnerungen (Farbe, Gefühl, Geruch, Geräusch) gerade noch festhalten kann – als einen Hauch. Das Motiv Meer taucht im Strand nochmals auf: kann es sein, dass sich Erinnerungen vermischen? zurück

© 2003 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.