StartseiteTextkritikTextkritik: die hände - Lyrik

Textkritik: die hände – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

die hände

von marcin szrama
Textart: Lyrik
Bewertung: 4 von 5 Brillen

langsam
entfalte ich meine hände
vom sturz

lass sie blühen

übrigens
ich brauche sie
damit ich das gesicht in etwas
einwickeln kann
wenn es mir zum weinen kommt

© 2001 by marcin szrama. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Ein ruhiges, melancholisches, zurückgezogenes Gedicht.
Und ein sehr einsames: denn wer wird das eingewickelte Gesicht auspacken und das Geschenk sehen: jemanden, der weint, nach einem Sturz? Aber die ersten beiden Zeilen des dritten Abschnittes müssen in den Reißwolf; sie verletzen die behutsame Balance, das Gedicht droht abzustürzen!

Die Kritik im Einzelnen

Ein gelungenes Bild: vor mir sehe ich einen gestürzten Menschen (wobei es keine Rolle spielt, ob innerlich oder äußerlich gestürzt oder beides); der rappelt sich zunächst nicht auf, sondern der bewegt die Hände, die (logischerweise) mit abgestürzt sind; hier jedoch wird das besonders betont durch die zunächst irritierende Zusammensetzung: ich entfalte meine Hände vom Sturz.
Das kann auch bedeuten, dass lediglich die Hände abgestürzt waren; als Bild würde ich das so deuten, dass die Hände ihre Funktion(en) nicht mehr ausüben konnten: das lyrische Ich hatte sich selbst nicht mehr gespürt. zurück
In der Fortführung des Bildes (ich entfalte meine Hände) lässt das lyrische Ich jetzt die Hände blühen; damit wird den Händen eine gewisse Selbstständigkeit zugewiesen: sie werden freigegeben, damit sie (von sich aus) blühen können; das gilt aber nur, wenn lassen hier als zulassen verstanden wird!
Verstehe ich lassen aber im Sinne von veranlassen, bleibt das lyrische Ich die bestimmende Person, die das »Heft in der Hand hat« (was in diesem Zusammenhang ein sehr schräges Sprach-Bild ist.); das passte nach meinem Dafürhalten besser zum ich entfalte des ersten Abschnittes. zurück
In dieser Strophe wird der ruhige Ton verlassen und die Bildebene: das lyrische Ich wendet sich an einen Leser, dem es völlig überflüssigerweise etwas erklären will; damit gerät dieses Gedicht unverdienterweise in die gefährliche Nähe der moralisierenden Auf- und Erbauungsergüsse, die jeder Mensch, der ein Stift halten kann und seine 7 Zwetschgen beieinander hat, in Serie aus Ärmeln schütteln könnte (und viele haben nichts Besseres zu tun).
Soll doch der Leser sich seine Gedanken machen, getreu dem Beuys’schen Motto: Wer nicht denken will, fliegt raus! Der Leser merkt schon selbst, wenn er denn nachdenkt, worum es geht. Dieses geschwätzige übrigens / ich brauche sie tut mir geradezu körperlich weh! Ich empfehle dringend, diese beiden Zeilen ersatzlos zu streichen! Der Vorteil wäre ein mehrfacher:
Zunächst wäre die Form deutlicher: 3 Zeilen, 1 Zeile, 3 Zeilen; dadurch würde die Doppeldeutigkeit von lassen verstärkt; dann würde die Kette entfalten – blühen lassen – damit ich einwickeln kann nicht völlig unnötigerweise unterbrochen, die Bildebene bliebe unmittelbar erhalten; so wäre auch gewährleistet, dass ein Leser eher über den Inhalt nachdenkt als darüber, warum das lyrische Ich das braucht! Reicht die Vorstellung denn nicht aus, wie angenehm und zärtlich eine Berührung durch Hände sein muss, die Blüten gleichgesetzt werden? Das trauernde Gesicht, eingehüllt in Blütenblätter als Trost und Schutz, denn eingewickelt ist es für andere nicht mehr kenntlich?
Mir reicht das aus: also weg mit diesen beiden Zeilen, weg mit übrigens, ich brauche sie!

© 2001 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.