Eine Textkritik von Malte Bremer
Da will was raus!
Nun sitze ich zum ersten Mal mit einem Psychiater in seinem Sprechzimmer (oder Behandlungszimmer?). Ja, ich möchte behandelt werden, weil die Zeit langsam knapp wird. Ein Gespräch in einem Sprechzimmer wäre eine neue Erfahrung. Zu einem Arzt möchte ich sprechen dürfen, anstatt immer ihm zuzuhören. »Geh zu einem Psychiater oder Psychotherapeuten, der hört anders zu!« wurde mir geraten. Er soll mir gar nicht anders zuhören! Ich möchte bloß, dass er mich zu Worte kommen lässt und mir Antworten geben kann, die ich verstehe.
Ich muss es schaffen, ihm mit meinen Worten heute noch deutlich zu machen, wie dringend ich seine Hilfe, seine Erfahrung benötige. Wahrscheinlich wird er sowieso am Ende sagen, dass ich bei ihm an der falschen Adresse bin und mich an einen Kollegen überweisen muss. Warum sollte es hier nicht so sein?
Dieser Doktor will wissen, was ich denn für ein Menschentyp war, bevor mein Leben aufgrund der Angst vor den ständigen Schwindelanfällen so stark eingeschränkt wurde, dass ich mein Haus kaum noch verlasse. Er ist mittlerweile der dreizehnte Mediziner, den ich deswegen aufsuche. Aber er ist der erste, der daran denkt, dass es auch ein Vorher gegeben haben muss. Ich hatte es selbst schon beinahe vergessen. Ob Psychiater anders zuhören, werde ich nie erfahren. Jedoch, dass sie andere Fragen stellen, ist nunmehr sicher. Hoffentlich hat der Mann noch mehr davon auf Lager …
Trotz der vielen, vielen Arztbesuche in den vergangenen Jahren, ist es mir dabei nicht gelungen, über meine Suizidgedanken und deren Gründe zu sprechen. Es will raus. Aber ich kann es nicht rauslassen, weil ich weiß, wie gefährlich nah ich dran bin. Ich will mich mitteilen und mache doch im entscheidenden Augenblick einen Rückzieher! Dann fühle ich mich zerrissen.
Es ist bestimmt der richtige Zeitpunkt. Ihm sage ich es jetzt. Schnell! – Aus meinem Mund kommen leise die Worte: »Ich war immer etwas ruhiger und nachdenklicher als Gleichaltrige. — Ich hatte und habe oft Suizidgedanken.« Pause. Herzklopfen. Da war es! Es ist raus! Was wird jetzt passieren? Damit habe ich ihm ein Angebot gemacht, wird er darauf eingehen? Ich sehe in seine plötzlich größer gewordenen interessierten Augen, nimmt der Arzt auch meinen erwartungsvollen Blick wahr? Bestimmt fragt er gleich nach dem Warum für die Suizidgedanken und wir werden weiter darüber reden. Los, frag endlich! Nein, lieber doch nicht!
Der Berufslauscher erkundigt sich bei mir danach, was ich denn mache, wenn ich Suizidgedanken habe. Geschickt umgangen. Respekt. So kann er wohl vorrangig ausloten, inwieweit ein konkreter Plan ausgereift ist, und für mich ist die Frage emotional weniger verhängnisvoll, daher leichter zu beantworten. Bei der Warum-Frage hätte sicher meine Stimme versagt und die Worte wären im Hals stecken geblieben. Ich bin noch nicht soweit …
Ich erwidere ruhig, dass ich dann hoffe, dass solch ein Tag schnell zu Ende gehen möge und der nächste Tag besser werde. Oh, ich dumme Nuss! Wie konnte ich nur … Ich habe es total vermasselt! Warum rede ich darüber so larifari, als wäre ich nur über eine kleine Regenwolke betrübt und mit dem nächsten Sonnenstrahl alles wieder gut? Wie soll denn jemand meine Absicht ernst nehmen, wenn ich sie ihm nicht ernsthaft genug vermittle?
Das war es dann wohl … Der Arzt schwenkt eh gerade auf ein anderes Thema um. Er müsste doch mitbekommen haben, dass ich unter Hochspannung stehe, dass ich unbedingt etwas loswerden muss. Mir fällt doch selbst auf, wie ich ständig die Sitzposition wechsle und mit den Fingern spiele. Warum bleibt er nicht dran? Worauf wartet er?
Hätte ich mir nur etwas mehr Zeit für die Antwort gegeben, dann hätte sie so lauten können: »Ich gehe an solchen Tagen nach draußen zu meinen Tieren, um sie zu füttern und zu beobachten. Denke unterdessen über die Methode, den Zeitpunkt und die Liste von den Dingen, die vorher noch zu erledigen sein werden, nach. Bin voller Wut auf den Pädophilen, der mir ein Leben ohne Vertrauen in andere und mich selbst hinterlassen hat! Immer nur Angst, den ganzen Tag, jeden Tag. Dann sehe ich die Tiere an meiner Seite und ihr beneidenswertes Dasein. Wenn der Bauch voll ist und nicht gerade ein Feind vor ihnen steht, aalen sie sich genüsslich in der Sonne und denken an gar nichts. Nicht an das, was gestern war, und schon gar nicht an morgen. Genau das wünsche ich mir für mich auch. Dabei werde ich ruhiger, und anschließend gehe ich zurück ins Haus und schreibe so lange über das, was mich belastet, bis es eine selbstironische Wendung nimmt und ich ein klein wenig darüber schmunzeln kann.« Aber das alles habe ich nicht gesagt!
Während ich da so sitze, mit gesenktem Kopf nur noch der nicht genutzten Chance nachtrauernd und im Geiste schon auf dem Heimweg, sehe ich aus den Augenwinkeln, wie die Patientenkartei zugeklappt wird, und höre, dass ich mir unbedingt jemanden für eine Psychotherapie suchen sollte.
Ich hatte es doch geahnt: weitergereicht an Spezialist Nummer vierzehn! Ich habe nur ein bis fünf schwindelfreie Tage innerhalb von vier Wochen, an denen ich allein das Haus verlassen kann. Und diese paar Tage verbringe ich nicht etwa bei Freunden, beim Frisör, im Kino oder beim Sport – nein, ich versitze sie in den Wartezimmern verschiedener Fachärzte und erzähle meine Geschichte erneut. Eine sehr kleine Außenwelt …
Der Seelentröster bietet mir an, mich weiter zu betreuen, bis ich einen passenden Therapeuten gefunden habe … Ich bekomme eine zweite Chance auf ein Gespräch mit ihm. Er lässt mich nicht allein mit dem Problem. Der Kopf kommt hoch, die Augen glänzen, ein erleichtertes Lächeln geht über mein Gesicht. Dann ist ja alles wieder offen …
Zusammenfassende Bewertung
Eine einfache, gradlinige und nachdenklich stimmende Erzählung, die leicht zu verbessern ist.
Was an dieser Erzählung vor allem stört, sind die vielen überflüssigen Stellen, die bereits Bekanntes breit treten: Ein Tummelplatz für die Anwendung meiner Lieblingsregel »Streichen, Streichen, Streichen!«
Die Kritik im Einzelnen
Hier würde ich einige wenige Streichungen vornehmen, damit das nicht zu wichtig daherkommt; das betrifft sowohl das nun als auch das behandelt werden wollen: All das wird später allmählich im Text deutlich – da braucht es keine Fingerzeige!
Vorschlag: Zum ersten Mal sitze ich mit einem Psychiater in seinem Sprechzimmer (oder Behandlungszimmer?), denn die Zeit wird langsam knapp. zurück
Das umgangssprachliche bloß umwandelte ich gerne in ein höhersprachliches nur. zurück
Der Leser weiß schon am Anfang, dass die Zeit langsam knapp wird – es gibt keinen Grund, das zu wiederholen. Also: Streichen! zurück
Auch dieser Satz ist verzichtbar, denn die Zweifel des Ich-Erzählers werden im Satz vorher schon deutlich. zurück
Eine Kleinigkeit: Ein einfaches kommaloses Doch leistet dasselbe; jedoch wird in der Regel nachgestellt: Doch ich weiß nicht … bzw. Ich jedoch weiß nicht …zurück
Zunächst muss das Komma weg nach Trotz .. Arztbesuche, schließlich ist das weder ein Satz noch eine verkappte Partizipialkonstruktion. Ein einfaches vielen genügt, schließlich sind es nur 13; und dies dabei kommt in Schräglage daher, denn es meint bei den Arztbesuchen. Ich würde dieses Wort streichen, da trotz der Arztbesuche stärker ist. Weil aber offenbar gemeint ist, dass der Ich-Erzähler während bzw. bei den Arztbesuchen nicht darüber sprechen konnte, und nicht, dass er prinzipiell nicht darüber reden kann, würde ich das trotz in ein während oder bei verändern – aber auf jeden Fall muss dieses dabei getilgt werden. zurück
Auch hier geht es nur um Streichungen und Umstellungen, da etwas zu deutlich gemacht wird! Literatur wendet sich an mündige Leser, die mitdenken und nicht bloß mitfühlen. Ich stelle den ganzen Absatz mal mit meinen Eingriffen dar: Fett bei Umstellungen und anderen Wörtern, durchgestrichen bei Überflüssigem, und in Klammern kurze Begründungen:
Es Jetzt ist bestimmt der richtige Zeitpunkt. Ihm sage ich es jetzt. Schnell! – Aus meinem Mund kommt leise die Wörter: (Man weiß, dass das Wörter sind – übrigens keine Worte!) »Ich war immer etwas ruhiger und nachdenklicher als Gleichaltrige. — Ich hatte und habe oft Suizidgedanken.« Pause. Herzklopfen. Da war es! (Wir wissen, dass es das war!) Es ist raus! Was wird jetzt passieren? Damit (Diese Frage wiederholt sich am Ende des nächsten Satzes, das sollte doch genügen; und da schließlich die Wörter das einzige Angebot waren, das der Ich-Erzähler bislang getätigt hat, erübrigt sich aus dieses Damit) Ich habe ich ihm ein Angebot gemacht, wird er darauf eingehen? Ich sehe in seine plötzlich größer gewordenen interessierten Augen. (Kurze Sätze verstärken die Spannung.) Nimmt der Arzt auch meinen erwartungsvollen (wiederum überflüssig: ein Leser weiß, dass auf eine Antwort gewartet wird: Der Blick kann erwartungsgemäß gar nicht anders sein als erwartungsvoll! Stünde hier gelangweilter Blick, würde unser Erzähler eine Show abziehen, und das wäre bedeutsam für den Charakter. – das jedoch nur als unpassendes Beispiel, denn selbstredend passte dieses Adjektiv überhaupt nicht zu diesem.) Blick wahr? Bestimmt fragt er gleich nach dem Warum für die Suizidgedanken (wofür auch sonst!!!) und wir ich werden weiter darüber reden (Am Anfang steht: »Ich möchte nur, dass er mich zu Worte kommen lässt« – und es gibt keinen Grund, warum sich das geändert haben soll!). Los, f Frag endlich! N – lieber doch nicht! (Wenn die beiden Äußerungen direkt nebeneinanderstehen – auch ein Komma wäre denkbar, wenn auch ungewöhnlich – , wird die angesprochene Zerrissenheit deutlicher als durch den stark trennenden Punkt.) zurück
Wenn bislang die Erkenntnis war, dass es der richtige Zeitpunkt ist, müsste diese jetzt relativiert werden, etwa: Ich bin wohl doch noch nicht soweit …zurück
Diese Selbstbeschimpfung passt nicht: ab dem Oh bis zum nur einfach streichen, dann sind wir direkt beim entscheidenden Gedanken! zurück
Sooo ernst kann die Absicht nicht sein, wenn man schon 13 Ärzte aufgesucht hat, was sich über einen Zeitraum von weit mehr als 3 Monaten hingezogen haben muss, wie man (später) nachrechnen kann! Besser also: Wie soll den jemand mich ernst nehmen …zurück
Wurde zuvor die Absicht in ein mich verwandelt, so muss das gleiche hier passieren: … wenn ich mich nicht ernsthaft genug vermittle? zurück
Bekommt der Erzähler nur die Art & Weise – also das Wie – des Wechsels mit – oder nicht doch eher die Tatsache, dass die Sitzposition dauernd geändert wird? zurück
Dieses allzu späte nach kann problemlos ganz nach vorne: Denke unterdessen nach über die Methode …zurück
Jetzt wird es problematisch: Der Erzähler scheint sehr viel älter zu sein, als dass er etwa ein halbes Jahr zuvor Opfer eines Pädophilen (die bevorzugen ausnahmslos Kinder vor der Geschlechtsreife) hätte werden können – denn die Verstörungen und Verletzungen zeigen sich schon sehr bald – und nicht erst nach Jahren! Dieses Wort gibt dem Text ein pseudoaktuelles Geschmäckle. Ich empfehle dringend, dieses Wort zu entfernen und zu ersetzen, beispielsweise: Bin voller Wut auf den Menschen, der mich vergewaltigt hat, der mir ein Leben ohne Vertrauen… zurück
Den ganzen Teil streichen! Nach der Schilderung der idealisierten Tierwelt wird der Neid erneut ausgesprochen, und danach ist besser als dieses »Obacht, jetzt sag ich euch, worauf ihr achten müsst, wenn ihr jetzt weiterlest, damit ihr nachher versteht, wenn ich es nochmal sage!« Zusätzlich empfehle ich nach dem übrig gebliebenen »Dann sehe ich die Tiere an meiner Seite« einen Doppelpunkt: Denn es folgt, was der Erzähler sieht! zurück
Wer sich etwas wünscht, wünscht es selbstverständlich für sich – sonst würde er jemand anderem etwas wünschen, z. B. mir! Also: für mich streichen! zurück
Eiwei: Der Ich-Erzähler hat soeben sein Problem zum ersten Mal angedeutet – es muss also heißen: … und werde meine Geschichte trotzdem nicht los! Dieser Teil kann aber getrost fehlen – der Leser weiß schließlich von den vergeblichen Versuchen! zurück
Das wissen wir! Hinfort mit den vier Wörtern, weg weg weg weg – so! zurück
Dieser Schluss-Satz ist ebenfalls überflüssig: das Lächeln ist Kommentar genug, wir brauchen keine weiteren Signale, um über die ausweglose Situation des Ich-Erzählers zu erschrecken! zurück
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