Textkritiker Malte Bremer liest den Anfang eines Krimis und langweilt sich überaus schnell. Daraus kann nichts mehr werden.
Der seltsame Fall Lengden oder die Schwierigkeit, Wirklichkeit aufzuklären
Roman-Anfang
Professor Lengdens Montagsvorlesung über »Kriminalgeschichte«
Montag, 1. Juni, 11:00 Uhr
»Guten Tag, meine Damen und Herren. Ich beginne heute …«
Eine unerwartete Bewegung in der ersten Reihe, eine junge Dame erhebt sich und läuft aufs Podium zum Pult. Die Kamera, die weit hinten im Raum postiert ist, kann sich auf den großen Auftritt so schnell nicht einstellen. Eine Unruhe erfasst die Studenten ob der seit 1968 nicht mehr erlebten Störung in der wenig gefüllten Aula der kleinen Stadt.
»Herr Professor Lengden, gestatten Sie eine kurze Unterbrechung! Wir 12 Studenten Ihres Oberseminars haben einen Text verfasst, den ich verlesen soll:«
»Wir sind bestürzt und möchten Ihnen unser Beileid aussprechen zum tragischen Unfalltod Ihrer Frau. Wir schätzen Sie sehr, da wir Ihnen persönlich tiefe Einblicke in die Geschichte verdanken, die aus dem Studium der Bücher allein nicht zu gewinnen ist. Es ist die Betroffenheit, die sich überträgt. Wir fühlen uns von Ihnen geprägt. Wir fühlen uns daher gedrängt, Ihnen an dieser Stelle unseren Dank zum Ausdruck zu bringen. Vielen Dank.«
Ein dem Anlass nach unangemessener Beifall beendet die kurze Rede.
»Tja, das bringt mich jetzt aus dem Konzept. Es war nicht meine Absicht, die Sache zu veröffentlichen. Da sie es nun doch wohl ist, betone ich: Es ist weder wissenschaftlich noch erwünscht, mein Inneres vor Ihnen auszubreiten. Eines jedoch muss ich Ihnen entgegnen, da es wissenschaftlich relevant ist.
Ich ändere also meine Vorlesung aus dem Stegreif und belehre Sie.
Es ist strikt verboten, zur Geschichte Gefühle zu entwickeln. Wenn Sie Einblicke fühlen, die über Bücher hinausgehen, irritiert mich das sehr. — Ich habe das Gesetz so oft gepredigt: Die Wirklichkeit ist ein offenes Buch, aber es ist zum Lesen, nicht zum Fühlen. „Sine ira et studio, ohne Wut und Eifer“ verlangt Tacitus, das große Vorbild von uns Geschichtsschreibern. Merke: Der Zorn der Mörder Cäsars, die Rage des französischen Mobs gegen den Adel, die katholischen Attentate auf Elizabeth I. sind törichter als Mythos und Magie.
Historisches Geschehen ist weder tragisch misslungen, noch glücklich gefügt.
Wir sprachen über das fatale Erdbeben von Lissabon, das 1755 die Welt erschütterte. Unterdrücken Sie die Gefühlswallungen, die Kleist in seine Novelle Erdbeben von Chili ergossen hat. Folgen Sie Voltaire! Er hat die Mythen über die Blitze des Zeus abgeschafft und gleichzeitig damit den Gott, der uns vermeintlich mit Erdbeben straft. Vertrauen Sie unserer aufgeklärten Vernunft, die hinter allem Dämonischen die wahren kausalen Ursachen erkennt.
Ich rufe Ihnen zu: Vernunft weiß ALLES, Betroffenheit weiß GAR NICHTS! Jede Form von Betroffenheit über das Geschehen ist uns untersagt! Ich glaubte, Sie das hinreichend gelehrt zu haben. Ihre Rede verwirrt mich, wie gesagt.
Nun plötzlich aber bin ich gänzlich verwirrt, die Stimme der Kontrolle wird leise. Plötzlich sehe ich mich einem Anderen in mir gegenüber. Dass meine Frau ermordet wird, während ich an der Kriminalgeschichte des Mordes arbeite, betrifft mich, verändert mich, gaukelte mir seltsamste Empfindungen vor: Geschichte ist zynisch! Nicht tragisch, nicht gottgelenkt, einfach nur zynisch! Vielleicht muss ich einiges überdenken. Muss ich am Ende selbst neu lernen? Aber entschuldigen Sie! Ich vergaß mich. Bisher habe ich mir verboten, über so etwas zu sprechen. Ich beginne jetzt mit unserem eigentlichen Thema.«
Professor Lengden ist von stattlicher Erscheinung, schlank, 1,95 m groß, überkorrekt gekleidet, unauffällige Perücke, distinguiert und distanziert. Fast aristokratisch sein Gang. Man sieht, dass er sich seines Ansehens bewusst ist. Wenn aber das Gesicht der Spiegel der Seele ist, dann ist er ein harter und verschlossener Mensch. Dass die Studenten ihn verehren, ist schwer zu erklären.
In unserer Erzählung ist er Titelheld und Hauptperson. Ich darf jetzt schon darauf hinweisen, dass der Begriff «Hauptperson» in Kapitel 12 wichtig wird, allerdings in einer ganz anderen Bedeutung.
Der Fund
Montag, 1. Juni, 06:06 Uhr
Um sechs Uhr war auf dem Polizeirevier am Wietenplatz ein anonymer Anruf eingegangen. Eine raue Stimme hatte gesagt: „Guckst du Fenster, schöne Morgenröte. Aber die Lengeden isse nix mehr rot, isse hin. Wolle wisse? Gehst du Winkelgasse 17. Tür isse offe, yes, im Eingang ruht se wohl. Heut isse EJR, Erste Juniröte! Merken sich. Iche melde wieder.“
Die kleine Stadt mit der kleinsten Universität Deutschlands hat etwa 16.000 Einwohner. Die Hochschule mit nur rund 400 Studenten bildet Spitzenkräfte der Kriminalwissenschaft aus. Dr. Lengden, habilitierter Historiker, Spezialgebiet u. a. England, hat den einzigen Lehrstuhl für Kriminalgeschichte, Verbrechensgeschichte und Allgemeine Geschichte inne.
Die Polizeistation ist hoffnungslos unterbesetzt. Das Amtsgericht fiel zwar den blind-wütigen Sparmaßnahmen noch nicht zum Opfer. Aber wir dürfen hier weder ein Epizentrum der Macht oder des Verbrechens erwarten (was zu allen Zeiten leicht zu verwechseln ist), noch ist es ein Hort verlorener ländlicher Idylle.
Zwei Polizeiwachtmeister, die eigentlich nur Streife dürfen, hatten um 06:26 Uhr die angesprochene Leiche einer Frau von etwa 65 Jahren vorgefunden. Der einzige Chefermittler befand sich mit drei Kollegen auf Dienstreise und wurde erst mittags erwartet. Vor Ort war kein Inspektor verfügbar, dem Zwei-Mann-Team mangelte es an Kompetenz. Das sollte Folgen haben.
Zusammenfassende Bewertung
Langeweile pur! Angeblich soll das mal ein Krimi werden: Aber das kann ich mir aber beim besten Willen nicht vorstellen!
Die Kritik im Einzelnen
Läuft sie oder geht sie? Das süddeutsche Laufen bedeutet meist Gehen und führt in der Literatur immer zu Missverständnissen! Ich empfehle deshalb, prinzipiell auf Laufen zu verzichten und sich auf Gehen und Rennen (u. Ä.) zu beschränken. Ist die junge Dame also gegangen, oder ist sie auf die Bühne gerannt, um nicht aufgehalten zu werden? Zurück
Die Zahlen von Null bis Zwölf werden gemeinhin ausgeschrieben, da sie historisch auf dem Duodezimalsystem beruhen und deswegen eigene Vokabeln besitzen. Ab der 13 sind Ziffern gebräuchlich. Zurück
Bücherstudium ist eleganter als Studium der Bücher: zu viele Hauptwörter! Zurück
Warm nicht einfach weiter im Text? Wozu dieser Mini-Absatz? Der Professor ist doch bereits am Reden! Zurück
Im Original standen hier drei Minuszeichen, die das Content-Management-System des literaturcafe.de automatisch in einen langen Gedankenstrich umwandelt. Doch wozu die drei Minuszeichen bzw. der Gedankenstrich? Sollen die eine längere Sprechpause illustrieren? Dafür gibt es das Auslassungszeichen, die drei Punkte … zu setzen mit der Tastenkombination Strg-Alt (Windows) oder Cmd-. (Apple). Zurück
Es gibt keine Betroffenheit ÜBER, sondern nur WEGEN etwas. Zurück
Warum jetzt das Präteritum gaukelte? Das Vorgaukeln hält doch an? Zurück
Hier habe ich Mini-Absätze zusammengefügt, damit der Text nicht so zerfleddert wird. Zurück
Das ist völlig überflüssig! Personen charakterisieren sich selbst durch ihr Verhalten, ihre Sprache, ihre Handlungen usw. Dieser Eingriff des Autors in seinen eigenen Text stört einfach nur! Ich empfehle, die Haupt-Tugend aller Schriftsteller zu beherzigen: STREICHEN – STREICHEN – STREICHEN! Zurück
Da radebrecht jemand, aber plötzlich sagt dieser korrekt IM Eingang statt IN … das ist zumindest ungewöhnlich! Spielt da jemand nur den Doofen, kann es aber nicht durchhalten? Zurück
STREICHEN – STREICHEN – STREICHEN! Wer soll sich das warum merken? Wozu all die lokalen Details? Da war gerade ein seltsamer Anruf: Wie reagiert die Polizei? Was unternimmt sie? Aber statt endlich mit dem Krimi zu beginnen, wird mit irgendwelchen Fakten um sich geworfen – das ödet! Zurück
STREICHEN – STREICHEN – STREICHEN! Wann geht es denn endlich los? Wieso schon wieder die strunzlangweilige Information, dass zwei Polizisten die Leiche gefunden haben. Ist das alles? Nämlich dass es Folgen haben sollte, dass die beiden Streifenpolizisten inkompetent waren und der Chefinspektor auf Dienstreise?
Mit Verlaub: Davon will ich nicht mehr lesen, dafür ist mir meine Lebenszeit viel zu schade! Zurück
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