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Robert Seethaler: Der letzte Satz – Wenig mehr als Wikipedia

Schmales Büchlein: Der letzte Satz von Robert Seethaler
Schmales Büchlein: Der letzte Satz von Robert Seethaler

Ist es wirklich ein Roman, den Robert Seethaler da geschrieben hat? Eigentlich ist »Der letzte Satz« nicht mehr als eine biografische Skizze über den Musiker Gustav Mahler. Gut? Schlecht? Schwierig.

Tatsächlich hat der Verlag Hanser Berlin klein »Roman« auf den Umschlag des Büchleins gedruckt, das nur 126 Seiten umfasst. Hätte man das Schriftbild der Papierseiten auf einem E-Reader vor sich, wäre man geneigt, Schrift und Zeilenabstände zu verkleinern. Beim Verlag hat man sie vergrößert, um den Text auf 126 Papierseiten zu bringen, die für 19 Euro verkauft werden.

Robert Seethaler ist nun einmal Bestseller-Garant, und mit Sicherheit wird sich »Der letzte Satz« gut verkaufen.

Seethaler ist bekannt für seinen lakonischen Stil und die Melancholie seiner Texte. »Der letzte Satz« legt man nach kurzer Lektüre beiseite und fragt sich, was man da gerade gelesen hat. Wahrscheinlich ruft man die Wikipedia auf und liest den Eintrag über Gustav Mahler nach, um zu erfahren, was von dem Gelesenen stimmt.

Mit Gustav Mahler auf der Amerika

In »Der letzte Satz« befinden wir uns mit dem Dirigenten und Komponisten Gustav Mahler (1860–1911) an Bord des Dampfers Amerika, der ihn und seine Frau und seine Tochter im Jahre 1911 von New York zurück nach Europa bringt. Es wird Mahlers letzte Konzertreise in die USA gewesen sein. Er leidet an einer bakteriellen Herzerkrankung und wird keine drei Monate mehr leben.

In Corona-Zeiten müssen auch Buchzeilen Abstand halten: Viel Weiß auf den Seiten des Romans von Robert Seethaler
In Corona-Zeiten müssen auch Buchzeilen Abstand halten: Viel Weiß auf den Seiten des Romans von Robert Seethaler

Mahler sitzt einsam auf dem Deck des Schiffes, ein Schiffsjunge kümmert sich um ihn und bringt ihm Tee. Mahler blickt auf sein Leben zurück und wir mit ihm.

So blicken also die neugierige Leserin und der neugierige Leser nach der Lektüre in die Wikipedia, um herauszufinden, was von dem stimmt, was Seethaler schreibt.

Tatsächlich klingt bereits der umfangreiche Wikipedia-Artikel wie die Geschichte eines Romans: Gustav Mahler wuchs als Sohn einer Weinbrenner- und Gastwirtfamilie auf und wurde zu einem der berühmtesten Dirigenten, Opernregisseuren und Komponisten. Er reformierte die Oper, indem er von den Sängern ein glaubhaftes Spiel verlangte und nicht nur theatralische Gesten. Mahler war in Europa und den USA gefeiert und dirigierte in jeder Saison ein unglaubliches Pensum an Konzerten und Opernaufführungen. Mit 41 Jahren heiratete er die 22 Jahre alte Alma Schindler. Obwohl Mahler sie leidenschaftlich liebte, fühlte sich Mahler mehr als »Lehrer« seiner Frau, von der er sich mehr »Reife« wünschte. Das Ehepaar hatte zwei Töchter, von denen die jüngere im Alter von vier Jahren an einer Scharlach-Diphtherie-Erkrankung starb.

Alma hatte eine Liebesaffäre mit dem späteren Bauhaus-Gründer Walter Gropius. Gropius schrieb einen Liebesbrief an Alma, den er versehentlich an Gustav adressierte, der ihn natürlich las. Klingt wie für ein Liebesdrama erfunden.

Aufgrund der schwierigen Liebesbeziehung konsultierte Mahler sogar Psycho-Promi Sigmund Freud. In einer nachmittäglichen Kurzsitzung attestierte der dem Dirigenten einen Mutterkomplex.

Roman mit wenig Mehrwert

All das steht in der Wikipedia. Und all das steht in Seethalers Roman. Obwohl vieles ausgedacht klingt, ist es tatsächlich passiert. Natürlich verwebt Seethaler die Zeitebenen kunstvoller als der Wikipedia-Eintrag. Und Seethaler ergänzt eine Rahmenhandlung auf der Amerika. Doch da passiert nicht viel.

In einer personalen Perspektive imaginiert der Autor, was Mahler gedacht und gefühlt haben könnte. Das ist nicht spektakulär und bringt gegenüber den Wikipedia-Fakten wenig Mehrwert. Wer das Leben Mahlers nicht kennt – und das werden die meisten sein – landet eben bei der Online-Enzyklopädie, sofern er oder sie mehr über den Musiker erfahren will.

Das Problem des Romans ist die wenig erhellende Mahler-Perspektive. Mit der Figur und aus der Perspektive des Schiffsjungen auf Mahler hätte sich möglicherweise mehr ergeben, und tatsächlich ist der Junge der Hauptcharakter in einem kurzen Nachklapp zur Überfahrt am Ende des Büchleins.

Daher wirken die 126 Seiten wie eine Fingerübung, wie eine Vorarbeit zu einem Roman von mindestens 400 Seiten, bei dem ein Wechsel der Erzählperspektive lohnenswert sein könnte, um mehr Erkenntnis aus dem Leben Mahlers zu ziehen als es nachlesbare Fakten und imaginierte Gedanken leisten.

Wolfgang Tischer

Robert Seethaler: Der letzte Satz: Roman. Kindle Ausgabe. 2020. Hanser Berlin. 10,99 €  » Herunterladen bei amazon.de Anzeige
Robert Seethaler: Der letzte Satz: Roman. Taschenbuch. 2021. Goldmann Verlag. ISBN/EAN: 9783442493104. 13,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

Robert Seethaler: »Der letzte Satz«
Die Rezension mit Presseschau als Podcast hören

Hören Sie Wolfgang Tischers Kritik auch im Podcast des literaturcafe.de. Dort wir in einer kleinen Presseschau auch zusammengefasst, die wie anderen Kritiken ausgefallen sind.

Das im Podcast erwähnte Interview mit Robert Seethaler aus dem Jahre 2008 können Sie hier nachhören.

Die im Podcast erwähnten und zitierten weiteren Rezensionen:

Hören Sie die Podcast-Folge über den Player unten auf dieser Seite. Der Podcast ist zudem auf allen Portalen wie Apple iTunes, Spotify oder Deezer zu hören und zu abonnieren.

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15 Kommentare

  1. Vermutlich hat mal wieder der Verlag gedrängt … Schade. Mit 126 Seiten in grosser Schrift und dann noch 19.– Euro fühlt sich der Leser veräppelt. Schade, dass die Verlage das einfach nicht kapieren, sondern lieber kurzfristig denken und auf schnelles Geld machen.

  2. Genau mein Eindruck.
    Ein nahezu sinnloses, eitles Buch.
    Wer Mahler nicht kennt oder kaum, wird damit wenig anfangen können. Gerade das Spezifische in Mahlers Leben macht es im Allgemeinen interessant und zu Herzen gehend. Wer Mahler gut kennt (wie ich) ist peinlich berührt ob dieser Anbiederung, die in keiner Zeile erkennen lässt, dass der Autor sich wirklich mit Mahlers Leben beschäftigt hat.
    Es gibt so viele wesentliche Themen, die in Mahlers Jugend fest verwurzelt sind, die gerade in die letzten Lebensjahre hineinspielen. Ist das wirklich der letzte Satz aus dem „Lied von der Erde“ der geeignete Aufhänger und nicht eher das Particell der Zehnten?
    Nun. Die Karawane zieht weiter.

  3. Wieder ein strenges „Tischer-Urteil“? Ob es wirklich ein „sinnloses eitles Buch“ ist, kann ich, da ich es noch nicht gelesen habe, nicht beurteilen. Also mal sehen, ob es auf eine der „Buchpreislisten“ kommt! Dann werde ich beurteilen, ob ich es auch so empfinde, liebe Grüße aus Niederösterreich!

  4. Wieso? Sollte eigentlich selbstverständlich sein, daß man die Bücher liest, um über Sie sprechen zu können!
    Ich habe es getan und festgestellt, daß ich das Buch erstaunlich gut fand, obwohl ich mir ganz ehrlich, nach dem was ich bisher von Robert Seethaler hörte oder las, dachte, daß ich möglicherweise zu einem ähnlichen Eindruck kommen könnte!
    War nicht der Fall, was mich wieder einmal bestätigte, daß man Bücher zu Ende lesen und nicht gleich nach der ersten Seite wegschmeißen soll!
    Wäre wirklich schade, wenn ich die Einzige wäre, die das auf dem Literaturcafe zum Ausdruck bringt und das ist auch, wie ich aus Erfahrung weiß, manchmal nicht der Fall!
    Was haben Sie gegen Ausrufungszeichen?

  5. Ich habe das Buch gelesen. Vollständig. Die gesprochene Kritik empfinde ich genauso bedeutungslos, langatmig, manieriert, wie das Buch selbst. Beide, Autor und Rezensent, schwafeln so vor sich hin. In meinen Augen passen in diesem Fall Autor und Rezensent perfekt zusammen.

  6. Stimmt wahrscheinlich, daß es ähnliche Hintergründe geben kann, ich habe Herrn Seethaler einmal bei einer Lesung in Wien erlebt und ihn sehr abgehoben empfunden. Er ist sicherlich ein sehr routinierter Autor, der den Erfolgsmainstream excellent bedienen kann und wahrscheinlich ist es das, was dem Literaturcafe nicht so gefällt und mir gefallen, die mir manchmal sehr überheblich scheinenden Kommentare des LC nicht. Denn Peter Handke ist ein Nobelpreisträger und keine Schlaftablette, ein berühmter Gegenwartsautor und wahrscheinlich ein schwieriger Mensch und die Qualität eines Romanes kann man bestimmt nicht auf der ersten Seite erkennen, jemand der, das glaubt, überschätzt sich meiner Meinung nach gewaltig und sollte das vielleicht nicht öffentlich weitergeben!

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