StartseiteLiterarisches LebenLouisiana Literaturfestival 2023: Besser als ein Spa-Aufenthalt

Louisiana Literaturfestival 2023: Besser als ein Spa-Aufenthalt

Atemberaubende Aussicht auf den Öresund und Kunstinstallation von Ragnar Kjartansson: Das Louisiana Kunstmuseum in Dänemark
Atemberaubende Aussicht auf den Öresund und Kunstinstallation von Ragnar Kjartansson: Das Louisiana Kunstmuseum in Dänemark wird im Sommer zum Ort der Literatur

Zum 6. Mal berichtet Barbara Fellgiebel vom Louisiana Literaturfestival in Dänemark. 44 Schreibende waren in diesem Jahr eingeladen, u. a. Joyce Carol Oates, Ian McEwan, Haruki Murakami, Eva Menasse und die beiden Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah und Wole Soyinka. Eine in vielerlei Hinsicht einzigartige Mischung in Nordeuropas spektakulärstem Museum der modernen Künste.

Impressionen eines Tages:
Samstag, 19. August 2023

Warum habe ich Tage mit Hadern und Zögern verbracht, soll ich oder soll ich nicht hinfahren? Und wenn, dann wie? Mit Öffis oder luxuriös und unökofreundlich im eigenen Auto? Meine in England lebenden Enkelkinder (1 und 3 Jahre alt) sind gerade zu Besuch. Da ist ein ganzer Tag Louisiana eigentlich unnötiger Luxus?! Nein, ist er nicht. Natürlich soll ich hinfahren. Natürlich im eigenen Auto, und zwar morgens um 8 Uhr los, um bequem nach knapp zwei Stunden Fahrt auf dem noch fast leeren Parkplatz einzufahren und freundlich von den Parkwächtern gebeten zu werden, bitte sehr nah an das nächste Auto ranzufahren, es werden viele Autos erwartet. Kunststück, das mit Joyce Carol Oates, Ian McEwan, Haruki Murakami und den beiden Nobelpreisträgern Abdulrazak Gurnah und Wole Soyinka sternbesetzte Programm macht viele neugierig.

Anstehen zum Signieren: Nach dem Gespräch mit Claire Keegan und Ian McEwan im Konzertsaal des Museums
Anstehen zum Signieren: Nach dem Gespräch mit Claire Keegan und Ian McEwan im Konzertsaal des Museums

Als Pressevertreterin wandele ich an der hunderte von Metern langen, auf Einlass fiebernden Schlange literaturbegeisterter Fans vorbei. Ich schrieb letztes Jahr im literaturcafe.de, das Louisiana-Erlebnis sei besser als ein Spa-Aufenthalt. Das gilt auch in diesem Jahr:

Diese einzigartige Mischung von freundlichen, erwartungsvollen Menschen im Alter von 10 bis 100, verschiedenste Sprachen sprechend, der makellos gepflegte Park, reichlich mit unbezahlbaren Skulpturen von Max Ernst, Henry Moore, Niki de Saint Phalle und vielen anderen attraktiv in die ungewöhnlichen Bepflanzungen integriert, die atemberaubende Aussicht auf den Öresund, dazu das grandiose Wetter – all das sendet unmittelbar Glückshormone aus und zieht die Mundwinkel in die Höhe.

Die Entscheidung war absolut richtig, denn es waren zwar keine Zugausfälle angekündigt, doch am Tag zuvor fielen einige Züge aus und führten zu ärgerlichen Verspätungen – gerade bei dem als Superstar gehandelten Murakami.

Das Louisiana Literaturfestival findet immer am 3. Wochenende im August statt und bietet den Besuchern von Nordeuropas spektakulärstem Museum der modernen Künste von Donnerstag bis Sonntag ein Feuerwerk interessanter Autorinnen und Autoren: 44 Schreibende sind in diesem Jahr eingeladen, aus Japan, Island, Nigeria, Tansania, Österreich, Schottland, Irland, England, Schweden, Frankreich, USA, Italien sowie 28 Dänen. Auch in diesem Jahr ist niemand aus der Ukraine dabei.

Nach welchen Kriterien werden die Schreibenden eingeladen? Sie müssen in diesem Jahr mit einem ihrer Werke in dänischer Sprache erscheinen. Oder Nobelpreisträger sein, dann sind sie immer willkommen. In diesem Jahr erfüllen sogar die beiden Nobelpreisträger das erste Kriterium.

Das Interesse an Übersetzungen deutschsprachiger Literatur ist leider in ganz Skandinavien sehr mäßig und mit dem an englischsprachigen Autoren und Autorinnen nicht zu vergleichen. Daher das ständige Ungleichgewicht. Die einzige deutsche Autorin im letzten Jahr war Judith Hermann (siehe hier). Die einzige Deutschsprachige in diesem Jahr ist die in Berlin lebende Österreicherin Eva Menasse, deren Roman »Dunkelblum« nun als »Dunkelblom« auf Dänisch vorliegt. Ich hatte mich auf ein Interview mit ihr gefreut, das mir jedoch vom Verlag nicht gestattet wurde.

Das Publikum ist bunt gemischt, natürlich überwiegend dänisch; doch mich freut in diesem Jahr, auffallend viel Deutsch zu hören. Ob mein immer wieder begeistertes Berichten über dieses so gelungene Festival zur Verbreitung dieses Geheimtipps beigetragen hat?

Samstag sind die Öffnungszeiten von 10 bis 19 Uhr, das erste Literaturevent, ein Gespräch zwischen Ian McEwan und der mir bis dahin unbekannten Irin Claire Keegan findet um 12 Uhr im immer hoffnungslos überfüllten Konzertsaal statt. Also belege ich einen Sitzwürfel vor dem Riesenbildschirm, der angenehm frei im Park steht und das Ereignis überträgt.

Aktuelle Kunstausstellung: Ragnar Kjartansson

Dann nutze ich die Zeit, um mir die aktuellen Kunstausstellungen anzusehen, allen voran die des Isländers Ragnar Kjartansson. Spektakulär – wie die meisten Ausstellungen in Louisiana.

Ragnar Kjartansson integriert sich selbst in fast jeder seiner verschiedenen Installationen, die er Projekte nennt
Ragnar Kjartansson integriert sich selbst in fast jeder seiner verschiedenen Installationen, die er Projekte nennt

Kjartansson ist recht selbstverliebt, gelinde gesagt, und erinnert an Edvard Munch, der mal eine Ausstellung mit ausschließlich Selbstporträts hatte. Bei Kjartansson sind es verschiedene Projekte, manche an Abramovic erinnernd, die immer mit Wiederholungen und/oder Endlosschleifen verbunden sind. Die eine Installation katapultiert mich zurück auf die Frankfurter Buchmesse, als Island Gastland war und den spektakulärsten Pavillon zeigte, nach dem wir uns jedes Jahr zurücksehnen: Man betrat einen dunklen Raum mit einem Labyrinth aus Riesenstellwänden, die lesende Isländer in verschiedenen Posen, Räumen, Situationen aber immer lesend zeigten. Plötzlich bewegte sich ein Bild, dann noch eins. Genau das tut Kjartansson auch. Genial.

Oder die Installation, die im Eckzimmer des Westflügels aufgenommen ist und dort 11 Stunden pausenlos läuft. Ein Paar (Kjartansson und eine isländische Schauspielerin) beteuern einander in unterschiedlichen Zeitabständen, wie gut es ihnen geht. Immer mit dem selben Satz: »What have we done to deserve this?«

Geschickt wird man mit immer neuen Projekten konfrontiert, bzw. in sie hineingezogen und ist am Ende fasziniert von der Aussagekraft dieses Künstlers.

Claire Keegan und Ian McEwan

Tonlose Bildschirmübertragung und dahinter ein Techniker: Moderatorin Eleanor Wachtel, Festivalüberraschung Claire Keegan und Grandseigneur der britischen Literatur Ian McEwan
Tonlose Bildschirmübertragung und dahinter ein Techniker: Moderatorin Eleanor Wachtel, Festivalüberraschung Claire Keegan und Grandseigneur der britischen Literatur Ian McEwan

Um kurz vor zwölf bahne ich mir meinen Weg zu der Liveübertragung und komme nur mühsam zu meinem Platz – der tatsächlich noch frei ist. Gespannt wartet die Menge auf den Beginn. Es flimmert, der Konzertsaal zeigt sich mit Moderatorin Eleanor Wachtel, Claire Keegan und Ian McEwan. Sie werden von einer Louisianamitarbeiterin wahrscheinlich Erwartungen schürend begrüßt – jedoch können wir das nur raten, der Ton funktioniert nicht. Sofort springt eine Frau auf, um im Saal Bescheid zu geben. Wertvolle Anfangsminuten verstreichen ungehört, wir sehen Ian McEwan sprechen, aber wir hören kein Wort. Erstaunlich, wie gelassen und geduldig das auf knapp 200 Personen angeschwollene Publikum das hinnimmt. Der nicht aus der Ruhe zu bringende Techniker wird mit erleichtertem Applaus bedacht, als ihm schließlich das Kunststück gelingt, das Gesagte hörbar zu machen. Da verschwindet das Bild! Aber zum Glück nur wenige Sekunden. Dann funktioniert alles und im Nu ist man in dem angeregten Gespräch drin. Ian McEwan erzählt, wie ihn verschiedene Themen zum Schreiben ermuntern, was ein Auslöser ist oder sein kann. Das meiste ist selbst erlebt, und muss wahrhaftig sein, nicht unbedingt wahr. So sei sein aktuelles Buch Lessons (Lektionen) entstanden, als er im reifen Alter erfahren habe, einen Bruder zu haben, einen Bruder den seine Mutter ihm und den Halbgeschwistern ihr ganzes Leben lang unterschlagen hatte. Er gibt den guten Rat: Halten Sie Informationen zurück. Lassen Sie die Lesenden im Ungewissen, das erhöht die Spannung. Er mache keine Notizen im Vorfeld, sondern nehme den Leser mit, wenn er an die Tür klopft und seinem potentiellen Bruder erstmalig gegenübersteht. Wie begrüßt man sich? Der eine will dem anderen die Hand reichen, der andere setzt zu einer Umarmung an. Beide landen in einer ungeschickten Bewegung.

Gerade als ich finde, es sei jetzt an der Zeit, auch mal Claire Keegan zu hören, wird diese in das Gespräch einbezogen. Sie stellt ihr aktuell auf Dänisch erschienenes Buch Small things like these (Kleine Dinge wie diese) mit den Worten vor: Ich recherchiere nicht. Ich habe keinen Fernseher. Ich lese keine Nachrichten. Sie verblüfft mit ihrer Fähigkeit, mit fast jedem geäußerten Satz einen Lacher zu landen. Obwohl sie ausgesprochen ernste Themen abhandelt, die überwiegend mit der katholischen Kirche Irlands und ihrem Zerfall nach Bekanntwerden sexueller Übergriffe zu tun hat. Claire schildert eindringlich, wie die irische Erziehung darauf abzielte, nur ja keinen Genuss zu verspüren, und kommt zu dem Schluss: Es gibt keinen berühmten Irischen Liebhaber.

Beide sind sich einig: Die meisten Probleme werden in Romanen und Filmen gelöst, im Leben bleiben sie ungelöst. Entweder vergisst man sie oder trägt sie sein Leben lang mit sich herum.

Claire ist ein ausgesprochener ALFA-Effekt: Von dieser als Queen der Short-Storys präsentierten Irin will man mehr hören und lesen.

Ali Smith

Ali Smith läuft dank der unerwartet großen Fangemeinde zu persönlicher Hochform auf
Ali Smith läuft dank der unerwartet großen Fangemeinde zu persönlicher Hochform auf

Weiter geht es zu Ali Smith, die um 14 Uhr im riesengroßen Parkzelt auftritt. Ich habe sie mit Zadie Smith verwechselt und staune nicht schlecht über diese Urgewalt. Sie ist verblüfft über die Größe der Fangemeinde, die sie erwartet und vergleicht nostalgisch, wie ihr erster Louisianabesuch vor 13 Jahren beim ersten Festival seiner Art ablief. Die schottische Meisterin der Experimentierfreudigkeit vergleicht Roman und Kurzgeschichte auf folgende Art: Der Roman ist eine wabbelige alte Hure, schlaff und locker, die Kurzgeschichte ist eine schlanke Nymphe, noch immer in sehr guter Form. Und sie fragt sich, wie viele Bücher in ihrem Haus fickbar sind. Diese Frau kann sagen, was sie will (und tut das auch), das Wohlwollen des Publikums ist ihr gewiss.

Ich kann mich von dieser mit Sprachspielen bezaubernden Schriftstellerin nicht losreißen, zumal ich nur drei Reihen hinter Joyce Carol Oates sitze und beobachten kann, wie aufmerksam sie Ali Smith zuhört. Was mag sie denken? Dadurch verpasse ich die gleichzeitig stattfindende Veranstaltung mit der schwedischen Autorin Ia Genberg. Diese hat im vergangenen Jahr den schwedischen Augustpreis (mit dem Büchnerpreis vergleichbar) für ihren Roman Die Details bekommen.

 Joyce Carol Oates und Eva Menasse

Eva Menasse und Joyce Carol Oates im Nicht-Gespräch mit Moderator Martin Krasnik
Eva Menasse und Joyce Carol Oates im Nicht-Gespräch mit Moderator Martin Krasnik

Um 15:30 Uhr werden Eva Menasse und Joyce Carol Oates im Parkzelt interviewt, und ich hatte mir gedacht, wie praktisch, dann hast du gleich einen guten Platz am selben Veranstaltungsort. Pustekuchen. Das Zelt wird nach jeder Veranstaltung geräumt und man darf sich davor wieder in die bereits endlos scheinende Warteschlange reihen. Auch als Pressevertreterin hat man da keine Privilegien.

Joyce Carol Oates (85) hat 61 oder 64 Romane geschrieben, keiner weiß es genau. Sie ist die große politisch engagierte Literaturikone der USA und wird seit vielen Jahren zurecht als Anwärterin auf den Nobelpreis gehandelt. Wahrscheinlich wartet die schwedische Akademie aus politischen oder sonst welchen Gründen mal wieder so lange, bis es zu spät ist. Es werden nämlich nur Lebende mit diesem begehrtesten aller Literaturpreise bedacht.

Eva Menasse (53) in Berlin lebende Österreicherin ist hier, um ihren soeben auf Dänisch erschienenen Roman Dunkelblum vorzustellen.

Der Interviewende ist Martin Krasnik. Seine unübersehbare Nervosität gibt er sofort zu und gesteht, dass er sich den ganzen Sommer über mit der Vorbereitung dieses Gesprächs abgequält habe. Er erntet keinerlei Sympathiepunkte, weder bei den bühnenerfahrenen Schriftstellerinnen noch beim Publikum. Dies ist mein viertes Interview in drei Tagen, meint Joyce ungerührt und findet in letzter Sekunde die wohlwollende Metapher – da fühle sich das hier wie eine warme Badewanne an. Als Krasnik versucht, einen Altherrenwitz anzubringen und von einer Ménage-à-trois spricht, hat er total verspielt. Das sei doch eine interessante Konstellation, die beiden erfahrenen Schriftstellerinnen und er – da hagelt es nur noch ein sarkastisches „zu uninteressant als Thema“. Interessanterweise hatten beide seinen Versuch, die Gesprächsthemen und Fragen im Vorfeld festzulegen, abgelehnt. Eva Menasse bemüht sich, die angespannte Atmosphäre zu entschärfen, und zeitweilig gelingt es ihr, die Wogen zu glätten. Joyce Carol Oates ist sehr angetan von Evas Roman, der sich mit jahrzehntelang verschwiegenen Kriegsverbrechen in einem österreichischen Dorf nahe der ungarischen Grenze befasst. Bei Lesereisen kämen Menschen zu Eva Menasse und drückten ihr Dokumentationen ähnlicher Fälle in die Hand. Sie ist fasziniert von der Gruppendynamik, die ihr Buch entwickelt. Sie zitiert selbstkritisch den bekannten Satz „Die Österreicher sind ein Volk, das voller Zuversicht in die Vergangenheit blickt“ und empfiehlt die Lektüre von Susan Nymans kürzlich erschienenem Buch Learning from the Germans – provokant und unglaubwürdig für viele Deutsche. Doch sie meint es ernst. Das Gespräch zwischen den beiden ist aufschluss- und lehrreich und entwickelt eine Eigendynamik – als der Moderator auch mitspielen will und wie ein unbeachtetes Kind mit unpassenden Fragen eingreift. Er will unbedingt von Joyce wissen, wie sie die gegenwärtige Lage in den USA beurteile. Da zerplatzt die bis eben aufgebaute Faszination wie eine Seifenblase. Pflichtschuldig antwortet Joyce, und Eva Menasse meint abschließend – Literatur sei ein Wunder, das aus 20+ Buchstaben entsteht.

Joyce Carol Oates (links) und Eva Menasse (rechts) im Signierzelt
Joyce Carol Oates (links) und Eva Menasse (rechts) im Signierzelt

Hinterher im Signierzelt ist die Schlange der Joyce-Carol-Oates-Fans bedeutend länger, und Eva Menasse steht frei zugänglich da. Da nehme ich die Gelegenheit wahr, mir ihr zu sprechen und frage sie, warum sie ein Interview mit mir abgelehnt habe. Bestürzt sagt sie, davon wisse sie gar nichts, sie nehme an, der Verlag wollte sie abschirmen, weil in der letzten Zeit so viel los gewesen sei … Ich glaube, es tut ihr ein bisschen leid, somit kein Sologespräch im literaturcafe.de zu haben …

Wole Soyinka und Abdulrazak Gurnah

Weiter zum letzten Programmpunkt des Tages: Das Treffen der beiden afrikanischen Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka und Abdulrazak Gurnah. Ich staune, dass die Warteschlange am Einlass ins Zelt nicht länger ist, verstehe aber schnell, dass dies der fortschreitenden Stunde geschuldet ist, viele Menschen vom Diktat der Zugabfahrtszeiten gebeutelt oder schlicht und ergreifend so übervoll von Eindrücken sind, dass sie sich auf das bevorstehende hochintellektuelle Gespräch nicht mehr einlassen möchten. Aber ich möchte und komme schnell ins Gespräch mit einem Paar in der Schlange, sie dunkelhäutige Engländerin, er Däne. Ich bewundere ihr akzentfreies Dänisch und wir stellen begeistert fest, wie viele interessierte Menschen hier sind, besonders wie viele Jugendliche, welch überraschendes Highlight Claire Keegan war und wie bereichernd der lebendige Kontakt mit und zu Schriftstellern und Schriftstellerinnen ist.

Ja, es sind die zufälligen kurzen Kontakte, die den Wert dieser Art von lebendiger Literatur ausmachen. So lande ich im Zelt neben einem deutschen Paar, die beide als Lehrer an der Deutschen Schule in Kopenhagen arbeiten. Interessanter Schlagabtausch über das moderatormässig so misslungene vorangegangene Gespräch. Die Lehrerin und ich teilen unsere Empörung ob des Ménage-à-trois-Witzes, der Lehrer staunt eher über unsere Empörung.

Ein Bühnengespräch zwischen zwei Literaturnobelpreisträgern gehört überall auf der Welt zu einer großen Seltenheit: Wole Soyinka, Abdulrazak Gurnah und Moderatorin Lotte Folke Kaarsholm
Ein Bühnengespräch zwischen zwei Literaturnobelpreisträgern gehört überall auf der Welt zu einer großen Seltenheit: Wole Soyinka, Abdulrazak Gurnah und Moderatorin Lotte Folke Kaarsholm

Donnernder Applaus für Wole Soyinka und Abdulrazak Gurnah. Wole Soyinka, Nigerianer, mit 89 Jahren der Nestor der Veranstaltung, ein spitzbübischer weiser Mann mit ungebändigter Struwwelpeterfrisur und deutlichem Schalk im Nacken. Er war der erste schwarze Afrikaner, dem der Preis 1989 verliehen wurde. In seinem hier vorgestellten Werk Chronicles from the land of the happiest people on earth (Die glücklichsten Menschen der Welt) schildert er das aktuelle, von politischer Kriminalität und Korruption geprägte Nigeria.

Der aus Sansibar stammende Abdulrazak Gurnah erhielt 2021 den Preis für seine kompromisslose Darstellung der durch die Deutschen erfolgten Kolonialisierung Ostafrikas. Der 75-Jährige im englischen Exil lebende Gentleman wirkt zunächst in sich gekehrter, weiß aber dem älteren so geschätzten Kollegen Paroli zu bieten. Ein Genuss, den beiden zuzuhören. Zu erfahren, dass die Braunhemden eine in Ostafrika begonnene Bewegung waren. Dass Nigeria das Sündenbockland Afrikas ist. Dass die so spät (Ende 19. Jahrhundert) erfolgte Kolonialisierung Ostafrikas so brutal war, weil die Länder dank exzessiver Unterdrückung so schwach waren. Im Schnellverfahren bekommen wir einen Abriss über die Entwicklung des afrikanischen Kontinents und der je nach verschiedenen europäischen Herrschern geprägten Staaten. Die gut vorbereitete Moderatorin Lotte Folke Kaarsholm macht sich unfreiwillig zur Zielscheibe der historischen Überlegenheit beider Autoren. Sie fragt, wie es komme, dass die Dänen immer nur jahrhundertelang in Dänemark geblieben seien und sich nicht Kolonien geschaffen hätten?

Wie aus einem Mund fragen beide Historiker zurück, wie es denn um die Wikinger bestellt sei, auf die ganz Skandinavien doch so stolz sei. Lotte sieht ihren Fauxpas ein, lacht entwaffnend und meint, sie müsse wohl im Geschichtsunterricht geschlafen bzw. sich anderen Dingen gewidmet haben. Das Publikum johlt und verlässt schließlich amüsiert und nachdenklich diesen prallvollen Tag der Literatur. Und mit großem Bedauern, nicht morgen wiederkommen zu können, auch ich.

Und Murakami?

Und was ist mit Haruki Murakami? Den habe ich glatt verpasst. Noch immer liegt mir das aufgrund seines Buches im Streit auseinandergebrochene ursprüngliche Literarische Quartett mit Marcel Reich-Ranicki im Magen (Bei YouTube nachzuerleben).

Barbara Fellgiebel

Barbara Fellgiebel ist langjährige Buchmessen- und Literaturfestival-Beobachterin. Sie verweigert sich nach wie vor erfolgreich den sozialen Medien, freut sich aber über Ihre Reaktionen hier unter diesem Beitrag als Kommentar.

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6 Kommentare

  1. Vielen Dank für diese erneut anregende Louisiana-“Berichterstattung”.
    Aber…: AUF JEDEN FALL auch selbst mal hinfahren, denn es ist “such a nice place to be”.
    Von den geschilderten Autoren war in Vorbereitung auf eine Reise nach Uganda für mich Gurnah die Entdeckung. Großartig, wie er Weltpolitik erzählen kann. Eva Menasse möchte ich unbedingt noch lesen.

  2. Liebe Barbara, wiederum mit großem Vergnügen habe ich Deinen Bericht gelesen. In Louisiana
    habe ich mich seinerzeit von Douane Hanson verblüffen lassen. In alter Verbundenheit grüßt Dich herzlich Monika.

    Monika Buttler: Ich liebe einen Orientalen. Mein Leben zwischen zwei Kulturen.
    Verlag Expeditionen.

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