Das 3. Literaricum in Lech stellte vom 13. bis zum 16. Juli 2023 den Klassiker »Stolz und Vorurteil« von Jane Austen in den Mittelpunkt. Wolfgang Tischer berichtet von einem ganz besonderen Literaturfestival auf nahezu 2.000 Metern Meereshöhe. Demnächst werden im Podcast Gespräche von dort zu hören sein u. a. mit Denis Scheck, Michael Köhlmeier, Andrea Ott und Michael Krüger, der zwischen hohen Bergen als Poeta laureatus ausgezeichnet wurde.
Eine Bibliothek ohne Jane Austen ist eine gute Bibliothek
»Jane Austen? Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass jede Bibliothek eine gute Bibliothek ist, die keinen Band von Jane Austen enthält. Ja selbst dann, wenn sie überhaupt kein anderes Buch enthält.« Das schrieb Mark Twain über Jane Austen.
In seiner Eröffnungsrede erwähnt der Literaturkritiker Denis Scheck genüsslich dieses Zitat und provoziert damit Lacher im Publikum. Scheck sieht Austen jedoch anders, sonst hätte er »Stolz und Vorurteil« nicht in seinen persönlichen Literaturkanon aufgenommen. Nach der Lektüre von Austen müsse man feststellen, dass »ein populärer Kritiker des letzten Jahrtausends« Unrecht gehabt habe mit der Feststellung, es gehe in Romanen immer nur um Liebe und Tod. Austen lehrt: Es geht auch ums Geld, erzählt Scheck ebenfalls im Podcast-Gespräch (hier zu hören).
Das Vorurteil, dass es sich bei Austen lediglich um Liebesgeschichten handle, wird beim Literaricum schnell begraben. Das muss auch der Verfasser dieser Zeilen feststellen, der seine Austen-Leseeindrücke in einem Video aus der Lese-Lounge des Hotels Sonnenburg festgehalten hat.
Nur dem Plot nach ein Groschenroman
Schauspieler Thomas Sarbacher, der auch in diesem Jahr aus dem gewählten Klassiker vorliest, muss zuvor eines klarstellen: Denis Scheck habe von ihm das Wort und Vorurteil »Groschenroman« aufgeschnappt und in seine Rede eingebaut. Sarbacher betont, dass er damit nicht Inhalt und Sprache Austens gemeint habe, sondern dies auf den Plotaufbau bezogen habe. Der entspricht tatsächlich dem Heftroman: Leserin und Leser wissen von Anfang an, wer füreinander bestimmt ist und dass sich die Paare nach einigen Hindernissen schließlich finden werden. Happy End.
Immer wieder wird auf die Ironie und die buchstäblich treffenden (weil gnadenlos ehrlichen) Dialoge im Roman hingewiesen. Der Autor Michael Köhlmeier spricht im Podcast des literaturcafe.de über den Sub-Plot, der eine menschenverachtende und antihumane Einstellung der damaligen Gesellschaft offenbare. Junge Frauen und Männer werden behandelt wie auf dem Viehmarkt. Darüber legen sich kontrastierend die Dialoge mit einer feinen, vornehmen Sprache. Das mache Jane Austen aus.
Dialoge mit unfassbarem Sub-Plot
Wie man diese 200 Jahre alte Sprache mit ihrem Sub-Plot ins Deutsche übersetzt, darüber unterhält sich Manesse-Verleger Horst Lauinger mit der Übersetzerin Andrea Ott. Es ist eine Freude, ihr zuzuhören, da sie vieles anschaulich mit Beispielen erläutert. Dabei, so ist ebenfalls im Podcast des literaturcafe.de zu hören, habe sie sich das Übersetzen nahezu autodidaktisch beigebracht. Dass das Feuilleton ihre Arbeit lobt, ist ihr fast schon peinlich. Stattdessen lobt sie lieber Jane Austen. Während Denis Scheck bei der Eröffnung sinnbildlich meinte, man bleibe mit dieser Autorin immer per Sie, sei Ott durchaus beim Du angekommen.
Als Scheck bei Otts Gesprächsrunde im Publikum sitzt und gewohnt provozierend wissen will, ob es etwas gebe, das Ott an Austen nerve, fällt dieser nicht wirklich etwas ein. Im Podcast-Gespräch muss Denis Scheck natürlich die gleiche Frage gestellt werden und selbstverständlich fällt ihm sofort Nervendes ein, wie im Podcast zu hören ist. Es sei die Abwesenheit von Krieg und Politik in ihren Romanen. Keine Erwähnung von Napoleon, mit dem sich England seinerzeit im Krieg befand. Allerdings sei auch die Nichterwähnung eine Aussage.
Vom Klassiker in die Gegenwart: Frauenbilder
Das viertägige Literaricum im österreichischen Lech im Bundesland Vorarlberg greift nicht nur alljährlich einen Klassiker heraus, es fragt auch, welche Relevanz die dort behandelten Themen heute haben. Kuratorin Nicola Steiner, die auch im Podcast zu ist, hat bei der Auswahl der Gäste den Fokus auf die Rolle der Frau gelegt. Mit der Kulturwissenschaftlerin Sarah Diehl spricht Nicola Steiner unter anderem über »Die Freiheit, allein zu sein«, so der Titel eines von Diehls Büchern. Zu spät, so Steiner im Gespräch, sei ihr eingefallen, dass man Sarah Diehl mit Verena Roßbacher hätte zusammen auf die Bühne setzen sollen.
In ihrem mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichneten Roman »Mon Chéri oder unsere demolierten Seelen« bearbeite Roßbacher schließlich Diehls Themen literarisch. Das Gespräch mit Sarah Diehl wirkt – bei Nichtkenntnis ihrer Bücher – etwas oberflächlich, und bei Roßbachers popkulturellem Pointenfeuerwerk, das das Publikum sehr erheiterte, hätte man gerne erfahren, worin der Unterschied zwischen ähnlich erzählenden Chick-Lit-Werken liege.
Michael Köhlmeier befragt Martin Mosebach über sein Schreiben. Ein von Köhlmeier schlitzohrig geführter Dialog. Man hört zwei Freunden zu, fühlt sich dabei aber nicht unangenehm berührt. Mosebach ist ein hervorragender Vorleser seiner Werke und seine groopyhafte Verehrung der katholischen Kirche jagt einem immer noch oder gerade jetzt Schauer über den Rücken. In seinem Stolz als Katholik wird der Mann den Vorurteilen gerecht.
Die Klassiker-Klammer noch enger schließen
Für das kommende Literaricum sollte man die Klassiker-Klammer enger um die Begleitgespräche schließen. Roßbacher, Diehl, Mosebach, sie alle hätte man noch mehr nach ihrer Austen-Rezeption fragen sollen, um die Gespräche thematisch deutlicher anzubinden.
Bei Alice Schwarzer – souverän moderiert von Katja Gasser – übernimmt die Frage nach Jane Austen dankenswerterweise jemand aus dem Publikum. Alice Schwarzer, die zum Abschluss des Literaricum aus ihrer Autobiografie liest und sich streitlustig und gut gelaunt zeigt, fügt dem Jane-Austen-Bild tatsächlich noch einen neuen Aspekt hinzu. Zunächst stapelt sie mit ihrer Austen-Kenntnis tief, erwähnte dann eher beiläufig, dass ihr die Anfrage eines Verlags vorliege, etwas zu den Briefen Austens und ihrer Schwester zu schreiben. Vielleicht, so Schwarzer, sei die Verbindung zu ihrer Schwester für Austen die Liebe ihres Lebens gewesen, fernab jeder sexuellen Konnotation. Austen wurde nur 41 Jahre alt, war nie verheiratet, ja zog ihre Zusage zu einem Heiratsantrag am Tag darauf zurück.
Von den Anfängen der Literatur in 2.000 Metern Höhe
Den mittlerweile traditionell zu nennenden einzigen Exkurs des Literaricum ohne Klassiker-Bezug bildet die Matinee mit Raoul Schrott. Exkurs ist dabei Exkursion, denn die Veranstaltung findet als einzige 300 Meter höher auf der Kriegeralpe statt. Man kann die auf gut 2.000 Höhenmetern gelegene Hütte zu Fuß erklimmen oder den Großteil des Weges mit dem Sessellift zurücklegen. Schrott widmet sich dort oben den Anfängen der europäischen Literatur, in diesem Jahr dem Dichter Hesiod, der 700 vor Christus lebte. Schrott erzählt, schweift ab, liest das griechische Original, dann seine Übersetzung, berichtet von eigenen Exkursionen in Griechenland. Das Wissen strömt aus diesem Mann, der auf einem Barhocker in der Sonne sitzt, während das Publikum den Schatten unter Sonnenschirmen und entlang der Hauswand sucht. Man hört Raoul Schrotts sonorer Stimme gerne zu, auch wenn die eigenen Gedanken bisweilen mit den an der Hütte vorbeikommenden Wanderern den Berg hinaufziehen.
Michael Krüger ist der erste Poeta Laureatus des Literaricum
Neu im Jahre 2023 ist die Vergabe des Titels »Poeta Laureatus« durch das Literaricum. Eine Auszeichnung, die mit 15.000 Euro dotiert ist und von der Gemeinde Lech bzw. Lech Tourismus gestiftet wird. Im Gegenzug verpflichtet sich die oder der Ausgezeichnete, so ist in der Preisbeschreibung zu lesen »monatlich ein Gedicht zu verfassen, das sich mit dem Zeitgeschehen auseinandersetzt und im Rahmen einer Medienpartnerschaft veröffentlicht wird. Medienpartner sind ORF, Der Standard, SWR und Die Welt.«
Erster Preisträger ist der Lyriker, Autor und ehemaliger Verleger des Hanser Verlags Michael Krüger. Die Messlatte, so Preis-Initiator Raoul Schrott, liege damit schon zu Beginn reichlich hoch. Der Preis wird am Sonntagmorgen verliehen. In clubartiger und sofakuscheliger Atmosphäre findet die Veranstaltung nicht am Hauptort statt, dem Hotel Sonnenburg in Oberlech, sondern im Hotel Kristiania unten im Tal. Ein wenig stellt sich das Gefühl ein, dass Freunde einem Freund den Preis verleihen.
Wie Preisträger Michael Krüger die Herausforderung sieht, monatlich ein Gedicht zu schreiben und warum es förderlich sein könnte, wenn auch der Bundeskanzler vor der Kabinettssitzung ein Gedicht rezitiert, das erzählt Michael Krüger im Podcast des literaturcafe.de.
Das kommende Literaricum wandert ins Zentrum
Während in diesem Jahr die beiden Spitzenhotels Burg und Sonnenburg die meisten Gäste des Literaricum beherbergen, wird 2024 alles anders werden. Im April 2024 sollen die sogneannten »Lechwelten« eröffnet werden, ein neu gebauter Veranstaltungsort und -raum, in dem über 600 Personen Platz finden werden. Diesmal konnte man die weit fortgeschrittene Baustelle besichtigen. Dann wird im kommenden Jahr das Literaricum von Oberlech nach Lech ins Tal wandern. 2.000 Betten und das Zentrum der Gemeinde mit Cafés und weiteren gastronomischen Betrieben sind dann in Laufweite zu erreichen. Es ist zu hoffen und zu wünschen, dass sich dies positiv auf die Besucherzahlen auswirkt, denn bislang schrecken die hohen Gesamtpaketpreise der 4- und 5-Sterne-Hotels einige Interessenten ab. Die Lage im Ort ermöglicht auch kostengünstigere Übernachtungen in Laufweite.
Welcher Klassiker 2024 im Mittelpunkt des 4. Literaricum stehen wird, darüber hält sich Kuratorin Nicola Steiner im Podcast-Gespräch noch bedeckt. Alles weitere wird demnächst zu hören und zu lesen sein.
Mark Twain übrigens, der rund 20 Jahre nach dem Tod Austens geboren wurde, hatte in seiner humoristischen, ironischen und respektlosen Art gegenüber höhergestellten Menschen sehr viel mit Jane Austen gemeinsam. Twain und Austen, davon ist die Professorin Emily Auerbach überzeugt, hätten sich sehr gut verstanden, hätte es ein persönliches Treffen gegeben.
Wolfgang Tischer
Empfehlenswerte Ausgaben von »Stolz und Vorurteil«:
- Die Übersetzung von Andrea Ott: Jane Austen; Andrea Ott (Übersetzung): Stolz und Vorurteil: Roman (Penguin Edition, Band 15). Gebundene Ausgabe. 2003. Manesse Verlag. ISBN/EAN: 9783717520108. 24,90 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
- Die Schmuckausgabe mit aufwändigen Extras: Jane Austen; Marjolein Bastin (Illustration): Stolz und Vorurteil. Gebundene Ausgabe. 2018. Coppenrath. ISBN/EAN: 9783649629726. 30,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel