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Kommentar zu Literaturpreisen: Wir brauchen mehr Transparenz

Würden Sie diese Menschen über Literatur urteilen lassen? Die Jury des Internationalen Literaturpreises 2024 des HKW. V.l.n.r.: Olga Radetzkaja, Beatrice Faßbender, Deniz Utlu, Asal Dardan, Khuê Phạm, Cia Rinne und Ibou Coulibaly Diop. (Foto: Malte Seidel/HKW)
Würden Sie diese Menschen über Literatur urteilen lassen? Die Jury des Internationalen Literaturpreises 2024 des HKW. V.l.n.r.: Olga Radetzkaja, Beatrice Faßbender, Deniz Utlu, Asal Dardan, Khuê Phạm, Cia Rinne und Ibou Coulibaly Diop. (Foto: Malte Seidel/HKW)

Über Pfingsten 2024 geriet die Welt der Literaturpreise ins Wanken. Der Grund war ein »Insider-Bericht« in der ZEIT über den Internationalen Literaturpreise 2023. Juliane Liebert und Ronya Othmann behaupten darin, nicht die Qualität der Literatur stand bei der Jury-Diskussion an erster Stelle, sondern die Herkunft und Hautfarbe der Autoren. Was machen wir jetzt?

Hort der Verschwiegenheit

Literaturpreise und ihre Jurys, ein Hort der Verschwiegenheit. Es zählt zu den ungeschriebenen und manchmal auch vorgeschriebenen Regeln dieser Veranstaltungen, dass über die Jury-Diskussion nichts nach außen dringt. Wie beim Heiligen Kollegium des Vatikans steigt irgendwann weißer Rauch in Form einer Jurybegründung und Laudatio auf. In wohlklingenden Formulierungen wird begründet, was den Preisträger oder den prämierten Text ausmacht. Irgendein Jury-Mitglied, das nicht schnell genug nein sagen oder andere Gründe vorschieben kann, macht dazu einen Textvorschlag. Immer steht darin, warum ein Werk preiswürdig ist. Nie ist darin zu lesen, warum die anderen schließlich nicht gewonnen haben oder welche Nuancen der literarischen Qualität gefehlt haben.

Solange sich die Jury nicht heillos zerstritten hat, wird jedes Mitglied verkünden, man habe den besten Text prämiert. Aber was ist der beste Text? Die Formulierungen der Laudatio versuchen, es irgendwie zu fixieren, aber kann es überhaupt den besten Text, das beste Buch des Jahres oder Ähnliches geben?

Was gab den Ausschlag für den Siegertext?

So einfach ist es oft gar nicht, die Juryentscheidung nachzuvollziehen, selbst wenn man dabei war. Was gab schließlich den Ausschlag für den Siegertext? Warum kam ein Text, der zuvor im Mittelfeld lag, plötzlich ganz nach oben? Und umgekehrt.

Wie es Juliane Liebert und Ronya Othmann beschreiben, wird vor einer Jurysitzung meist eine Rangliste erstellt. Manchmal erhält man vom Veranstalter ganz detaillierte Kriterienlisten. Aus den zusammengetragenen Punkten errechnen Excel-Spezialisten eine Rangfolge, die die Vorlage für die Jury-Sitzung ist. Manchmal nennt man auch nur die drei besten Beiträge und es zählt die Zahl der Nennungen.

Aber egal wie: Als Jury-Mitglied ist man entweder erfreut, wenn die eigenen Favoriten vorne liegen, oder enttäuscht, wenn dem nicht so ist. In der Jury-Sitzung, so nimmt man sich vor, wird man nochmals auf die Qualitäten der »eigenen« Texte hinweisen oder auf die Schwachstellen der anderen, um das Ergebnis so zu drehen, dass man mit der Jury-Entscheidung leben kann.

Diplomatisches Geschick

Nur Jury-Anfänger führen bei diesem Treffen sofort ihre Argumente ins Feld. Diskussionen zu Literaturpreisen können höchstes diplomatisches Geschick erfordern. Erfahrene Juroren halten sich meist zurück, steuern aber durch geschickt platzierte Argumente oft die Diskussion in die gewünschte Richtung. Es gilt, im wirklich entscheidenden Moment das Richtige für oder gegen einen Text zu sagen. Direkte persönliche Angriffe gegen Mit-Mitglieder der Jury, wie sie Juliane Liebert und Ronya Othmann beschreiben, sind unsouverän und in der Regel nicht zielführend. Hin und wieder kommt es auch vor, dass sich Jury-Mitglieder im Vorfeld absprechen, um ihre Favoriten gegen andere durchzusetzen. Manchmal wird auch um Platzierungen geschachert.

Und selbst beim öffentlichsten Literaturwettbewerb, dem Bachmannpreis, bei dem alles vor Kameras diskutiert und verhandelt wird, kann man geschickt vor den Augen aller für »seine« Kandidaten agieren.

Und dann gibt es sie, die Einwürfe und Argumentationen, die alles andere als literarisch sind.

»Können wir es uns leisten, den Preis nicht an XY zu vergeben? XY hat in der Vergangenheit die wichtigsten Preise gewonnen, und wir stünden als literarische Ignoranten da, wenn wir den Preis an Z vergeben würden.«

oder

»Können wir es uns leisten, den Preis an XY zu vergeben? XY hat in der Vergangenheit die wichtigsten Preise gewonnen und es wirkt, als wollten wir uns wenig Arbeit machen und nur mit einem großen Namen schmücken, wenn wir unseren Preis auch an XY vergeben. Auch Z ist absolut preiswürdig.«

oder

»Nach der Auszählung wären jetzt fünf Männer auf der Shortlist. Das können wir 2024 nicht mehr bringen, da würden wir einen Shitstorm ernten. Es sollten mindestens zwei Frauen dabei sein.«

oder

»Gewinner wäre nach literarischen Kriterien der russische Autor XY. Der hat sich jedoch vorgestern positiv über Putins Angriffskrieg geäußert. Ihm können wir den Preis nicht geben, das können wir moralisch nicht verantworten.«

Keine absolut messbare literarische Qualität

Keines dieser Argumente ist ein literarisches. Dennoch ist es nichts Ungewöhnliches und durchaus legitim, solche Überlegungen mit in die Diskussion einzubinden. Es gibt keine absolut messbare literarische Qualität. Unter dem, was man darunter subsumiert, steht ebenfalls eine Vielzahl von Elementen. Zählt die Sprache eines Werkes höher als das Thema und die Umsetzung? Das kann nur im Einzelfall diskutiert werden. Keines der oben aufgeführten nicht-literarischen Argumente steht für sich. Man sollte davon ausgehen, dass jedes der in der Endrunde diskutieren Werke preiswürdig ist. Da ist es moralisch nicht verwerflich und durchaus vertretbar, wenn man nach fünf männlichen Gewinnern in den Vorjahren eine Frau auszeichnet. Niemand würde da behaupten, man hätte den Preis nach nicht-literarischen Kriterien vergeben.

Anders liegt der Fall jedoch, sollten die Vorwürfe zutreffen, die Juliane Liebert und Ronya Othmann gegen die Verantwortlichen und die Jury des Internationalen Literaturpreises 2023 des HKW erheben.

Hautfarbe und Herkunft statt literarische Qualität

Glaubt man den beiden Autorinnen, so wurden Hautfarbe und Herkunft eindeutig über literarische Kriterien gestellt, von abwägenden Nuancen, wie oben erläutert, kann hier nicht mehr die Rede sein. Eine Autorin von der Shortlist zu verbannen, weil sie weiß ist, wäre ein unglaublicher Vorgang.

Unabhängig von diesem Einzelfall müssen solche Dinge diskutiert werden, gerade weil Jurydiskussionen hinter verschlossenen Türen stattfinden und man ansonsten nie davon erfährt, dass intern andere Regeln galten als nach außen postuliert.

Diese Diskussion ist nicht nur für Jury-Entscheidungen, sondern auch für Verlagsprogramme und Literaturfestivals zu führen. Wer wird warum eingeladen und ausgewählt?

Wie ausgewogen muss die Jury besetzt sein?

Tatsächlich müsste diese Diskussion schon bei den Jurybesetzungen beginnen. Schaut man sich die Jury beim Internationalen Literaturpreis an, so wirkt diese dermaßen ausgesucht und ausgewogen, dass man fast von Klischee und einer Rollenbesetzung sprechen kann. Da muss ein Mensch mit deutlich dunkler Hautfarbe dabei sein, definitiv jemand, der optisch als asiatisch identifizierbar ist, und religiös sollte auch das ganze Spektrum vertreten sein. Perfekt ist es, so hat man den Eindruck, wenn man dies auch schon irgendwie den Menschen oder ihren Namen ansieht. Allein die Jury-Besetzung folgt anscheinend nicht unbedingt primär anhand der literarischen Kompetenz, sondern aufgrund von Herkunft und Aussehen, obwohl dies wahrscheinlich niemand so deutlich zugeben würde.

Niemandem ist jedoch damit geholfen, wenn unter dem Deckmantel der Ausgewogenheit jede und jeder mal gewinnen darf, weil es gerade mal so schön wäre, eine ost-karimätische Talachin des zuranischen Glaubens auszuzeichnen, da die Literatur Talachiens in der Vergangenheit zu sehr ignoriert wurde.

Lag es nur an meiner Herkunft

Es macht die Welt nicht besser, auch nicht die literarische. Von welcher Vorstellung wäre eine Jury geprägt, die glaubt, durch das Austarieren der Herkunft die Welt besser zu machen oder zumindest den Literaturmarkt zu verändern?

Wer mit Autorinnen und Autoren spricht, die eine Migrationsgeschichte aufweisen oder aus anderen Gründen nicht der seit Jahren gepflegten »literarischen Norm« entsprechen – was immer das auch sein mag -, hört die Unsicherheit, wenn ihnen ein Preis verliehen wurde, wenn sie zu einer Diskussionsrunde eingeladen werden etc. »Habe ich den Preis wirklich bekommen, weil ich gut schreibe, oder lag es nur an meiner Herkunft?«

Ob es rein literarische Gründe waren, warum dieser oder jede einen Literaturpreis bekommen hat, ist keine neue Diskussion, aber sie wird neu geführt und sie muss neu geführt werden, da sie aktuell alle Seiten verunsichert und jedwede Preisträger beschädigt. Selbst die »weiße« Autorin, die demnächst vielleicht wieder einmal gewinnt, könnte sich die Frage stellen, ob sie nur deshalb gewonnen hat, weil man nach so vielen diversen und nicht-weißen Preisträgern wieder mal anders entscheiden wollte.

Wie können Jury-Diskussionen transparenter abgebildet werden, damit klar wird, dass die maßgebliche Entscheidungsgrundlage die literarische Qualität war? Dazu gehört es auch, nicht-literarische Motive nicht zu verheimlichen.

So missglückt Zeitpunkt, Art und Form des Beitrags von Juliane Liebert und Ronya Othmann waren, wenn er dazu führt, dass Jury-Entscheidungen transparenter und besser nachvollziehbarer werden und literarische Aspekte ausschlaggebend sind, dann hat es allen Literaturpreisen etwas gebracht. Auch der lesenden Öffentlichkeit, die einen Blick hinter ansonsten verschlossene Türen bekäme.

Wolfgang Tischer

Nachtrag, Lese- und Linktipp:

Auch Siglinde Geisel vom Online-Magazin tell hat sich mit der Frage nach der rein literarischen Bewertung von Texten auseinandergesetzt: »Lesen ohne Ansehen der Person«

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4 Kommentare

  1. Bücher werden im allgemeinen für die Allgemeinheit geschrieben. Also für Lieschen Normalleserin und Otto Normalleser. Bewertet werden sie im allgemeinen aber von sogenannten Literaturexperten.
    Ich empfehle deshalb, dass Bücher endlich auch von Normallesern bewertet werden. Dann hätte auch ich etwas davon. Denn überkandidelte Buchbewertungen von überkandidelten Buchbewertern taugen einfach nicht für “normale” Leser, also für mich.
    PS: Im “Allgemeinen” soll nach der neuen Rechtschreibung groß geschrieben werden. Ich schreibe es bewusst klein, weil ich die Regel für falsch halte. Denn im obigen Fall wird nicht “wo” gefragt, sondern “wie”. Aber das ist ein anderes Thema …

  2. Vielleicht sollte man diese Preise und ihre Veranstalter weniger ernst nehmen.
    Jeder weiß, daß bei diesen Bewerben geschoben und getürkt wird. Das fängt schon damit an, daß kein Preisrichter die Zeit hat, hunderte von Romanen zu lesen. Also wird schon bei der Vorauswahl auf nicht-inhaltliche Kriterien geschaut.
    Ich freue mich für die Preisträger, weil sie ein bißchen Geld bekommen und sich für 15 Minnuten im Glanze des Ruhmes sonnen können, aber dann dreht sich die Erde weiter. Ich kaufe und lese keine Bücher aufgrund irgendwelcher Preise. Und würde mich selbst auch nimmer um selbige bewerben oder welche entgegen nehmen. (Wobei ich als Nichtzugehöriger irgend einer Randgruppe und unwoker Konservativer ohnehin nie in diese Verlegenheit geraten könnte, egal wie gut ich schriebe.)

  3. „Wie können Jury-Diskussionen transparenter abgebildet werden, damit klar wird, dass die maßgebliche Entscheidungsgrundlage die literarische Qualität war? Dazu gehört es auch, nicht-literarische Motive nicht zu verheimlichen.“

    Eine sehr gute Frage! Vermutlich war es früher noch weniger ersichtlich, weil unbewusster, warum dieser oder jener – weiße, männliche – Autor einen Preis gewonnen hat. Ob dabei immer die literarische Qualität im Vordergrund stand – oder eher die (unbewusste) Bevorzugung von Ähnlichem, die die überwiegend mit Männern besetzten Jurys vorgenommen haben? Es gibt ja Studien dazu im Bereich Stellenbesetzungen: Männer stellen eher Männer ein. Nicht, weil sie böse oder ignorant Frauen gegenüber sind, sondern weil die Bevorzugung von Ähnlichem ein unbewusster Vorgang ist. Und übrigens gleichzeitig hochpolitisch. Daher kann ich das „Argument“, dass früher allein die literarische Qualität eine Rolle gespielt habe (und nicht die Politik), nicht ernst nehmen.

    Was hilft dagegen? Bewusstheit!

    Inzwischen diskutieren wir – bewusst – über mehr Sichtbarkeit und damit auch mehr Preise für andere als weiße Männer. Und das ist gut so!

    Dass das die Jury-Bewertung nicht einfacher macht, ist klar. Dennoch darf es kein Zurück geben in die vorsintflutliche und unbewusste Zeit, in der überwiegend weiße Männer überwiegend andere weiße Männer ausgezeichnet (und übrigens ebenso rezensiert) haben!

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