Erinnern = Leben / Jüdisches Leben in Deutschland / von Ulrich Struve

Der fünfzigste Jahrestag des Kriegsendes und die damit verbundenen Anlässe, sich erneut der deutsch-jüdischen Vergangenheit zuzuwenden, haben publizistisch und verlegerisch vielfältig Frucht getragen. Tagtäglich erscheinen Dokumentationen und Ausstellungskataloge, Romane und Filme über den Holocaust, vermehrt jedoch auch über das jüdische Leben in Deutschland vor und nach der zwölfjährigen Terrorherrschaft der Nazis.

Feuerharfe
Eine Bestandsaufnahme des 20. Jahrhunderts aus jüdischer Sicht bietet Josef Billens Lyrik-Anthologie Feuerharfe. Die versammelten Gedichte bilden ein Panorama des zuendegehenden Jahrhunderts, das für die mehr als 40 repräsentierten jüdischen Autorinnen und Autoren »Extremerfahrungen« (Hilde Domin) notwendig mit eingeschlossen hat. Klage und Leid, Heimatlosigkeit und Vernichtung sind zentrale Themen des Text-Korpus, doch auch die Suche nach Sinn oder die immer wieder aufbrechende Frage, wie es sich mit schrecklichen Erinnerungen weiterleben lässt, werden mit großer Beharrlichkeit immer wieder im Gedicht gestaltet.
     Billen will das Leben und die Erfahrungswelt deutschsprachiger Juden im 20. Jahrhundert nicht auf Extremerfahrungen wie Exil oder KZ beschränkt wissen; bedeutende Leistungen, ob in Wissenschaft oder Politik, in Kunst oder Literatur, seien als Zeichen der Stärke zu würdigen. Dies gilt für Billen insbesondere für die jüdische Lyrik, die er als eine Fortschreibung der stets auf die Zukunft ausgerichteten Grundhaltung jüdischen Glaubens sieht.
     Gegenüber den Abstraktionen der Geschichtsschreibung beharrt der Herausgeber auf der Einzigartigkeit der je persönlichen Erfahrung, die sich in der Lyrik verdichtet. Dieser Blickwinkel macht den besonderen Charakter der Anthologie aus, die von berühmten Autoren wie Paul Celan und Rose Ausländer zu weniger bekannten Schriftstellern wie Jenny Aloni reicht. Die Texte der Feuerharfe sollen den affektiven Gehalt des Erfahrenen und Erlittenen in Erinnerung bringen, im lesenden Nachvollzug zugänglich machen, und damit ein Beitrag sein zur wiederum je persönlich zu leistenden Vergangenheitsbewältigung.
     Ganz entschieden richtet sich Billen gegen Adornos Diktum, es sei barbarisch, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben. Dagegen hält er es mit den Dichtern selber, die teilweise noch in den Lagern zu schreiben anfangen. So besteht etwa Ernst Waldinger auf Sinn und Notwendigkeit des Gedichteschreibens, damit »dem Unmenschlichsten in jedem von uns/ Das Menschlichste, die Sehnsucht/ Nach dem, was der Mensch sein sollte, entgegengehalten wird«. Rose Ausländer bringt diesen ethischen Impuls, der in der Anthologie vielfach wiederkehrt, noch fundamentaler zum Ausdruck: »Ich Überlebende/ des Grauens/ schreibe aus Worten/ Leben«.

Feuerharfe: Deutsche Gedichte jüdischer Autoren des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Josef Billen. Leipzig: Reclam 1997, 281 Seiten, kartoniert, ISBN 3-379-01598-9, 24 DM.


zurück Anfang weiter